Wolfgang Thierse: Es gibt leider keine einfache Antwort auf diese Frage. Die Situation, in der wir uns befinden, ist tatsächlich außerordentlich schwierig. Ich habe gelegentlich mein Gefühl ausgedrückt, indem ich gesagt habe, wir sind gewissermaßen mit dem Rücken an der Wand. Das ist im Allgemeinen eine recht unbequeme Position, aber diesmal hat sie wenigstens den Vorteil, dass wir nicht mehr zurückweichen können. Die notwendigen Veränderungen müssen wir umsetzen, sonst sind wir gänzlich verloren. Und ich glaube, die schlechte Stimmung, die Zerrissenheit der Partei, die Kompetenzverluste – das hat alles ein und dieselbe Ursache. Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik wagt eine Regierung tiefgehende, einschneidende Veränderungen – auf dem Arbeitsmarkt, im Steuersystem, in den Sozialsystemen. Sie tut etwas, wovor sich vergangene Regierungen immer gedrückt haben – immer mit der Angst vor dem Wähler gedrückt haben. Wir tun das jetzt, und wir sind in einer Situation, wo nicht sicher ist, wie diese Maßnahmen im Einzelnen wirken. Wir tun es mit Überzeugung, dass sie notwendig sind und gut sind. Aber die Wirkung dieser Maßnahmen, dieser Reformen, die wird erst eintreten im nächsten Jahr und im übernächsten Jahr. Und in einer solchen offenen Situation ist durchaus verständlich, dass die Menschen ängstlich sind, unsicher sind, wütend sind, verärgert sind und dass sie das auch ausdrücken.
Gehm: Problem erkannt, sagt der Kanzler. Es sei auch eingeräumt, dass die Probleme erkannt werden. Aber: Zu spät werden sie erkannt, sagen die einen, und man ist halbherzig beim Umsetzen, sagen die anderen. Das Erkannte dann aber als richtig und lebensnotwendig darzustellen und rüberzubringen, liegt darin nicht das Hauptmanko der SPD derzeit?
Thierse: Ich wollte nicht damit anfangen, damit nicht der Vorwurf gemacht wird, ich würde sagen, wir hätten ein Vermittlungsproblem. Nein, das Problem liegt auch in der Sache. Ich sage das mit viel Verständnis. Menschen Änderungen abzuverlangen heißt, ihnen ja wirklich abzuverlangen, dass sie mit Mut sich in eine offene Situation begeben. Und welcher Mensch ändert sich schon gerne? Wer lässt schon gerne Formveränderungen zu, wenn er nicht hundertprozentig sicher sein kann, dass das auch Erfolg hat? Also stimme ich Ihnen dann zweitens zu, dass wir viel mehr als bisher das Ziel dieser notwendigen Veränderungen verdeutlichen müssen. Es geht um die Zukunft unseres Sozialstaates. Ich will es an einem Beispiel erläutern: Wir Deutschen werden – das ist ein schöner Umstand – alle deutlich älter. Zugleich – das ist weniger gut – haben wir viel weniger Kinder. Aus beiden Tatsachen folgert, dass unsere Altersversorgung, dass unser Gesundheitssystem schlicht teurer wird, weil wir viel länger Gesundheitsdienstleistungen, Renten und Pensionen in Anspruch nehmen. Darauf muss man reagieren mit einer Veränderung dieses Systems. Wir müssen neu austarieren das Verhältnis von solidarischer Leistung und individueller Verantwortung. Dabei sind wir mittendrin. Das geht auch nicht, wie manche sagen, in einem gewissermaßen großen Donnerschlag, in einem großen Sprung – gewissermaßen in böser Erinnerung an Mao –, sondern es geht offensichtlich nur in vertretbaren Schritten, die breit diskutiert werden müssen, wo die Widersprüche, die unterschiedlichen Einstellungen, die gegensätzlichen Interessen in der Debatte zur Geltung kommen. Aber wir tun es jetzt, wir drücken uns nicht mehr davor. Keiner sagt mehr diesen einfachen Satz: "Alles in Ordnung, die Rente ist sicher", sondern wir verändern das System.
Gehm: Keine Ruckposition, das ist klar, nicht das Herzog-Motiv. Programmatisch, Herr Thierse, geht es der SPD darum, globalisierungsfähige Antworten zu suchen, die eine gerechte solidarische und demokratische Gesellschaft auch in Zukunft ermöglichen. Das ist anspruchsvoll und ehrenwert, aber einigermaßen schwer zu vermitteln. Die Menschen wollen doch nur das eine: Dass es ihnen in Zukunft besser geht, und das nehmen sie der Politik – dieses Versprechen – derzeit nicht ab.
Thierse: Ja, weil man das Versprechen auch nicht mehr so einfach wiederholen kann. Und deswegen komme ich doch wieder auf Globalisierung. Wir leben in einer Welt, in der Politik nicht mehr funktioniert in den Grenzen von Nationalstaaten. Wir leben in einer offenen Welt. Die Wirtschaft ist tatsächlich globalisiert. Was bei uns passiert – wirtschaftlich, sozial – wird beeinflusst von vielen Faktoren außerhalb unseres Landes. Das kann man nicht zurückdrehen wollen, es sei denn, man will eine Mauer bauen. Wir müssen darüber reden, wie kann Deutschland sich unter radikal veränderten Wettbewerbsbedingungen wirtschaftlich erfolgreich behaupten und damit Wohlstand verteidigen. Nicht das einfache Versprechen "Unseren Kindern soll es besser gehen", sondern das Versprechen heißt: Wir wollen unter radikal veränderten Bedingungen – wir sind inmitten eines wirklich revolutionären Umwandlungsprozesses – wie können wir unseren Wohlstand verteidigen. Das ist das Ziel der Sozialdemokraten, und wie können wir das so tun, dass Chancen und Risiken dieser Prozesse fair und gerecht verteilt werden, dass nicht die kleinen Leute die Zeche dieser Veränderung bezahlen und die anderen die Nutznießer sind.
Gehm: Der Parteitag in Bochum – drei Tage lang – wird ab morgen die Gelegenheit dazu haben, diese Bestandsanalyse zu liefern und den Schritt nach vorn zu gehen. Was erwarten Sie vom Parteitag?
Thierse: Ich wünsche mir sehr, dass wir einerseits natürlich unsere gegenwärtige Situation besprechen. Ein Parteitag ist auch dazu da, die Situation in der Partei auszudrücken, die Gefühle, die Seelenlage der Partei zur Geltung zu bringen. Aber dann wünsche ich mir vor allem, dass wir unsere Ziele, unsere Zukunftsprojektionen mehr in den Blick rücken. Und da ist es wichtig, dass wir nicht mehr nur über unsere Sozialsysteme reden, sondern von den eigentlichen Zukunftsherausforderungen. Die haben alle zu tun mit Bildung, mit Forschung, mit Familie. Ein Land hat keine Zukunft, wenn es nicht genügend für Bildung ausgibt und wenn es nicht genügend Geld in Köpfe, in Intelligenz steckt und wenn es nicht dafür sorgt, dass Familien es einigermaßen gut haben und dass Kinder nicht ein großes Armutsrisiko sind, sondern dass Kinder zu haben ein selbstverständlicher Teil des beruflichen, des menschlichen Lebens ist. Und dass wir Familien mit Kindern in diesem Land eine Zukunft schaffen, das scheinen mir die drei großen Themen zu sein – Bildungspolitik, Innovationspolitik, Familienpolitik.
