
In Syrien leben derzeit rund 23 Millionen Menschen. Allerdings werden nicht alle von ihnen darüber abstimmen, wer künftig die 210 Sitze im Abgeordnetenhaus einnehmen soll. Grund dafür ist das komplizierte - und umstrittene - Wahlverfahren. Über die Besetzung der Abgeordnetensitze entscheiden nämlich lokale Wahlausschüsse, die im Vorfeld bestimmt wurden und nun Personen aus ihren eigenen Reihen wählen.
Insgesamt sind an der Abstimmung 6.500 Wahlleute beteiligt, von denen 1.578 als Kandidaten zugelassen wurden. Nach Behördenangaben sind 14 Prozent davon Frauen. Für die Auswahl der Wahlleute galten zahlreiche Kriterien. So sollten Vertriebene und Menschen mit Beeinträchtigungen vertreten sein, Akademiker und sogenannte Stammesführer. Anhänger der gestürzten Assad-Regierung wurden nicht zugelassen.
Farce oder Fortschritt?
Unter Assad galten Wahlen in Syrien als Farce, die der Regierung einen demokratischen Anstrich geben sollten. Regelmäßig gewannen mehrheitlich Anhänger der herrschenden Baath-Partei und ihre Verbündeten Sitze im Parlament. Beobachter sehen nun eine ähnliche Gefahr: Durch das von der Übergangsregierung festgelegte Verfahren könnte sich auch das neue Parlament zum Großteil aus Regierungstreuen zusammensetzen.
Die Übergangsregierung wiederum begründet ihr Vorgehen damit, dass unter den gegebenen Bedingungen eine landesweite Abstimmung gar nicht möglich sei: Millionen von Binnenflüchtlingen und Vertriebenen besäßen keine gültigen Ausweispapiere, weite Teile des Landes seien verwüstet, Treibstoff und Strom knapp und ganze Städte zerstört.
Grundsätzlich wird die Wahl als wichtiger Schritt für eine politische Neuordnung des Landes angesehen, das Jahrzehnte lang autoritär vom Assad-Clan regiert wurde. Doch neben dem Vorwurf, das Wahlverfahren sei von persönlichen Interessen geleitet und befeuere Vetternwirtschaft, gibt es noch weitere Kritik: zum Beispiel daran, dass ein Drittel der Sitze im Parlament direkt durch den Übergangspräsidenten Al-Scharaa bestimmt werden soll. Es wird befürchtet, dass der ehemalige Rebellenführer das Parlament dadurch stark beeinflussen könnte.
Nicht überall wird gewählt
In der südlichen Provinz Suwaida sowie in Teilen der nordöstlichen Provinzen Hasaka und Rakka wird gar nicht gewählt. Die Übergangsregierung hatte die Wahl dort aus Sicherheitsgründen verschoben. Hasaka und Rakka stehen unter der Kontrolle der kurdisch geführten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF). In Suwaida im Süden des Landes ist die drusische Gemeinde beheimatet. Wie diese Gebiete im neuen Parlament vertreten werden, bleibt abzuwarten.
Die Konflikte zwischen den Volksgruppen der Drusen und der Kurden mit der Übergangsregierung haben in den vergangenen Wochen die bevorstehende Parlamentswahl überschattet. Erst im Juli kam es in Suwaida zu tödlichen Auseinandersetzungen zwischen drusischen Milizen und sunnitischen Stammesgruppen, die von der Regierung in Damaskus unterstützt wurden.
Der Sprecher der kurdisch geführten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), Al-Schami, sagte der Deutschen Presse-Agentur, die Wahlen ließen keine Anzeichen für einen echten Wandel in Syrien erkennen und das Vertrauen der Kurden in die neuen Machthaber sei gering.
International genau beobachtet
Trotz aller Mängel sehen Experten die Wahl als notwendigen Zwischenschritt nach mehr als einem Jahrzehnt Bürgerkrieg. International wird der Prozess - insbesondere mit Blick auf die Repräsentanz von Minderheiten - genau beobachtet.
Ob in Syrien nun ein langfristig demokratischer Wandel in Gang gesetzt werden kann, hängt jedoch vor allem von künftigen Reformen und möglichen anschließenden freien Direktwahlen ab. Ergebnisse der heutigen Parlamentswahl werden für Montag oder Dienstag erwartet.
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Diese Nachricht wurde am 05.10.2025 im Programm Deutschlandfunk gesendet.