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"Parlez-moi d'Oradour"

Nachdem im Juni 1944 die SS das französische Dorf Oradour überfallen und nahezu alle Dorfbewohner ermordet hatte, blieb der Ort zerstört. Gleich nach Kriegsende hatte General de Gaulle Oradour zur Gedenkstätte gemacht, nicht ganz ohne eigene Interessen, wie man heute weiß. Denn Frankreich wollte das Ausmaß der französischen Kollaboration mit den Nazis lange nicht zur Kenntnis nehmen. Oradour-sur-Glane ist deshalb heute ein Erinnerungsort besonderer Art, an dem nicht nur die Geschichte von Tätern und Opfern, sondern die Geschichte der Erinnerungs-Arbeit selbst dokumentiert wird. Im nationalen Gedenkzentrum Oradours ist derzeit eine Ausstellung unter dem Titel "Parlez-moi d’Oradour" zu sehen. Fotografen aus drei Generationen haben das Dorfleben nach der Apokalypse festgehalten.

Von Siegfried Forster | 13.04.2004
    Oradour-sur-Glane - ein Name, der klingt wie eine Totenglocke ...

    Der Bericht der französischen Wochenschau vom September 1944 lässt erahnen, welche Schrecken Franzosen seit 60 Jahren mit dem Namen Oradour-sur-Glane verbinden. Der Photograph Jean Dieuzaide hatte nach dem Ende der deutschen Besatzung als erster die schaurigen Überreste der ausgerotteten Dorfgemeinschaft festgehalten. Seine 17 Bilder - eine größere Filmrolle hatte er damals nicht - zeigen ein Dorfleben nach der Apokalypse: Häuser-Skelette, ausgebrannte Autowracks, verkohlte Wassereimer und Kinderwägen. Als Willy Ronis fünf Jahre später nach Oradour reist, sind die Dorfruinen bereits denkmalgeschützt gesäubert. Der Blick auf Oradour ändert sich, so die Kuratorin und Leiterin des Gedenkzentrums, Anne-Dominique Barrère:

    Das Dorf war damals bereits in eine Art Museum verwandelt worden. 1949 besichtigten die Besucher Oradour bereits wie Pilgerreisende. Deshalb hat Ronis eher die Besucher photographiert. Bei den Aufnahmen von Dieuzaide sehen wir wirklich nur die Ruinen.

    Ende der 90er Jahre konfrontiert sich Philippe Bertin mit den Schreckensbildern seiner Kindheit, die sich bei einem Oradour-Besuch auf ewig bei ihm eingeprägt haben. Um die Erinnerung daran festzuhalten, macht er farbige Polaroidbilder, die er mit Hilfe von Erde und Asche verfremdet, fast unkenntlich macht. Die Szenen verschwimmen, damit die Erinnerung, der Schrecken, uns wieder schärfer ins Auge stechen kann. Der unterschiedliche Blick der Photographen aus drei Generationen beweist für die Leiterin des Gedenkzentrums vor allem eines: Das "Souviens-toi"-, "Erinnere Dich"- Schild am Eingang des Geisterdorfes, genügt heute nicht mehr als Leitmotiv, damit Oradour seiner Aufgabe für uns heute Lebenden gerecht werden kann.

    Man kann leicht sagen: ''Erinnere Dich''. Als ob die Menschen heute keine Verbrechen mehr begehen würden. Als ob man Dörfer wie Oradour-sur-Glane heute nicht jeden Tag im Fernsehen sehen kann: wir haben solche Ruinen in Tschetschenien gesehen, im Kosovo. Es ist unglücklicherweise so, dass der Mensch sich offensichtlich nicht seiner Erinnerung bedienen kann, um Gutes zu tun und um aufzuhören Böses zu tun.

    Verstellt die Erinnerung in den Ruinen heute also das sich Erinnern an das Eigentliche? Sollen die Besucher lieber bei sich, bei ihrer eigenen Geschichte anfangen, als mit der kollektiven Erinnerung von Oradour? Für Jean-Marcel Marthout, einer der beiden heute noch lebenden Überlebenden des Massakers, geht diese Forderung zu weit:

    Damit bin ich nicht unbedingt einverstanden. Ich denke, ab dem Moment, in dem wir das machen würden, wäre Oradour nicht mehr das Modell, das wir schaffen wollten. Warum hat man Oradour erhalten? Weil der damalige Präsident, General de Gaulle, entschieden hatte, Oradour in diesem zerstörten Zustand zu erhalten. Als Erinnerung an die Leiden unseres Vaterlandes.

    Die gewagte These der Ausstellung: De Gaulle wollte mit Hilfe des Märtyrerdorfes Oradour unter anderem auch bewusst das Ausmaß der Kollaboration der Franzosen verschleiern. Doch die Rechnung ging nicht auf: schon bald stellte sich heraus, dass auch Franzosen unter der 200-köpfigen Mördertruppe der Waffen-SS waren. Zwangsrekrutierte aus dem besetzten Elsass-Lothringen, die 1953 in Bordeaux vor Gericht gestellt, aber anschließend von General de Gaulle begnadigt wurden. Für die Überlebenden und die Familien der Opfer ein Schlag ins Gesicht. Weshalb sie daraufhin ihr eigenes Mahnmal bauten und offizielle Gedenkveranstaltungen jahrzehntelang boykottierten. Erst in den 90er Jahren durfte wieder ein französischer Präsident eine Rede in Oradour halten.

    Auch von deutscher Seite ist der Weg zur Wiederversöhnung beschwerlich. Robert Hebras, der zweite heute noch lebende Überlebende des Massakers, wartet seit 60 Jahren vergeblich auf eine Entschuldigung der noch lebenden deutschen Täter und auf eine Versöhnungsgeste auf höchster politischer Ebene.

    Ich bin mehrmals nach Deutschland gefahren - für die Wiederversöhnung. Ich bin für die Wiederversöhnung. ... Was mich betrifft, so kann die deutsch-französische Wiederversöhnung nur von den Politikern aus Deutschland und Frankreich gemacht werden.