Gehm: Die Themen der Zukunft – Sie sagten es. Die Themen der Gegenwart liegen näher und sie bedrücken die SPD natürlich auch mehr. Was wird die Botschaft des Parteitages sein? Die Truppe steht, sie steht hinter dem Kanzler. Die Reformpolitik wird durchgesetzt?
Thierse: Ich glaube, bei allem Ärger, bei aller Verunsicherung auch in der eigenen Partei – bei der Diskussion über die Frage: Sind die unvermeidlichen Lasten wirklich gerecht verteilt –, darüber muss man debattieren. Aber ich glaube, dass in der Partei sich die Einsicht durchgesetzt hat, dass wir uns vor diesen Veränderungen nicht mehr drücken können. Und deswegen glaube ich – vielleicht nicht mit Leidenschaft, vielleicht nicht mit emotionalem Überschwang, aber doch mit viel Nüchternheit – wird sich dieser Parteitag hinter Bundeskanzler Schröder stellen, aber dann zugleich darüber debattieren: Was führt über den Tag hinaus, über die notwendigen Veränderungen, die ja gewissermaßen Anpassungen sind an die globalisierte Welt. Also, die Zukunftsorientierung ist wichtig. Der Leitantrag, der im Mittelpunkt der Debatte steht, meint genau dies.
Gehm: Die SPD hat ja bekanntlich Übung, sich hinter Kanzler Schröder zu stellen. Das war beim Sonderparteitag auch schon so, als die Agenda 2010 ja mit großer Mehrheit durchgegangen ist. Nun, diesmal sucht sie die Partei möglicherweise ein Ventil, um Unmut loszuwerden. Und ein Ventil ist normalerweise die Vorstandswahl; ins Schussfeld ist der Generalsekretär geraten. Sind das nicht eher Nickligkeiten, wenn die rechten Seeheimer und die linken Bewahrer des demokratischen Sozialismus ihr Mütchen vorbörslich an Scholz kühlen?
Thierse: Also, ich hoffe, dass das nicht passiert. Ein bisschen spielt das immer eine Rolle. Das ist in jeder Partei so, dass mancher Ärger sich bei Personalentscheidungen Luft macht. Ich würde das nicht überbewerten. Ich bin aber der guten Hoffnung, dass insgesamt der Parteitag so vernünftig ist, diesen Versuchungen, wenn nicht gänzlich, so doch mehrheitlich zu widerstehen.
Gehm: Wie sehen Sie eigentlich die demografische Befindlichkeit der SPD? Mitgliederschwund, Überalterung, klamme Finanzen. Die gute alte Willy-Willy-Zeit ist ja wohl Lichtjahre zurück.
Thierse: Das ist so, und wir haben erhebliche Anstrengungen vor uns, junge Leute für die Partei zu gewinnen. Das ist übrigens nicht nur ein Sonderproblem der SPD. Aber wenn Bürger das sehen, dass nach der Phase der Unsicherheit, die durch den unweigerlichen Streit über die Veränderungen eingetreten ist, dass dann wieder Beruhigung eintritt, dann glaube ich auch, dass das Ansehen der SPD, die Stimmung gegenüber der SPD sich wieder verbessert und dass das vielleicht auch gelingt, wenn wir unsere langfristigen Ziele wieder deutlicher machen können, dass dann auch junge Leute wieder sagen: Es lohnt sich, sich für diese Partei zu engagieren.
Gehm: Und Sie sehen also das Jahr 04 nicht nur als wirtschaftlichen Aufschwung, sondern auch als Hoffnung eines Aufschwungs für die Sozialdemokraten?
Thierse: Ich denke, dass Politiker ohne Hoffnung nicht recht existieren können. Sie wären dann Zyniker, und das halte ich nicht für eine gute Einstellung von Politikern.
Gehm: Aktuell gesehen, Herr Thierse, arbeiten die Parlamentarier derzeit unter gewaltigem Hochdruck. Die Agenda 2010 – ein riesiges Gesetzespaket – ist in dem Vermittlungsausschuss gelandet. Kompromissfindung ist jetzt angesagt. Nun gibt sich die Union derzeit ziemlich robust und selbstbewusst, und Kompromisse könnten einen hohen Preis haben. Wo ist die Grenze für die SPD?
Thierse: Das ist nicht vorherzusehen, und vor allem – das wissen Sie – ist es taktisch unklug, eine Grenze anzugeben. Das ist ja geradezu eine Einladung an den politischen Konkurrenten, diese Grenze zu überschreiten. Also, Essentials zu formulieren, ist die Einladung an den anderen, diese Essentials genau zu provozieren. Nein, die SPD/Rot-Grün ist in diese Verhandlungen im Vermittlungsausschuss gegangen in der ernsthaften Absicht, kompromissfähig zu sein, weil wir die Steuerreform, die vorgezogenen Steuersenkungen wollen um der wirtschaftlichen Belebung willen, weil wir auch wollen, dass hinsichtlich unserer sozialen Systeme tatsächlich Änderungen eintreten. Sie sind notwendig. Und da angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat das nicht ohne die CDU geht, müssen wir kompromissbereit sein. Ich wünsche mir, dass die CDU dies auch ist, dass sie der Versuchung widersteht, ihren taktischen Vorteil, der darin besteht, dass sie eine Bundesratsmehrheit hat, so auszureizen, dass am Schluss nur der Versuch steht, die SPD zu demütigen – ich glaube sogar, dass die Bürger am Schluss das nicht goutieren werden. Ich glaube, die Mehrheit der Bürger will, dass die zwar streiten, aber dass sie dann auch sich rechtzeitig einigen, denn nichts tut mehr weh als diese offene, unklare, strittige Situation, wo keiner weiß: Was erwartet uns – welche gesetzliche Regelung, welche Lohnnebenkosten, welche Steuererleichterung bekomme ich oder welche nicht?
Gehm: Wenn eine Einigung erreicht würde, dann stellt sich auch sehr bald bei der SPD die Frage wieder nach der eigenen Mehrheit. Und diese Frage wird ja nach der Notwendigkeit dieser eigenen Mehrheit innerhalb der SPD durchaus unterschiedlich beantwortet. Braucht die SPD diese eigene Mehrheit?
