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Parallelwelten des arabischen Liebeslebens

Auch die arabische Literatur hat ihre Sex-Skandale. 2007 veröffentlichte die in Paris lebende Syrerin Salwa Al Neimi nach fünf Lyrikbänden ihren ersten Roman "Honigkuss”. Und die Prophezeiung aus dem Kapitel "Sex and the (Arabic) City" trat ein: "Heutzutage", heißt es da, "träumen die Autoren davon, dass ihre Bücher verboten werden." Christoph Vormweg hat mit Salwa Al Neimi über ihr Skandalbuch "Honigkuss" gesprochen.

Von Christoph Vormweg | 02.12.2008
    Es gibt Menschen, die Geister beschwören – ich beschwöre Körper.

    - gesteht die Erzählerin, eine aus Syrien stammende Pariser Bibliothekarin, gleich im ersten Satz -

    Ich weiß nichts über meine Seele, nichts über die Seelen anderer, aber ich kenne meinen Körper und den der anderen. / Das genügt mir. / Ich beschwöre ihre Körper herauf und tauche ein in die Geschichten, die ich mit ihnen erlebe – flüchtige Gestalten in flüchtigen Körpern, nicht mehr und nicht weniger. Männer als Objekte? Warum nicht? / Ich benutze sie? Als Sexobjekte? Warum nicht?

    Die Lust auf Vielmännerei – mit einem solchen Bekenntnis kann man in den westlichen Literaturbetrieben niemanden mehr schockieren. Anders in der arabischen Welt.


    "Das Buch ist in mehreren arabischen Ländern verboten, ja sogar in den meisten: angefangen mit Syrien bis hin zu den Golfstaaten, ja selbst im Libanon für Leser unter 18 Jahren. Doch auch Bücher haben ihr Doppelleben. In allen Ländern, wo mein Buch verboten ist, kann man es im Internet herunterladen, manchmal sogar gratis. Oder ein Leser kauft es im Ausland und reicht es von Freund zu Freund weiter. Deshalb hat mein Buch solchen Erfolg in der arabischen Welt. Viele haben es gelesen, vor allem Jugendliche - was mir besonders große Freude bereitet. Im Zeitalter des Internets und der neuen Technologien ein Buch zu verbieten, ist vollkommen lächerlich."

    Wer - wie Salwa Al Neimi - auf Arabisch schreibt und in Paris lebt, müsste den Zensoren eigentlich Provision zahlen. Denn keine Werbung wirkt besser. Um die islamischen Sittenwächter zu provozieren, hat die Syrerin auf ein altbekanntes Rezept gesetzt: die Lobpreisung der sexuellen Freuden. Dennoch befriedigt "Honigkuss" keineswegs voyeuristische Instinkte. Denn die beschriebenen Intimitäten kommen in poetischem Gewand daher. Lüsterne Details sind Mangelware. Salwa Al Neimis Tabubruch liegt auf einer anderen Ebene:

    "Das Buch war etwas Neues für den arabischen Leser. Denn hier spricht eine freie Frau über ihre Freiheit, ihre sexuelle Freiheit. Und obwohl sie in Westeuropa lebt, in Paris, gründet diese Freiheit auf ihrem arabisch-muslimischen Erbe."

    Nicht etwa die Lektüre der Romane von Anaïs Nin oder Casanova haben die verheiratete Erzählerin zum polygamen Lebenswandel inspiriert. Den entscheidenden Anstoß zu ihrer sexuellen Befreiung gab vielmehr die Lektüre der Erotikklassiker der arabischen Literatur, die zum Teil vor über tausend Jahren geschrieben wurden. Diese Werke möchte Salwa Al Neimi vor dem Vergessen bewahren. Denn die Lust ist für sie an die arabische Sprache gekoppelt.

    "Immer wieder habe ich es in meinem Umkreis gehört und in Büchern und Zeitungsartikeln gelesen: Das Arabische sei die Sprache des Sakralen, es tauge nicht zur Beschreibung des Intimen, des Sexuellen, ja: das Arabische sei eine tote Sprache! Irgendwann hatte ich genug von solchen Dummheiten. Denn das Arabische ist meine Sprache, meine Leidenschaft. Und: ich kenne die alte und die moderne arabische Literatur. Ich weiß, wie dort über Liebe und Sex geschrieben wird. Für mich ist das Arabische die Sprache des Sex."

    Immer wieder zitiert Salwa Al Neimi Empfehlungen aus den alten arabischen Erotikbüchern. Tenor: "Sex ist eine göttliche Gnade", wohltuend und gesund. Ihre Heldin exerziert mit ihrem Liebhaber, dem Denker, Stellungen und Techniken nach, und preist die sinnenfrohe, reiche Wortwahl von früher. Da gibt es Einiges zu schmunzeln- genauso wie bei der Begutachtung der Spitzfindigkeiten, mit denen der Prophet höchstpersönlich einst die Verfechter einer restriktiven Sexualmoral ins Leere laufen ließ. Heute sieht das natürlich anders aus. Heute droht den Ehebrechern im Namen des Koran eine Gefängnisstrafe. Und deshalb kontrastiert Salwa Al Neimi die Freizügigkeiten von früher mit den aktuellen Nöten der Liebeslustigen in den arabischen Ländern. Mal erörtert sie die Frage, ob Oralsex schon Ehebruch sei, mal beschreibt sie das Dilemma des so genannten "Weges der Rückkehr". Gemeint ist die voreheliche Praxis des Analverkehrs, die sichern soll, dass die Prüfung der Jungfräulichkeit vor der Hochzeit nicht zum Familiendrama ausartet.

    "Ich habe versucht, einen freien Text zu schreiben, der in seiner Offenheit inspiriert ist von den alten arabischen Abhandlungen über Erotik. Auch sind die Figuren – abgesehen von der Erzählerin – nur skizziert. Selbst der Denker, die andere Hauptfigur, mit dem sie eine Liebesgeschichte erlebt, bleibt vage. Die übrigen lernen wir sogar lediglich über Anekdoten kennen. Das sind - wie in den alten arabischen Büchern über Erotik - keine wirklichen Personen."

    Ein Roman im eigentlichen Sinne ist "Honigkuss” also nicht, vielmehr ein Essay mit erzählender Rahmenhandlung. Die Liebesgeschichte mit dem Denker bildet lediglich den Aufhänger für ein Geflecht aus Lektürezitaten und Klatschgeschichten, aus Jugenderinnerungen und Reflexionen über Doppelmoral, Heuchelei und sexuellen Bildungsnotstand. Das Bekennende und Analysierende ist Salwa Al Neimi wichtiger als der Erzählfluss. Ihre Heldin wird so unweigerlich zum Sprachrohr feministischer Grundansprüche. Sie fordert das Recht auf freien, lustvollen Sex ohne Erniedrigung. Im arabischen Raum ist das ein notwendiger Kampfdiskurs gegen die Knebelung der Frauen durch die Vertreter des Islam. Für europäische Leser hingegen ist es nur Déjà-vu.
    Und doch ist "Honigkuss" in seiner Verschachtelung ein reizvolles, in seinen Details ein informatives Buch. Denn es entführt uns ganz praxisnah und mit viel Ironie in die Parallelwelten des arabischen Liebeslebens, in seine alltäglichen Doppelbödigkeiten. Und es besticht – wie bei einer erfahrenen Lyrikerin nicht anders zu erwarten - mit mancher poetischen Verdichtung.