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Paralympics in Tokio
Auf Jahre zurückgeworfen

Nach den Olympischen Spielen beginnen am 24. August in Tokio die Paralympics. Die Pandemie ist im Behindertensport aber nicht nur bei diesem Großereignis - weitgehend ohne Zuschauer vor Ort - spürbar. Durch Corona hat der Behindertensport viele Mitglieder verloren, viele fühlten sich vergessen.

Von Ronny Blaschke |
Ein Plakat für Rollstuhl-Basketball bei den Paralympischen Spielen in Japan.
Ein Plakat für Rollstuhl-Basketball bei den Paralympischen Spielen in Japan. (AFP / Philip FONG)
Die pandemische Lage in Tokio spitzt sich zu. Die Inzidenz steigt, dem Gesundheitssystem droht die Überlastung. Die Paralympics werden mit Einschränkungen über die Bühne gehen, daher hält sich die Begeisterung der Japaner noch in Grenzen. Hinzu kommen langfristige Probleme: Der Sport für Menschen mit Behinderung könnte um Jahre zurückgeworfen sein, auch in Deutschland. Vor Corona zählte der Deutsche Behindertensportverband mehr als 650.000 Mitglieder. In den vergangenen anderthalb Jahren hat der DBS 17 Prozent dieser Mitglieder verloren. Vereine, Rehagruppen oder Projekte für Gesundheitsprävention waren über Monate geschlossen.
Viele Menschen mit Behinderung fühlten sich isoliert und von staatlichen Stellen mitunter vergessen, sagt Jürgen Dusel, der Beauftragte der Bundesregierung für Belange von Menschen mit Behinderungen: "Es ist wichtig, dass die Entscheidungen, die jetzt getroffen werden, beispielsweise um die Infrastruktur wieder hochzufahren, also das Krisenbewältigungspaket und das Konjunkturpaket, dass diese Entscheidungen tatsächlich inklusiv getroffen werden. Beispielsweise auch, um Sportvereine zu ertüchtigen, also die Infrastruktur, dass wir dieses Geld knüpfen an das Kriterium der Barrierefreiheit."

Viele behinderte Menschen sind gar nicht sportlich aktiv

Rund 13 Millionen Menschen in Deutschland leben mit einer Beeinträchtigung, drei Prozent von ihnen seit der Geburt. Die große Mehrheit erwirbt ihre Behinderung im Laufe des Lebens, meist im höheren Alter. Der DBS hatte es seit seiner Gründung vor 70 Jahren schon immer schwer, Menschen mit Behinderung für den Vereinssport zu gewinnen. Der Teilhabebericht der Bundesregierung legt sogar nahe, dass mehr als die Hälfte der behinderten Menschen in Deutschland gar nicht sportlich aktiv ist.
"Sport oft nicht zugänglich und nicht barrierefrei"
Jeder zweite Mensch mit Behinderung treibt nie Sport. Fehlende Barrierefreiheit der Sportstätten und mangelndes Sportangebot für Menschen mit Behinderung als Hauptgrund, sind ein Hauptgrund dafür.
Diese Zahl könnte durch Corona weiterwachsen, womöglich auch mit Konsequenzen für den Leistungssport, sagt Jörg Frischmann, Geschäftsführer für den Parasport bei Bayer Leverkusen: "Wir haben den Weg in die Schulen oder in sonstige Einrichtungen, ist egal, ob das nun Krankenhäuser sind, überall da, wo wir behinderte Menschen finden können, war ein Zugang doch nur sehr beschränkt möglich. Auch in Physiopraxen. Unser Landeskader ist sehr ausgedünnt. Wir haben jetzt noch sechs, sieben Landeskader. Wir hatten immer so einen Stand in Leverkusen von zwölf bis 14. Und da ist schon eine Delle entstanden. Und für die Athleten, die wir jetzt vielleicht noch finden, und die eventuell für Paris noch Kandidaten sind, für die wird die Zeit natürlich knapp, wenn man nur zweieinhalb Jahre hat."

Dramatische Lage im globalen Süden

Nach Paralympics mit ihrer großen medialen Reichweite wachsen für gewöhnlich die Mitgliederzahlen in vielen Behindertensportvereinen. Und das erhofft sich der DBS auch für die Zeit nach Tokio. Komplizierter ist die Lage außerhalb von Deutschland und Europa. Weltweit leben rund 1,2 Milliarden Menschen mit einer Behinderung, 80 Prozent von ihnen in einkommensschwachen Regionen, überwiegend im globalen Süden.
Etliche Netzwerke für Menschen mit Behinderung beklagen durch Corona langfristige Folgen für Gesundheits- und Pflegesysteme. Anne Gersdorff ist Inklusionsaktivistin des Vereins "Sozialhelden": "In den Ländern des globalen Südens gibt es ja auch gar nicht so ein Auffangsystem. Das heißt, man ist ja auch auf familiäre Unterstützung angewiesen. Man ist darauf angewiesen, dass man dennoch weiterhin arbeiten geht. Es ist, glaube ich, ziemlich gruselig, ich gehe davon aus, dass dort ganz, ganz viele Menschen mit Behinderung einfach an Corona auch gestorben sind."
Der Präsident des Deutschen Behindertensportverbands, Friedhelm Julius Beucher, nach einer Kundgebung auf dem Pariser Platz in Berlin.
"Wir sind Pandemie-Opfer"
Generell befinde sich der Behindertensport in Deutschland derzeit in einer "fürchterlichen Situation", sagte Friedhelm Julius Beucher, Präsident des Deutschen Behindertensportverbandes im Dlf.

Neue Kampagne gegen Diskriminierung

Die Paralympics verzerren die globale Lage für Menschen mit Behinderung. Rund 40 Prozent der Teilnehmenden in Tokio stammen aus den zehn größten Industrienationen. In vielen Ländern in Lateinamerika oder Südostasten kam der Parasport während der Pandemie zum Stillstand. Bis heute gab es keine kontinentalen Paraspiele in Afrika. Doch das Internationale Paralympische Komitee IPC will die Bewegung verbreitern, sagt dessen Präsident Andrew Parsons: "Wir denken, dass Menschen mit Behinderung zuletzt oft vergessen wurden. Und die Paralympics sollen Aufmerksamkeit für diese Probleme schaffen. Wir wollen über Steuergesetze sprechen, auch über Mobilität und Infrastruktur. Der Sport kann zu einer inklusiveren Welt beitragen."
15 Prozent der Weltbevölkerung leben mit einer Behinderung. Daran knüpft sich auch der Name einer neuen Kampagne des Internationalen Paralympischen Komitees: "WeThe15". Ein internationales Netzwerk will sich mit Öffentlichkeitskampagnen und Bildungsangeboten gegen Diskriminierung von behinderten Menschen stellen. Angelegt ist die Kampagne auf zehn Jahre. Wahrscheinlich wird diese Zeit aber nicht ausreichen.