Thierse: Also, es ist immer gut, wenn eine Partei die Fähigkeit hat, in einer strittigen Situation die eigene Regierung zu unterstützen. Das ist eine Aufgabe von Regierungsfraktionen, den eigenen Kanzler, die eigene Regierung mit aller Entschiedenheit zu unterstützen, aber auch schwierige Kompromissentscheidungen dann mit zu tragen. Und da sage ich Ihnen: Es ist doch selbstverständlich, dass ein Fraktionsvorsitzender, dass ein Bundeskanzler dann in der eigenen Fraktion, in der eigenen Regierungsfraktion genau dafür wirbt, auch hinter einem – vielleicht mühselig gefundenen – Kompromiss zu stehen.
Gehm: Aber Bedingung muss es nicht sein?
Thierse: Bedingung ist, dass ein solcher Kompromiss in beiden Häusern dann eine deutliche Zustimmung findet.
Gehm: Die Partei-Linke hat dieser Tage wieder einmal gewarnt, die Kompromisslinien etwas zerfließen zu lassen. Andrea Nahles warnt vor der sozialen Unwucht der Reformen. Heißt das, man könne bald wieder vor einer neuen Debatte über soziale Gerechtigkeit stehen in der SPD?
Thierse: Ich glaube, dass das Thema "soziale Gerechtigkeit" ein ständiges Thema für die SPD ist. Es ist der Kern unserer Identität. Die SPD ist die Partei der sozialen Gerechtigkeit in der Solidarität. Wenn sie das nicht mehr ist, wäre sie überflüssig. Und dass man – da es keinen allgemeinen unhistorischen, geschichtslos gültigen Maßstab für soziale Gerechtigkeit gibt, muss man sich immer neu verständigen, zumal in Zeiten, wo wirtschaftliches Wachstum zurückgegangen ist, wo die finanziellen Belastungen des Staates, die finanzielle Situation des Staates so dramatisch schlecht ist und wo die Globalisierung und die demografischen Veränderungen erheblichen Einfluss haben auf das, was überhaupt in diesem Lande zu verteilen ist. Also ist diese Debatte notwendig. Und es ist doch auch insofern vernünftig, dass wir zum ersten mal in der 140jährigen Geschichte der SPD eine Grundsatzprogrammdebatte begonnen haben als Regierungspartei. Es gibt unterschiedliche Ansätze und Vorschläge. Man sollte bei dieser Debatte nicht nur danach fragen, was bedeutet das tagespolitisch oder personell, sondern danach fragen: Gelingt es uns, mittelfristige und langfristige Projektionen, programmatische Aussagen zu finden für das, was unter den Bedingungen der Globalisierung – gelingt es uns da, ein vernünftiges Programm sozialer Gerechtigkeit zu entwickeln?
Gehm: Soziale Gerechtigkeit ist das Generalthema weit über die SPD hinaus. Herr Thierse, es sind 14 Tage her, da standen in Berlin 100.000 Menschen auf der Straße, die gegen Sozialabbau demonstrierten. Deutet sich da ein Potential an, das an den Bindekräften der Volkspartei SPD vorbeigeht?
Thierse: Die Gefahr ist da. Aber zunächst mal sind solche Demonstrationen, so legitim sie sind, immer auch ein Ausdruck dafür, dass Menschen Angst und Sorge haben vor den Veränderungen – wie ich sagen würde, den unausweichlichen Veränderungen. Und ich glaube ja, dass es die Aufgabe ist der SPD, zu verdeutlichen, dass wir die Veränderungen mit Augenmaß, mit sozialer Symmetrie, also mit Fairness gegenüber den unterschiedlichen Leistungsmöglichkeiten der gesellschaftlichen Gruppen durchsetzen. Und dann bitte ich gelegentlich auch mal darum, einen Vergleich anzustellen. Es geht doch nicht um Himmel oder Hölle, sondern es geht darum, was FDP, was CDU, was Grüne, was SPD an Konzepten vorlegen – wie man solche Veränderungen gerecht gestalten kann. Und da werden diejenigen, die zunächst einmal aus Angst und Sorge gegen alles sind, vielleicht dann doch noch die Fähigkeit entwickeln, Unterschiede zwischen den Konzepten festzustellen. Also zwischen dem, was die Herzog-Kommission zum Beispiel oder Friedrich Merz vorgeschlagen haben für unser Sozialsystem, für unser Steuersystem und dem, was in der SPD diskutiert wird, bestehen erkennbare Unterschiede nicht zuletzt in der Art der Verteilung von Lasten.
Gehm: Die Themen Ausbildungsplatzabgabe, Erbschaftssteuer, Vermögenssteuer, die aufs Tapet kommen in diesen Tagen, sind natürlich auch eindeutige Zeichen nach außen.
Thierse: Das ist so, aber es geht dabei nicht nur um eine taktische Frage, wie ich gelegentlich höre, die Partei-Linken zu befriedigen. Nein, bei der Ausbildungsplatzabgabe geht es um einen einfachen und schlimmen Vorgang. Seit Jahren nimmt die Bereitschaft der deutschen Wirtschaft, genügend auszubilden, nicht zu. Jedes Jahr ist ein größerer Kraftakt notwendig, Ausbildungsplätze ausreichend zu schaffen. Es gelingt immer weniger. Und die Gesellschaft, die Politik hat nicht das Recht, da zuzuschauen. Und deswegen sagen wir, wir wollen ein solches Gesetz machen, das erst dann wirksam wird, wenn die Wirtschaft, die ja die Hauptverantwortung weiterhin tragen soll – vernünftigerweise – für die Ausbildung, dieser Verantwortung nicht nachkommt. Dasselbe gilt noch mal auf andere Weise für die Erbschaftssteuer. Wir sehen, dass wir in diesem Lande in einem geradezu klassischen Widerspruch leben, nämlich zwischen öffentlicher Armut und wirklich extremen, privatem Reichtum. Ich sage das ohne Anfälle von Neid. 50 Jahre Frieden haben ermöglicht, dass im Westen Deutschlands – im Osten ist das noch lange nicht der Fall – eine Generation von Erben entstanden ist. Das ist ja in bestimmter Weise leistungsloses Einkommen. Und ich denke, der alte Gesichtspunkt, der in diesem Lande einmal mehrheitsfähig war, dass die, die mehr haben, die breiteren Schultern haben, die deutlich größeres Vermögen haben, auch mehr zu den gemeinschaftlichen Aufgaben wie Bildung, wie Forschung, wie Kultur, wie Familienvorsorge, wie äußere und innere Sicherheit, dass die auch mehr dazu beitragen sollen. Und das ist das Thema, wenn man über Erbschaftssteuer redet.
Gehm: Erwarten Sie da demnächst mehr als unverbindliche Rahmenvorschläge?
Thierse: Also ich denke, dass wir erstens für diesen Gedanken neue Mehrheit gewinnen müssen. Der Zeitgeist, der tobt sich wohl eher aus in dem Werbeslogan "Geiz ist geil" – fürchte ich. Ich will da nicht zu misanthropisch scheinen, aber wir müssen für diesen Gedanken der Solidarität und des sozialen Ausgleichs, der für die Geschichte der Bundesrepublik so wichtig war und wesentlich zu ihrem Erfolg, zum sozialen Frieden beigetragen hat – wir müssen für diesen Gedanken gerade in Zeiten solcher Veränderungen und solcher Schmerzen wieder neu werben. Und dann bin ich auch sicher, dass die SPD in der Lage ist, ein Konzept für Erbschaftssteuer zu entwickeln und es mehrheitsfähig zu machen.
