Montag, 20. Mai 2024

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Pariser Lehrjahre

Paris heißt sie, die Stadt seiner Träume, und sie öffnet weit die Arme, um den Jüngling zu umschließen. Schon als kleiner Junge hat er von ihr geträumt, hat die Mode-Illustrierten der Mutter durchgeblättert, später französische Romane im Original verschlungen und sich als Soldat gegrämt, in die französische Provinz verschlagen worden zu sein. Aber vielleicht hat es ihm die Ernüchterung erspart, seine stolze Angebetete als Kollaborateurin zu erleben. Nun ist der Krieg vorbei, die alten Wunden vernarben und der Jüngling - schon nah am Mannesalter, kurz vor dem dreißigsten Lebensjahr - zieht mit einem Stipendium und einer Lebens-aufgabe bewehrt in die Kapitale ein. Zwei Vorsätze bringt er mit: Er will die Ursprünge der Soziologie aus dem Geist der nachrevolutionären Pariser Gesellschaft erforschen; und er will Paris in sich aufnehmen, mit jeder Körperfaser, jedem Atemzug. "Teilnehmende Beobachtung" nennt er das. In Wirklichkeit geht es, 1951 in Deutschland unmöglich, um Sexualität. Paris ist die Frau, die ihn empfangen wird.

Florian Felix Weyh | 01.01.1980
    Nicolaus Sombart trägt einen großen Namen. Sein Vater Werner Sombart gehörte zu den deutschen Großintellektuellen der ersten Dekaden des Jahrhunderts, als Vertreter des Großbürgertums politisch rechts der Mitte angesiedelt - mit ein paar wüsten antisemitschen Ausfällen, aber auch seltsam ökologischen Einsprengseln, die man heute den Grünen zuordnen würde. In diesem Elternhaus verkehrte alles, was rund um die "Konservative Revolution" Rang und Namen hatte, allen voran Ernst Jünger und Carl Schmitt. Ein Milieu, das man auch in der Verleugnung nicht mehr verlassen kann. Zwar ist in den "Pariser Lehrjahren" von Nicolaus Sombart wenig von diesem Elternhaus die Rede, doch scheint es überall durch. Die Franko-philie dieser Equipe fand ihr Gegenstück bei den französischen Intellektuellen der Vorkriegszeit, und so kann Sohn Sombart scheinbar nahtlos an die Kontakte seines Vaters anknüpfen; manch einer nennt ihn einfach "Monsieur Werner". Nur scheinbar allerdings, denn der Krieg hat für eine gründliche Verwirrung der Ver-hältnisse gesorgt. Der berühmte Hölderlin-Spezialist Pierre Bertaux etwa, der den Stipendiaten herzlich aufnimmt, kämpfte als Résistance-Führer an exponierter Stelle, während andere Pariser Intellektuelle mit Hauptmann Jünger an der wohl-gedeckten Tafel des Hotels Majestic dinierten. Ein tiefer Riß durchzieht die französische Gesellschaft zu Beginn der fünfziger Jahre, doch niemand spricht darüber. Das Schlüsselerlebnis des jungen Deutschen führt auf genau dieses Feld - und weit darüber hinaus, zu seinem eigentlichen Lebensthema. Eine Résistance-Attentäterin aus dem Bertaux-Umfeld, die im Krieg junge deutsche Offiziere vergiftete, bemächtigt sich seiner zu einer Art sexuellem Exorzismus: mit dem früheren Feind zu schlafen, statt ihn zu töten. Diese Verbindung von Eros und Tod in einer besonders gewagten Variante beschreibt Sombart als fast selbstmörderische Ich-Auflösung; der Orgasmus als Opfer für die vielen Opfer, die wirklich von Hand der Attentäterin starben. Ihm, dem Nachkriegsdeutschen (doch ehemaligen Soldaten) wird das Gegenteil des Mordes zuteil: die hingebungsvolle Lust.

    Dichtung oder Wahrheit? Mit einiger Bestimmtheit läßt sich nur sagen, daß die akribischen erotischen Szenen des Buches - zum Schluß nahe an literarischer Pornographie - in ihrer Detailfülle keinesfalls dokumentarisch sein können. Niemand behält über vierzig Jahre lang Sinneseindrücke und Gefühle im Gedächtnis, allenfalls deren damalige intellektuelle Bewertung. Aber das führt auf die richtige Spur: Alles ist Pose an diesem Buch, und die Pose erzählt die eigentliche Geschichte. Hinter einem schier unfaßbaren Strom an Namen und Refe-renzen, soziologischen Exkursen und kulturkritischen Intermezzi verbirgt sich das Sombart-Projekt "Weiblichkeit". Um nichts anderes geht es ihm als um den unab-wendbaren, unaufhaltsamen Sieg des weiblichen Prinzips. Wie er aussieht, läßt sich in eine kurze Beobachtung fassen: Der Mann ejakuliert (eine Frage von Sekunden); die Frau erlebt die Lust (eine Frage von Minuten bis Stunden). Alle Frauengestalten in diesem Buch sind reine Männerphantasien, und das Schöne an ihnen ist, daß der Autor behauptet, er habe mit ihnen geschlafen, ergo den leiblichen Beweis ihrer Existenz beibringt. Herrscher der Welt ist, wer die Lust auf seiner Seite hat.

    "Für mich ist die Frau, jedes weibliche Wesen für den Mann, potentielle Heilsbringerin. Im Ritual der sexuellen Vereinigung scheint das Heilige auf. (...) Ich denke hier ganz altmodisch biologistisch, sexistisch, durchaus anti-"dekonstruktivistisch". (...) Das ist nicht evident für jemanden, der aus Deutschland kommt. Ich habe es in Paris gelernt."

    Nicht jedermanns Geschmack, schon gar nicht jeder Frau. Aber diese Pose, so abstoßend sie daherkommt, strahlt auch starke Faszination aus. Denn hier schreibt ein siebzigjähriger Grandseigneur - früher hätte er sich ganz unironisch "Frau-enkenner" genannt - unbeirrte Großbürgerprosa, die sich ausgerechnet den Bereichen widmet, die den eigentlichen Großbürgern als tabu galten. Gelernt hat Sombart in Paris etwas ganz anderes. Dem väterlich dominierten Deutschland, dem Männer- und Kriegersystem entkommen, findet er plötzlich ein mütterlich dominiertes Gesellschaftssystem vor. In den Clans der Oberschicht regieren Matro-nen; in den bürgerlichen Ehen ist die Doppelmoral des weiblichen Ehebruchs institutionalisiert und bleibt ungeahndet. Ja selbst die Geschichte der Soziologie erweist sich als Geschichte des weiblichen Einflußes. Ob es stimmt, bleibt unerheblich. Der Sehnsuchtsblick nach Weiblichkeit ergreift von Sombart so umfassend Besitz, daß ihm unter seinen Augen alles zur Frau gerinnt: die Gesellschaft, die Stadt Paris, die Wissenschaft, die Soziologie, kurzum: die Welt. Sich ihr nähern, heißt mit ihr schlafen. Die wohl dümmste Idee von Freud war der angebliche Penisneid der kleinen Mädchen; in Wahrheit prägt der Lustneid der Männer die Weltgeschichte. Wer die "Pariser Lehrjahren" liest, versteht, warum die männliche Emanzipation vor dem Orgasmus der Frau stets kapitulieren wird.