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Paradoxien der Langeweile

Die Langeweile, die endlos erscheinende Dehnung der Zeit, hat nach einer These des Erlanger Medienwissenschaftler Sven Grampp bei Inszenierungen der so genannten Hochkultur genauso einen Stellenwert wie in der medialen Fernsehunterhaltung. So spannte eine Bochumer Tagung zum Thema "Langeweile" einen gar nicht langweiligen Bogen von den Dramen eines Robert Wilson bis zur gepflegten Biederkeit des "Derrick".

Von Barbara Weber |
    " In der pubertären Zeit habe ich mich endlos gelangweilt, erstens mal mit den Dingen, die meine Eltern getan haben und zweitens habe ich mich dann mit meinen Freunden viel gelangweilt, aber hier in dem Sinne von ein bisschen lustvoller gelangweilt, und dann haben wir uns aus dieser Langeweile heraus bestimmte Dinge überlegt wie zum Beispiel Hasenställe ausreißen oder so was. "

    Sein Interesse am Thema Langeweile - so der Erlanger Medienwissenschaftler Sven Grampp leicht schmunzelnd - sei also biographisch begründet:

    " Langeweile also im Sinne von Zeitdehnung, von Lähmungserscheinung, von Zeit wird mir lang, und dann, im zweiten Schritt als Problem oder auch als Chance, und das wäre ja genau diese Tagung hier. "

    Auf dieser Tagung stellte der Doktorand seine These vor, dass Langeweile bei Inszenierungen der so genannten Hochkultur genauso einen Stellenwert hat wie in der medialen Fernsehunterhaltung:

    " Das eine Genre war die Daily Soap "Gute Zeiten - schlechte Zeiten", die läuft täglich im Vorabendprogramm von RTL und zeigt auf in immer wiederholenden Strukturen, Probleme von Jugendlichen: Liebe, Eifersucht, Abitur etc. mit einem Klientel, das ungefähr 15 Leute sind und die permanent wechseln. "

    Obwohl die Serie seit 1992 läuft, hat sie keinen Geschichtsbezug. Die Protagonisten wechseln beliebig, wie auch die Wiederholungen auf Kabel 1 nicht in chronologischer Reihenfolge gezeigt werden. Es interessiert nur das aktuelle Drama der Woche.

    " Das andere, das auf den ersten Blick erst mal auf der ganz anderen Seite steht, ist eine bestimmte Form des Theaters, des Zeittheaters, das ist das postdramatische Theater von Robert Wilson. Dort geht es normalerweise darum, dass sich Leute extrem langsam auf der Bühne bewegen, und dass in die Inszenierungen extrem lange sind. Also die Inszenierung, über die ich gesprochen habe, war in Paris 1971, "Deafman Glance", sieben Stunden. Und das sind erst mal zwei Gegenstände, die erst mal völlig gegensätzlich dastehen, die aber beide mit Langeweile zu tun haben, meines Erachtens. "

    Die Dehnung der Zeit und damit die Inszenierung von Langeweile zeigt sich in dem Wilson Stück unter anderem durch immer wiederkehrende Wiederholung:

    " Zum Beispiel holt er sich einmal ein Glas Milch, und dieses Milch holen macht er zwanzig mal hintereinander ähnlich, aber doch mit minimalen Differenzen. "

    Grampp zieht daraus den Schluss:

    " Es geht um diese Zeitlichkeit, und ich habe ja schon gesagt, Langeweile hat etwas mit Zeitdehnung zu tun. Und jetzt könnte man sagen, bei Robert Wilson ist diese Zeit ja nun ganz evident, also wir hocken im Theater, sieben Stunden lang, und hier dehnt sich die Zeit. Bei "Gute Zeiten - Schlechte Zeiten" dort ist eigentlich alltäglicher Ablauf. Vergleichbar wird es dann, wenn man sagt, "Gute Zeiten - Schlechte Zeiten" ist eine Endlos-Serie, die immer wieder gleiche Strukturen wiederholt, sozusagen in dieser Wiederholung haben wir eine Ähnlichkeit in dem Stück von Wilson, und vor allem, durch diese Wiederholung wird Zeit auch gedehnt, also es gibt eben 3650 Folgen, die immer ähnlich funktionieren, wenn ich ein Rezipient bin, der jede Woche dabei ist, jeden Tag sozusagen, wird die Zeit lang, die linearen Zuordnungen, geraten hier in Irritationen und auf der Ebene könnte man die zwei Sachen relativ gut verbinden und sagen, hier finden auf beiden Ebenen Zeitirritationen statt, die man mit dem Effekt der Langeweile verbinden könnte. "