Gehm: Herr Thierse wir müssen noch einmal zurückkehren zum Thema "Zurückdrehen der Segnung des Sozialstaats". Eine Frage an den Bundestagspräsidenten: Wird dann beim Thema Rente endlich auch auf ein Signal gewartet, was die Altersversorgung der Abgeordneten angeht?
Thierse: Sie wissen, dass ich meiner Pflicht entsprechend – ich habe die gesetzliche Pflicht, am Beginn einer Legislaturperiode – dieser Pflicht also entsprechend einen Vorschlag gemacht habe. Und der war ein doppelter – erstens eine Nullrunde bei den Diäten. Und zweitens habe ich vorgeschlagen, dass wir über die Altersbezüge, die Pensionen dann neu reden müssen und sie neu regeln müssen, wenn die Reform dieser Systeme für die ganze Bevölkerung verwirklicht wird. Denn ich habe einen ganz einfachen Grundsatz: Wir Abgeordneten müssen uns selber genau so behandeln, wie wir dieses für die Bürger, für die Mehrheit der Bevölkerung regeln. Wir sollten uns da nicht ausnehmen, keine Privilegien, weder im Positiven noch im Negativen uns verabreichen.
Gehm: Das heißt, das Parlament hat die Handlungsfähigkeit erkannt?
Thierse: Ich denke ja. Ich sehe ja, dass auch in den Fraktionen ein deutliches Bewusstsein dafür vorhanden ist, dass wir da Regelungen treffen müssen – in Analogie zu dem, was wir etwa für Beamte regeln oder für Arbeitnehmer regeln.
Gehm: Herr Thierse, die Reformpolitik ist in diesen Tagen in den Schlagschatten einer Affäre geraten, welche die Union heimgesucht hat. Ich meine die antisemitischen Äußerungen des Abgeordneten Hohmann, der aus der CDU/CSU-Fraktion nun ausgeschlossen worden ist und auch auf seinen Parteiausschluss wartet. Ist das Thema damit erledigt?
Thierse: Ich fürchte nicht. Zunächst mal ist es natürlich parlamentarisch insofern erledigt, als die große Fraktion der CDU/CSU eine klare Entscheidung getroffen hat. Das war ein wichtiger Vorgang, und ich bin froh über diese Entscheidung, weil klar sein muss, dass demokratische Parteien auch auf ihre Grenzen achten. Sie sollen als Volksparteien – SPD wie CDU – vieles versammeln, was in dieser Gesellschaft vorhanden ist, aber sie dürfen nicht alles versammeln. An den rechten Rändern wie an den linken Rändern muss man Unterscheidungsmerkmale, Tabus errichten. Und Antisemitismus ist ein solches Tabu. Es darf auch 60 Jahre nach dem Ende des Krieges nicht mehr möglich sein, dass ein Politiker, ein Mitglied einer demokratischen Partei, öffentlich antisemitische Klischees bedient. Aber damit ist das Thema nicht erledigt. Die Herausforderung wird in dieser Gesellschaft bleiben, wie übrigens in anderen Ländern auch. Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus, Ausländerfeindlichkeit gibt es wahrlich nicht nur in Deutschland. Das ist ein Problem aller europäischen Länder, auch darüber hinaus. Es ist vielleicht sogar so etwas – es gibt ja auch so etwas wie einen Wohlstandsrassismus, es gibt das Weiterwirken antisemitischer und rassistischer Vorurteile. Deswegen bleibt das eine dauernde Aufgabe für Demokraten, sich dieser Herausforderung zu stellen. Und im übrigen, Herr Hohmann ist ja immer noch im Parlament. Der hat als einzelner Abgeordneter das Recht, zu jedem Thema zu reden. Wir werden also noch weiter mit ihm beschäftigt sein.
Gehm: Stichwort Holocaust, Herr Thierse. Sie haben in der letzten Woche nach der Entscheidung des Kuratoriums, das die Firma DEGUSSA am Bau des Mahnmals beteiligt bleibt, davon gesprochen, ein beinahe klassisches Dilemma sei gelöst worden. Sind Sie zuversichtlich, dass diese Entscheidung auch Bestand hat und nicht zerredet wird jetzt im Nachhinein?
Thierse: Dass über dieses Denkmal diskutiert wird, das gehört dazu. Selbst diese Debatte – emotional, aber auch rational – ist nun Teil des Denkmalprozesses geworden. Wir wollten doch nicht mit dem Mahnmal einen Schlussstrich ziehen, sondern es soll Anlass, Gegenstand auch von Erinnerung und von Auseinandersetzung sein. Das ist passiert, und wir sollten uns nicht darüber wundern, dass die Vergangenheit immer wieder in unserer Gegenwart hineinragt. Es war doch die Idee auch dieses Denkmals, dass dieses Deutschland von heute mit seiner Vorgeschichte dieses Denkmal baut, und dass zu dieser Vorgeschichte auch das industrialisierte Verbrechen gehört, an dem deutsche Firmen beteiligt waren. Und dass diese ehemaligen Firmen, die an den Verbrechen beteiligt waren, Nachfolgefirmen haben, die Teil der heutigen Gesellschaft sind, das ist uns deutlich geworden. Sie auszuschließen, wäre gewissermaßen ein Widerspruch gewesen zu dem inneren Anliegen dieses Denkmals. Dass Bürger dieses Landes, zumal jüdische Überlebende des Shoah damit ein großes emotionales Problem haben, davor muss man allen Respekt haben. Aber mein Eindruck war, dass sowohl die öffentliche Debatte und erst recht die beiden Debatten im Kuratorium der Stiftung für dieses Denkmal, dass sie voller Respekt, voller Fairness, voller Ernsthaftigkeit war.
Gehm: Last but not least, Herr Thierse, ein anderes deutsches Thema. Auf unserer Bewerbung für die Olympischen Spiele ruht wohl kein Segen. Vor Jahren ist Berlin abgemeiert worden, der Bewerber Leipzig gerät schon vor der Zielgeraden ins Schlingern. Was wäre die größere Blamage: Ein Rückzug oder vom IOC ausgeschlossen zu werden?
