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Pariser Lüfte

Auf 30 Jahre Centre Pompidou blickt Paris zurück. Die moderne Kunsthalle zeigt in einer Jubiläumsausstellung Werke von mehr als 70 zeitgenössischen Künstlern. Urbanes Leben ist Thema der Schau "Airs de Paris".

Von Björn Stüben |
    Marcel Duchamp ist bekannt für seine guten Einfälle. 1919 entschließt er sich, auf seiner Amerikareise dem Sammlerehepaar Louise und Walter Arensberg als Gastgeschenk aus Europa eine gläserne Ampulle, lediglich gefüllt mit 50 Kubikzentimetern Pariser Luft, mitzubringen. "Air de Paris" ritzt er in winzigen Buchstaben auf das filigrane Gefäß, das sich heute im Besitz des nationalen französischen Museums für moderne Kunst im Centre Pompidou befindet.

    Und genau dort wird es jetzt in einer Vitrine gezeigt, die den Auftakt bildet zu einer großen Schau moderner und zeitgenössischer Kunst, die sich desselben Titels bedient, "Airs de Paris", der allerdings in der Pluralform verwendet wird. Was sich hinter dem Begriff der "Pariser Lüfte" verbirgt, ist für den Besucher nicht direkt auf den ersten Blick zu entschlüsseln. Wird die Ausstellung die Stadt Paris als Inspirationsquelle für aktuelles Kunstschaffen feiern oder vielleicht gar eine Nabelschau der französischen Kunstszene der letzten Jahrzehnte bieten?

    Bei Gordon Matta Clark's Film aus den 70er Jahren dreht sich alles um eine Abrissbirne, die damals gnadenlos das Pariser Hallenviertel in einen Schutthaufen verwandelt. Dem heftig umstrittenen Abriss folgt die Errichtung des Centre Pompidou. Alain Bublex nutzt den Computer zur Überarbeitung seiner Schwarz-Weiß-Fotografien, die den Pariser Stadtautobahnring im Regen zeigen. Grellbunte Leuchtreklamen an sich hoch auftürmenden, eng beieinander stehenden Wolkenkratzern verwandeln Paris in eine anonyme Trabantenstadt. Viel Humor zeigt Vincent Lamouroux. In einem Video dokumentiert er sein fünfrädriges Gefährt, mit dem er auf der nie in Betrieb genommenen Betontrasse des "Aerotrain", eines eingleisigen Hochgeschwindigkeitszuges, der in den 70er Jahren Paris mit Orléans hätte verbinden sollen, still durch die Landschaft radelt. Ins Pariser Leben eintauchen kann der Besucher vor Jasper Morrisons Installation "Transit".

    Als Diaschau fällt der Blick auf Geschäfte, Häuserfassaden, Werbeschilder, in Pariser Hinterhöfe und Hauseingänge, begleitet von einer ständig wechselnden Geräuschkulisse. Gilles Clement ist der alten Pariser Königsachse nach Westen gefolgt und auf seltsame Fundstücke gestoßen. Schuhsohlen, Fischdosen, zertrümmerte Handys und Plastikbecher hängen sorgsam aneinandergereiht von der Decke. Gegenüber führt Patrick Blanc seine schon vor 20 Jahren patentierte Erfindung des vertikalen Gartens vor. Grün sprießt es hier aus der Ausstellungswand.

    Sophie Calle fühlt sich hoch oben auf dem Eiffelturm am wohlsten. Auf einem Foto erzählt sie die Geschichte einer schlaflosen Nacht auf dem Pariser Wahrzeichen. Doch nicht alle Werke in der Ausstellung drehen sich um Paris. Dominique Gonzales Foerster lässt einen kleinen brasilianischen Jungen in einem Film erzählen, wie gerne er in der luftig-leichten Architektur Oscar Niemeyers in einem Wohnviertel in Sao Paolo spielt. Der mächtige Betonbau scheint nur auf dünnen, unregelmäßig angeordneten Pfeilern zu ruhen, die Palmstämmen ähneln. Aus einem abgedunkelten Ausstellungsraum ist Popmusik zu hören.

    Im Film des Franzosen Ange Leccia fällt der Lichtkegel einer Taschenlampe auf die Gesichter junger asiatischer Frauen, die am Straßenrand von ihren Freiern begutachtet werden.

    Die Werke von über 70 Künstlern, Architekten und Designern, die in Paris leben oder dort gearbeitet haben, trägt die Ausstellung zusammen. Viele von ihnen haben auch die Stadt Paris in ihren Werken zitiert. Urbanes Leben ganz allgemein ist aber das Thema von allen. Die Schau im Centre Pompidou will somit ein Spektrum sein für aktuelle Kunst, die heute internationaler kaum sein könnte.

    Am Ende der spannenden, aber auch anstrengenden Ausstellung wird der ein oder andere Besucher sicher gerne Versuchskaninchen spielen wollen in dem in gleißendes oranges Licht getauchten Raum von Philippe Rahm. Die Beleuchtung soll die Produktion des Schlafhormons Melatonin anregen. Mit den eingespielten Nocturnes des irischen Komponisten John Field könnte dies gelingen.