    Dr. Thomas Weber, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Medienwissenschaft der Humboldt Universität Berlin, beschäftigt ein anderes Genre, nämlich der deutsche Fernsehkrimi, in dem Fall "Derrick":

    " Das ist ein sehr stabiles Schema im deutschen Fernsehen, das über Jahrzehnte hinweg nicht verändert wurde, das auf eine einzige Hauptfigur hin zugeschnitten ist, dass diese Hauptfigur auch als Moderator agiert, das heißt, alles was gesagt wird, was Verdächtige äußern, was sich an Spuren erweist, immer wieder von diesem Protagonisten kommentiert, eingebunden wird in ein Sinnschema, in ein Ordnungsschema. "

    Der gute, demokratische Deutsche, der sich im bürgerlichen Milieu bewegt und immer etwas spießig, formell daherkommt, wird auch im Ausland sehr geschätzt. Und wenn auch neue Protagonisten - wie im "Tatort" - mehr Variationen in ihrer Persönlichkeit zeigen und manchmal etwas sperrig sind, bleibt das Schema seit Jahrzehnten stabil. Thomas Weber nennt das "gehemmte Bewegung":

    " Bewegung ist in dem Zusammenhang ja zunächst mal ein dramaturgischer Begriff und meint die Bewegung, das In-Gang-Setzen von Emotionen oder meinetwegen intellektuellen Denkbewegungen. Bleiben wir bei Emotionen: Normalerweise werden Emotionen auch im Film bewegt dargestellt, also Verfolgungsjagden mit dem Auto oder Leute rennen durch die Innenstadt, jagen sich, manchmal gibt es auch innere Bewegungen von Protagonisten, die dann aufgeregt im Zimmer auf und ab laufen, nervös eine Zigarette rauchen oder ähnliches, all diese Elemente finden sich zwar auch in "Derrick" oder anderen deutschen Fernsehkrimis, nur werden sie gehemmt, das heißt sie werden in einer Form angeordnet, dass diese Bewegung sich nicht entfalten können. Sie konstruieren keine langen Spannungsbögen sondern kurze, abgehackte, die dann spätestens immer dann enden, wenn der Kommissar in seinem Büro die Geschichten wieder kommentiert. "

    Das Erstaunliche daran ist, dass das Publikum die so entstehende Langeweile wohl sucht: einerseits um vom stressigen Alltag abzuschalten andererseits aber auch, um existenzielle Ängste und Sorgen zu vertreiben.

    " Nach meiner Erfahrung stören sich Produzenten an der Kritik, dass es langweilig sei, überhaupt nicht. Allenfalls zählt hier die Einschaltquote, und die bemisst sich nicht nach Langeweile oder Spannung sondern nach ganz anderen Kriterien. Wenn das Publikum aber durchaus Langeweile sucht, das wäre eine These, die ja auch auf diesem Kolloquium vertreten wird, dann muss man davon ausgehen, dass Langeweile ein struktureller Bestandteil von Unterhaltung ist, ja dass sie sogar dazu beiträgt, dass sich Unterhaltung, gerade industriell hergestellte Fernsehunterhaltung noch weiter ausweiten kann, wie wir es auch in den letzten Jahren gesehen haben. Die Einschaltquoten steigen ja noch. Das Unterhaltungsbedürfnis wird offenbar nicht gestillt, weil es auch Langeweile produziert. "

    Der Kölner Medienwissenschaftler Thomas Waitz geht da noch einen Schritt weiter:

    " Beim Fernsehen geht es weniger darum, Inhalte zu vermitteln, Geschichten zu erzählen, sondern Fernsehen ist im Grunde langweilig. Und Lorenz Engell, ein Medienwissenschaftler aus Weimar, hat einmal vor längerer Zeit gesagt, dass ist keine Eigenschaft, die einen Mangel des Fernsehens darstellt, sondern im Grunde so etwas wie sein Wesenskern. Fernsehen ist langweilig und die Zeit, die das Fernsehen produziert, das ist die Erfahrung von Langeweile. "