Thierse: Zunächst muss ich sagen: Es ist nicht so wirklich überraschend, dass auch in Leipzig Fehler gemacht worden sind. Wir wissen nicht, was in den anderen Bewerberstädten los ist, in Paris oder New York. Ich unterstelle, da dort auch Menschen am Werke sind, werden Fehler gemacht – Ungeschicklichkeiten bis hin zum Unangenehmen. Das klingt jetzt vielleicht etwas weise, aber man muss das zunächst einmal feststellen. Und ich wünsche mir sehr, dass nicht die Hauptarbeit jetzt darin besteht, dass alle unterwegs sind, noch den letzten kleinen Fehler zu finden. Dieses Versagen, diese falsche Entscheidung – da wird man immer fündig werden. Bei jeder großen Institution, bei jedem großen Projekt ist das so. Ich wünsche mir, dass dieses Land, die Politik, aber vor allem auch der Sport mit seinen Organisationen sich nun mit Leidenschaft hinter diese Bewerbung stellt. Wenn man dann nicht erfolgreich ist, wenn andere vorgezogen werden, ist das ein normaler sportlicher Vorgang. Im Wettbewerb kann man auch verlieren. Aber wenn man vorher am Werke ist, alles zu tun, damit diese Bewerbung überhaupt nicht in die Nähe einer Chance kommt, dann würde ich das für ziemlich traurig halten.
Gehm: Problem erkannt, sagt der Kanzler. Es sei auch eingeräumt, dass die Probleme erkannt werden. Aber: Zu spät werden sie erkannt, sagen die einen, und man ist halbherzig beim Umsetzen, sagen die anderen. Das Erkannte dann aber als richtig und lebensnotwendig darzustellen und rüberzubringen, liegt darin nicht das Hauptmanko der SPD derzeit?
Thierse: Ich wollte nicht damit anfangen, damit nicht der Vorwurf gemacht wird, ich würde sagen, wir hätten ein Vermittlungsproblem. Nein, das Problem liegt auch in der Sache. Ich sage das mit viel Verständnis. Menschen Änderungen abzuverlangen heißt, ihnen ja wirklich abzuverlangen, dass sie mit Mut sich in eine offene Situation begeben. Und welcher Mensch ändert sich schon gerne? Wer lässt schon gerne Formveränderungen zu, wenn er nicht hundertprozentig sicher sein kann, dass das auch Erfolg hat? Also stimme ich Ihnen dann zweitens zu, dass wir viel mehr als bisher das Ziel dieser notwendigen Veränderungen verdeutlichen müssen. Es geht um die Zukunft unseres Sozialstaates. Ich will es an einem Beispiel erläutern: Wir Deutschen werden – das ist ein schöner Umstand – alle deutlich älter. Zugleich – das ist weniger gut – haben wir viel weniger Kinder. Aus beiden Tatsachen folgert, dass unsere Altersversorgung, dass unser Gesundheitssystem schlicht teurer wird, weil wir viel länger Gesundheitsdienstleistungen, Renten und Pensionen in Anspruch nehmen. Darauf muss man reagieren mit einer Veränderung dieses Systems. Wir müssen neu austarieren das Verhältnis von solidarischer Leistung und individueller Verantwortung. Dabei sind wir mittendrin. Das geht auch nicht, wie manche sagen, in einem gewissermaßen großen Donnerschlag, in einem großen Sprung – gewissermaßen in böser Erinnerung an Mao –, sondern es geht offensichtlich nur in vertretbaren Schritten, die breit diskutiert werden müssen, wo die Widersprüche, die unterschiedlichen Einstellungen, die gegensätzlichen Interessen in der Debatte zur Geltung kommen. Aber wir tun es jetzt, wir drücken uns nicht mehr davor. Keiner sagt mehr diesen einfachen Satz: "Alles in Ordnung, die Rente ist sicher", sondern wir verändern das System.
Gehm: Keine Ruckposition, das ist klar, nicht das Herzog-Motiv. Programmatisch, Herr Thierse, geht es der SPD darum, globalisierungsfähige Antworten zu suchen, die eine gerechte solidarische und demokratische Gesellschaft auch in Zukunft ermöglichen. Das ist anspruchsvoll und ehrenwert, aber einigermaßen schwer zu vermitteln. Die Menschen wollen doch nur das eine: Dass es ihnen in Zukunft besser geht, und das nehmen sie der Politik – dieses Versprechen – derzeit nicht ab.
Thierse: Ja, weil man das Versprechen auch nicht mehr so einfach wiederholen kann. Und deswegen komme ich doch wieder auf Globalisierung. Wir leben in einer Welt, in der Politik nicht mehr funktioniert in den Grenzen von Nationalstaaten. Wir leben in einer offenen Welt. Die Wirtschaft ist tatsächlich globalisiert. Was bei uns passiert – wirtschaftlich, sozial – wird beeinflusst von vielen Faktoren außerhalb unseres Landes. Das kann man nicht zurückdrehen wollen, es sei denn, man will eine Mauer bauen. Wir müssen darüber reden, wie kann Deutschland sich unter radikal veränderten Wettbewerbsbedingungen wirtschaftlich erfolgreich behaupten und damit Wohlstand verteidigen. Nicht das einfache Versprechen "Unseren Kindern soll es besser gehen", sondern das Versprechen heißt: Wir wollen unter radikal veränderten Bedingungen – wir sind inmitten eines wirklich revolutionären Umwandlungsprozesses – wie können wir unseren Wohlstand verteidigen. Das ist das Ziel der Sozialdemokraten, und wie können wir das so tun, dass Chancen und Risiken dieser Prozesse fair und gerecht verteilt werden, dass nicht die kleinen Leute die Zeche dieser Veränderung bezahlen und die anderen die Nutznießer sind.
Gehm: Der Parteitag in Bochum – drei Tage lang – wird ab morgen die Gelegenheit dazu haben, diese Bestandsanalyse zu liefern und den Schritt nach vorn zu gehen. Was erwarten Sie vom Parteitag?
Thierse: Ich wünsche mir sehr, dass wir einerseits natürlich unsere gegenwärtige Situation besprechen. Ein Parteitag ist auch dazu da, die Situation in der Partei auszudrücken, die Gefühle, die Seelenlage der Partei zur Geltung zu bringen. Aber dann wünsche ich mir vor allem, dass wir unsere Ziele, unsere Zukunftsprojektionen mehr in den Blick rücken. Und da ist es wichtig, dass wir nicht mehr nur über unsere Sozialsysteme reden, sondern von den eigentlichen Zukunftsherausforderungen. Die haben alle zu tun mit Bildung, mit Forschung, mit Familie. Ein Land hat keine Zukunft, wenn es nicht genügend für Bildung ausgibt und wenn es nicht genügend Geld in Köpfe, in Intelligenz steckt und wenn es nicht dafür sorgt, dass Familien es einigermaßen gut haben und dass Kinder nicht ein großes Armutsrisiko sind, sondern dass Kinder zu haben ein selbstverständlicher Teil des beruflichen, des menschlichen Lebens ist. Und dass wir Familien mit Kindern in diesem Land eine Zukunft schaffen, das scheinen mir die drei großen Themen zu sein – Bildungspolitik, Innovationspolitik, Familienpolitik.
Gehm: Die Themen der Zukunft – Sie sagten es. Die Themen der Gegenwart liegen näher und sie bedrücken die SPD natürlich auch mehr. Was wird die Botschaft des Parteitages sein? Die Truppe steht, sie steht hinter dem Kanzler. Die Reformpolitik wird durchgesetzt?
Thierse: Ich glaube, bei allem Ärger, bei aller Verunsicherung auch in der eigenen Partei – bei der Diskussion über die Frage: Sind die unvermeidlichen Lasten wirklich gerecht verteilt –, darüber muss man debattieren. Aber ich glaube, dass in der Partei sich die Einsicht durchgesetzt hat, dass wir uns vor diesen Veränderungen nicht mehr drücken können. Und deswegen glaube ich – vielleicht nicht mit Leidenschaft, vielleicht nicht mit emotionalem Überschwang, aber doch mit viel Nüchternheit – wird sich dieser Parteitag hinter Bundeskanzler Schröder stellen, aber dann zugleich darüber debattieren: Was führt über den Tag hinaus, über die notwendigen Veränderungen, die ja gewissermaßen Anpassungen sind an die globalisierte Welt. Also, die Zukunftsorientierung ist wichtig. Der Leitantrag, der im Mittelpunkt der Debatte steht, meint genau dies.
Gehm: Die SPD hat ja bekanntlich Übung, sich hinter Kanzler Schröder zu stellen. Das war beim Sonderparteitag auch schon so, als die Agenda 2010 ja mit großer Mehrheit durchgegangen ist. Nun, diesmal sucht sie die Partei möglicherweise ein Ventil, um Unmut loszuwerden. Und ein Ventil ist normalerweise die Vorstandswahl; ins Schussfeld ist der Generalsekretär geraten. Sind das nicht eher Nickligkeiten, wenn die rechten Seeheimer und die linken Bewahrer des demokratischen Sozialismus ihr Mütchen vorbörslich an Scholz kühlen?
Thierse: Also, ich hoffe, dass das nicht passiert. Ein bisschen spielt das immer eine Rolle. Das ist in jeder Partei so, dass mancher Ärger sich bei Personalentscheidungen Luft macht. Ich würde das nicht überbewerten. Ich bin aber der guten Hoffnung, dass insgesamt der Parteitag so vernünftig ist, diesen Versuchungen, wenn nicht gänzlich, so doch mehrheitlich zu widerstehen.
Gehm: Wie sehen Sie eigentlich die demografische Befindlichkeit der SPD? Mitgliederschwund, Überalterung, klamme Finanzen. Die gute alte Willy-Willy-Zeit ist ja wohl Lichtjahre zurück.
Thierse: Das ist so, und wir haben erhebliche Anstrengungen vor uns, junge Leute für die Partei zu gewinnen. Das ist übrigens nicht nur ein Sonderproblem der SPD. Aber wenn Bürger das sehen, dass nach der Phase der Unsicherheit, die durch den unweigerlichen Streit über die Veränderungen eingetreten ist, dass dann wieder Beruhigung eintritt, dann glaube ich auch, dass das Ansehen der SPD, die Stimmung gegenüber der SPD sich wieder verbessert und dass das vielleicht auch gelingt, wenn wir unsere langfristigen Ziele wieder deutlicher machen können, dass dann auch junge Leute wieder sagen: Es lohnt sich, sich für diese Partei zu engagieren.
Gehm: Und Sie sehen also das Jahr 04 nicht nur als wirtschaftlichen Aufschwung, sondern auch als Hoffnung eines Aufschwungs für die Sozialdemokraten?
Thierse: Ich denke, dass Politiker ohne Hoffnung nicht recht existieren können. Sie wären dann Zyniker, und das halte ich nicht für eine gute Einstellung von Politikern.
Gehm: Aktuell gesehen, Herr Thierse, arbeiten die Parlamentarier derzeit unter gewaltigem Hochdruck. Die Agenda 2010 – ein riesiges Gesetzespaket – ist in dem Vermittlungsausschuss gelandet. Kompromissfindung ist jetzt angesagt. Nun gibt sich die Union derzeit ziemlich robust und selbstbewusst, und Kompromisse könnten einen hohen Preis haben. Wo ist die Grenze für die SPD?
Thierse: Das ist nicht vorherzusehen, und vor allem – das wissen Sie – ist es taktisch unklug, eine Grenze anzugeben. Das ist ja geradezu eine Einladung an den politischen Konkurrenten, diese Grenze zu überschreiten. Also, Essentials zu formulieren, ist die Einladung an den anderen, diese Essentials genau zu provozieren. Nein, die SPD/Rot-Grün ist in diese Verhandlungen im Vermittlungsausschuss gegangen in der ernsthaften Absicht, kompromissfähig zu sein, weil wir die Steuerreform, die vorgezogenen Steuersenkungen wollen um der wirtschaftlichen Belebung willen, weil wir auch wollen, dass hinsichtlich unserer sozialen Systeme tatsächlich Änderungen eintreten. Sie sind notwendig. Und da angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat das nicht ohne die CDU geht, müssen wir kompromissbereit sein. Ich wünsche mir, dass die CDU dies auch ist, dass sie der Versuchung widersteht, ihren taktischen Vorteil, der darin besteht, dass sie eine Bundesratsmehrheit hat, so auszureizen, dass am Schluss nur der Versuch steht, die SPD zu demütigen – ich glaube sogar, dass die Bürger am Schluss das nicht goutieren werden. Ich glaube, die Mehrheit der Bürger will, dass die zwar streiten, aber dass sie dann auch sich rechtzeitig einigen, denn nichts tut mehr weh als diese offene, unklare, strittige Situation, wo keiner weiß: Was erwartet uns – welche gesetzliche Regelung, welche Lohnnebenkosten, welche Steuererleichterung bekomme ich oder welche nicht?
Gehm: Wenn eine Einigung erreicht würde, dann stellt sich auch sehr bald bei der SPD die Frage wieder nach der eigenen Mehrheit. Und diese Frage wird ja nach der Notwendigkeit dieser eigenen Mehrheit innerhalb der SPD durchaus unterschiedlich beantwortet. Braucht die SPD diese eigene Mehrheit?
Thierse: Also, es ist immer gut, wenn eine Partei die Fähigkeit hat, in einer strittigen Situation die eigene Regierung zu unterstützen. Das ist eine Aufgabe von Regierungsfraktionen, den eigenen Kanzler, die eigene Regierung mit aller Entschiedenheit zu unterstützen, aber auch schwierige Kompromissentscheidungen dann mit zu tragen. Und da sage ich Ihnen: Es ist doch selbstverständlich, dass ein Fraktionsvorsitzender, dass ein Bundeskanzler dann in der eigenen Fraktion, in der eigenen Regierungsfraktion genau dafür wirbt, auch hinter einem – vielleicht mühselig gefundenen – Kompromiss zu stehen.
Gehm: Aber Bedingung muss es nicht sein?
Thierse: Bedingung ist, dass ein solcher Kompromiss in beiden Häusern dann eine deutliche Zustimmung findet.
Gehm: Die Partei-Linke hat dieser Tage wieder einmal gewarnt, die Kompromisslinien etwas zerfließen zu lassen. Andrea Nahles warnt vor der sozialen Unwucht der Reformen. Heißt das, man könne bald wieder vor einer neuen Debatte über soziale Gerechtigkeit stehen in der SPD?
Thierse: Ich glaube, dass das Thema "soziale Gerechtigkeit" ein ständiges Thema für die SPD ist. Es ist der Kern unserer Identität. Die SPD ist die Partei der sozialen Gerechtigkeit in der Solidarität. Wenn sie das nicht mehr ist, wäre sie überflüssig. Und dass man – da es keinen allgemeinen unhistorischen, geschichtslos gültigen Maßstab für soziale Gerechtigkeit gibt, muss man sich immer neu verständigen, zumal in Zeiten, wo wirtschaftliches Wachstum zurückgegangen ist, wo die finanziellen Belastungen des Staates, die finanzielle Situation des Staates so dramatisch schlecht ist und wo die Globalisierung und die demografischen Veränderungen erheblichen Einfluss haben auf das, was überhaupt in diesem Lande zu verteilen ist. Also ist diese Debatte notwendig. Und es ist doch auch insofern vernünftig, dass wir zum ersten mal in der 140jährigen Geschichte der SPD eine Grundsatzprogrammdebatte begonnen haben als Regierungspartei. Es gibt unterschiedliche Ansätze und Vorschläge. Man sollte bei dieser Debatte nicht nur danach fragen, was bedeutet das tagespolitisch oder personell, sondern danach fragen: Gelingt es uns, mittelfristige und langfristige Projektionen, programmatische Aussagen zu finden für das, was unter den Bedingungen der Globalisierung – gelingt es uns da, ein vernünftiges Programm sozialer Gerechtigkeit zu entwickeln?
Gehm: Soziale Gerechtigkeit ist das Generalthema weit über die SPD hinaus. Herr Thierse, es sind 14 Tage her, da standen in Berlin 100.000 Menschen auf der Straße, die gegen Sozialabbau demonstrierten. Deutet sich da ein Potential an, das an den Bindekräften der Volkspartei SPD vorbeigeht?
Thierse: Die Gefahr ist da. Aber zunächst mal sind solche Demonstrationen, so legitim sie sind, immer auch ein Ausdruck dafür, dass Menschen Angst und Sorge haben vor den Veränderungen – wie ich sagen würde, den unausweichlichen Veränderungen. Und ich glaube ja, dass es die Aufgabe ist der SPD, zu verdeutlichen, dass wir die Veränderungen mit Augenmaß, mit sozialer Symmetrie, also mit Fairness gegenüber den unterschiedlichen Leistungsmöglichkeiten der gesellschaftlichen Gruppen durchsetzen. Und dann bitte ich gelegentlich auch mal darum, einen Vergleich anzustellen. Es geht doch nicht um Himmel oder Hölle, sondern es geht darum, was FDP, was CDU, was Grüne, was SPD an Konzepten vorlegen – wie man solche Veränderungen gerecht gestalten kann. Und da werden diejenigen, die zunächst einmal aus Angst und Sorge gegen alles sind, vielleicht dann doch noch die Fähigkeit entwickeln, Unterschiede zwischen den Konzepten festzustellen. Also zwischen dem, was die Herzog-Kommission zum Beispiel oder Friedrich Merz vorgeschlagen haben für unser Sozialsystem, für unser Steuersystem und dem, was in der SPD diskutiert wird, bestehen erkennbare Unterschiede nicht zuletzt in der Art der Verteilung von Lasten.
Gehm: Die Themen Ausbildungsplatzabgabe, Erbschaftssteuer, Vermögenssteuer, die aufs Tapet kommen in diesen Tagen, sind natürlich auch eindeutige Zeichen nach außen.
Thierse: Das ist so, aber es geht dabei nicht nur um eine taktische Frage, wie ich gelegentlich höre, die Partei-Linken zu befriedigen. Nein, bei der Ausbildungsplatzabgabe geht es um einen einfachen und schlimmen Vorgang. Seit Jahren nimmt die Bereitschaft der deutschen Wirtschaft, genügend auszubilden, nicht zu. Jedes Jahr ist ein größerer Kraftakt notwendig, Ausbildungsplätze ausreichend zu schaffen. Es gelingt immer weniger. Und die Gesellschaft, die Politik hat nicht das Recht, da zuzuschauen. Und deswegen sagen wir, wir wollen ein solches Gesetz machen, das erst dann wirksam wird, wenn die Wirtschaft, die ja die Hauptverantwortung weiterhin tragen soll – vernünftigerweise – für die Ausbildung, dieser Verantwortung nicht nachkommt. Dasselbe gilt noch mal auf andere Weise für die Erbschaftssteuer. Wir sehen, dass wir in diesem Lande in einem geradezu klassischen Widerspruch leben, nämlich zwischen öffentlicher Armut und wirklich extremen, privatem Reichtum. Ich sage das ohne Anfälle von Neid. 50 Jahre Frieden haben ermöglicht, dass im Westen Deutschlands – im Osten ist das noch lange nicht der Fall – eine Generation von Erben entstanden ist. Das ist ja in bestimmter Weise leistungsloses Einkommen. Und ich denke, der alte Gesichtspunkt, der in diesem Lande einmal mehrheitsfähig war, dass die, die mehr haben, die breiteren Schultern haben, die deutlich größeres Vermögen haben, auch mehr zu den gemeinschaftlichen Aufgaben wie Bildung, wie Forschung, wie Kultur, wie Familienvorsorge, wie äußere und innere Sicherheit, dass die auch mehr dazu beitragen sollen. Und das ist das Thema, wenn man über Erbschaftssteuer redet.
Gehm: Erwarten Sie da demnächst mehr als unverbindliche Rahmenvorschläge?
Thierse: Also ich denke, dass wir erstens für diesen Gedanken neue Mehrheit gewinnen müssen. Der Zeitgeist, der tobt sich wohl eher aus in dem Werbeslogan "Geiz ist geil" – fürchte ich. Ich will da nicht zu misanthropisch scheinen, aber wir müssen für diesen Gedanken der Solidarität und des sozialen Ausgleichs, der für die Geschichte der Bundesrepublik so wichtig war und wesentlich zu ihrem Erfolg, zum sozialen Frieden beigetragen hat – wir müssen für diesen Gedanken gerade in Zeiten solcher Veränderungen und solcher Schmerzen wieder neu werben. Und dann bin ich auch sicher, dass die SPD in der Lage ist, ein Konzept für Erbschaftssteuer zu entwickeln und es mehrheitsfähig zu machen.
Gehm: Herr Thierse wir müssen noch einmal zurückkehren zum Thema "Zurückdrehen der Segnung des Sozialstaats". Eine Frage an den Bundestagspräsidenten: Wird dann beim Thema Rente endlich auch auf ein Signal gewartet, was die Altersversorgung der Abgeordneten angeht?
Thierse: Sie wissen, dass ich meiner Pflicht entsprechend – ich habe die gesetzliche Pflicht, am Beginn einer Legislaturperiode – dieser Pflicht also entsprechend einen Vorschlag gemacht habe. Und der war ein doppelter – erstens eine Nullrunde bei den Diäten. Und zweitens habe ich vorgeschlagen, dass wir über die Altersbezüge, die Pensionen dann neu reden müssen und sie neu regeln müssen, wenn die Reform dieser Systeme für die ganze Bevölkerung verwirklicht wird. Denn ich habe einen ganz einfachen Grundsatz: Wir Abgeordneten müssen uns selber genau so behandeln, wie wir dieses für die Bürger, für die Mehrheit der Bevölkerung regeln. Wir sollten uns da nicht ausnehmen, keine Privilegien, weder im Positiven noch im Negativen uns verabreichen.
Gehm: Das heißt, das Parlament hat die Handlungsfähigkeit erkannt?
Thierse: Ich denke ja. Ich sehe ja, dass auch in den Fraktionen ein deutliches Bewusstsein dafür vorhanden ist, dass wir da Regelungen treffen müssen – in Analogie zu dem, was wir etwa für Beamte regeln oder für Arbeitnehmer regeln.
Gehm: Herr Thierse, die Reformpolitik ist in diesen Tagen in den Schlagschatten einer Affäre geraten, welche die Union heimgesucht hat. Ich meine die antisemitischen Äußerungen des Abgeordneten Hohmann, der aus der CDU/CSU-Fraktion nun ausgeschlossen worden ist und auch auf seinen Parteiausschluss wartet. Ist das Thema damit erledigt?
Thierse: Ich fürchte nicht. Zunächst mal ist es natürlich parlamentarisch insofern erledigt, als die große Fraktion der CDU/CSU eine klare Entscheidung getroffen hat. Das war ein wichtiger Vorgang, und ich bin froh über diese Entscheidung, weil klar sein muss, dass demokratische Parteien auch auf ihre Grenzen achten. Sie sollen als Volksparteien – SPD wie CDU – vieles versammeln, was in dieser Gesellschaft vorhanden ist, aber sie dürfen nicht alles versammeln. An den rechten Rändern wie an den linken Rändern muss man Unterscheidungsmerkmale, Tabus errichten. Und Antisemitismus ist ein solches Tabu. Es darf auch 60 Jahre nach dem Ende des Krieges nicht mehr möglich sein, dass ein Politiker, ein Mitglied einer demokratischen Partei, öffentlich antisemitische Klischees bedient. Aber damit ist das Thema nicht erledigt. Die Herausforderung wird in dieser Gesellschaft bleiben, wie übrigens in anderen Ländern auch. Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus, Ausländerfeindlichkeit gibt es wahrlich nicht nur in Deutschland. Das ist ein Problem aller europäischen Länder, auch darüber hinaus. Es ist vielleicht sogar so etwas – es gibt ja auch so etwas wie einen Wohlstandsrassismus, es gibt das Weiterwirken antisemitischer und rassistischer Vorurteile. Deswegen bleibt das eine dauernde Aufgabe für Demokraten, sich dieser Herausforderung zu stellen. Und im übrigen, Herr Hohmann ist ja immer noch im Parlament. Der hat als einzelner Abgeordneter das Recht, zu jedem Thema zu reden. Wir werden also noch weiter mit ihm beschäftigt sein.
Gehm: Stichwort Holocaust, Herr Thierse. Sie haben in der letzten Woche nach der Entscheidung des Kuratoriums, das die Firma DEGUSSA am Bau des Mahnmals beteiligt bleibt, davon gesprochen, ein beinahe klassisches Dilemma sei gelöst worden. Sind Sie zuversichtlich, dass diese Entscheidung auch Bestand hat und nicht zerredet wird jetzt im Nachhinein?
Thierse: Dass über dieses Denkmal diskutiert wird, das gehört dazu. Selbst diese Debatte – emotional, aber auch rational – ist nun Teil des Denkmalprozesses geworden. Wir wollten doch nicht mit dem Mahnmal einen Schlussstrich ziehen, sondern es soll Anlass, Gegenstand auch von Erinnerung und von Auseinandersetzung sein. Das ist passiert, und wir sollten uns nicht darüber wundern, dass die Vergangenheit immer wieder in unserer Gegenwart hineinragt. Es war doch die Idee auch dieses Denkmals, dass dieses Deutschland von heute mit seiner Vorgeschichte dieses Denkmal baut, und dass zu dieser Vorgeschichte auch das industrialisierte Verbrechen gehört, an dem deutsche Firmen beteiligt waren. Und dass diese ehemaligen Firmen, die an den Verbrechen beteiligt waren, Nachfolgefirmen haben, die Teil der heutigen Gesellschaft sind, das ist uns deutlich geworden. Sie auszuschließen, wäre gewissermaßen ein Widerspruch gewesen zu dem inneren Anliegen dieses Denkmals. Dass Bürger dieses Landes, zumal jüdische Überlebende des Shoah damit ein großes emotionales Problem haben, davor muss man allen Respekt haben. Aber mein Eindruck war, dass sowohl die öffentliche Debatte und erst recht die beiden Debatten im Kuratorium der Stiftung für dieses Denkmal, dass sie voller Respekt, voller Fairness, voller Ernsthaftigkeit war.
Gehm: Last but not least, Herr Thierse, ein anderes deutsches Thema. Auf unserer Bewerbung für die Olympischen Spiele ruht wohl kein Segen. Vor Jahren ist Berlin abgemeiert worden, der Bewerber Leipzig gerät schon vor der Zielgeraden ins Schlingern. Was wäre die größere Blamage: Ein Rückzug oder vom IOC ausgeschlossen zu werden?
Thierse: Zunächst muss ich sagen: Es ist nicht so wirklich überraschend, dass auch in Leipzig Fehler gemacht worden sind. Wir wissen nicht, was in den anderen Bewerberstädten los ist, in Paris oder New York. Ich unterstelle, da dort auch Menschen am Werke sind, werden Fehler gemacht – Ungeschicklichkeiten bis hin zum Unangenehmen. Das klingt jetzt vielleicht etwas weise, aber man muss das zunächst einmal feststellen. Und ich wünsche mir sehr, dass nicht die Hauptarbeit jetzt darin besteht, dass alle unterwegs sind, noch den letzten kleinen Fehler zu finden. Dieses Versagen, diese falsche Entscheidung – da wird man immer fündig werden. Bei jeder großen Institution, bei jedem großen Projekt ist das so. Ich wünsche mir, dass dieses Land, die Politik, aber vor allem auch der Sport mit seinen Organisationen sich nun mit Leidenschaft hinter diese Bewerbung stellt. Wenn man dann nicht erfolgreich ist, wenn andere vorgezogen werden, ist das ein normaler sportlicher Vorgang. Im Wettbewerb kann man auch verlieren. Aber wenn man vorher am Werke ist, alles zu tun, damit diese Bewerbung überhaupt nicht in die Nähe einer Chance kommt, dann würde ich das für ziemlich traurig halten.