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Parteienschelte

Gabor Steingart, ehemals Chef des Berliner "Spiegel"-Büros und jetziger Korrespondent des Magazins in Washington, zeigt sich enttäuscht von den politischen Parteien. Die Wähler würden sich von ihnen abwenden, weil sie sich vom Volk entfernt hätten. Ändern, so glaubt er, könne man an den Zuständen nur etwas durch Wahlenthaltung. Nur so könnte die Demokratie erneuert werden, schreibt Steingart in seinem Buch "Die Machtfrage".

Von Rainer Burchardt |
    Nach der Lektüre dieses für Depressive ziemlich ungeeigneten Buches möchte man mit Erich Kästner fragen, wo denn wohl das Positive bleibe. Und vor der Lektüre wäre die Warnung geeignet: "Über Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie bei der APO nach. Denn Gabor Steingart, ehemals Chef des Berliner "Spiegel"-Büros und jetziger Korrespondent des Magazins in Washington, argumentiert und polemisiert sich und andere ganz bewusst in die Position des mosernden Außenseiters, in diesem Fall in die Partei der Nichtwähler hinein. Gut begründet natürlich und alles andere als unpolitisch. Sein Fazit:

    "Unsere Demokratie ist nicht durch innere oder äußere Feinde bedroht, sondern durch Erschlaffung. Ich kündige den politischen Parteien die Gefolgschaft, weil ich von der Politik deutlich mehr erwarte - mehr Ernsthaftigkeit, mehr Anstrengung, mehr Ehrgeiz. Das althergebrachte Parteiensystem scheint mir nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems zu sein. Manchmal frage ich mich: Lebt ihr eigentlich noch? Und wenn ja, in welcher Welt? Ich votiere nicht für die Verlängerung des Parteienstaats, sondern für seine Erneuerung. Über die Details dieser Erneuerung, auch das sagt meine Botschaft, muss geredet werden - nicht nur unter den Parteien, sondern mit mir, den ihr abschätzig Nichtwähler nennt."

    Und so etwas sagt ein politischer Journalist, einer der Meinungsführer der ersten Jahre der Berliner Republik, einer, der es besser wissen müsste. Doch Steingart hat, wie er zuvor ausführt, vermeintlich gute Gründe für seine nicht nur auf den ersten Blick ziemlich destruktive Meinung. Auf den Punkt gebracht: Er will Schluss machen, mit dem laschen Kompromisslertum, mit den Lauen und Feigen in der Machtzentrale. Und ganz gewiss spielt ihm dabei die Alltagsfrustration der Großen Koalition in die Hände. Steingart, der anno 2005 zu einer kleinen aber mächtigen Gruppe politischer Publizisten gehörte, die in ihren Medien die Ablösung von Rot-Grün im Allgemeinen und Gerhard Schröder und Joschka Fischer im Besonderen betrieben hatte, Steingart geht jetzt vor allem mit Angela Merkel hart ins Gericht.

    "Die Gelegenheitskonservative Merkel ist drauf und dran, der CDU das Besondere und dem Parteinsystem das Andere zu nehmen. Die CDU ist heute nicht mehr die Alternative zur SPD, sondern eine Ergänzung zu ihr. Vor allem in der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik ist kaum noch Verschieden-Sein zu erkennen. In der Finanzkrise fiel Merkel durch eine Politik der fahrigen Hand auf. Jeder wächst mit seinen Herausforderungen, sagt der Volksmund. In ihrem Fall war das anders. Merkel schrumpfte."

    Merkels Herausforderer Frank Walter Steinmeier ist dem Autor nur ein paar unbedeutende Randbemerkungen wert. Vielmehr attestiert Steingart den Parteien eine lähmende Lethargie, mehr Verwalter als Gestalter zu sein, mehr zu reagieren als zu regieren. Und das Wahlvolk verhalte sich entsprechend:

    "Alle verfügbaren Messinstrumente melden heute den Verlust demokratischer Leidenschaft. Die schweigende Mehrheit des Volkes hat sich von den Parteien abgewandt, weil diese sich vom Volk entfernt haben."

    Man sei einander gleichgültig, steigende Wahlenthaltung und zurückgehende Mitgliederzahlen seien schlagende Beweise für diese These.

    Selbst das Grundgesetz findet kaum Gnade in den Augen des Autors. Es ist für ihn schlicht ein Geburtsfehler der neuen deutschen Demokratie nach dem Zweiten Weltkrieg, weil es den Parteien zu viel Macht zuschanze.

    "Die Verfassung bestärkt sie in der Grundhaltung, das Volk möglichst wenig zu beteiligen. Politik ist bei uns Sache der Politiker. Das Volk soll nach Möglichkeit die Finger davon lassen. Das ist der Geist des Grundgesetzes. Demokratie ja - aber bitte nicht zu viel davon."

    Ganz abgesehen von der ziemlich einseitigen, aber nicht unberechtigten Polemik gegen den von den Parteien widerrechtlich aus der Verfassung hergeleiteten Exklusivanspruch für die politische Meinungsbildung, stellt sich spätestens hier dem geneigten Leser die Frage, und wie bitte sehr soll dies durch Wahlenthaltung geändert werden? Fast naiv anmutend, verspricht sich Steingart von einer massenhaften Wahlenthaltung ein konstruktives Signal für die Parteien,

    "Die Parteien wären gut beraten, die massenhafte Wahlenthaltung als Gesprächsaufforderung und nicht als aggressiven Akt gegen sich zu verstehen. Sie müssen für sich die zentrale Erkenntnis annehmen: Die Nichtwähler wollen die Demokratie erneuern, nicht abstrafen."

    Deshalb müsse die virtuelle Partei der Nichtwähler die stärkste Gruppierung werden. Und die etablierten Parteien müssten, so Steingart, Abschied nehmen von den undemokratischen Listenplatzierungen, das Leistungsprinzip für Abgeordnete einführen, die Besetzung des Bundespräsidialamtes sollte durch Direktwahl erfolgen, die Verfassung müsste reformiert werden, der Parteienstaat abgeschafft und mehr direkte Demokratie eingeführt werden.

    Eine fraglos interessante und bisweilen auch gleichermaßen lehrreiche wie nachdenklich stimmenden Lektüre. Steingart legt durchaus seinen Finger in einige offene und offenbare Wunden unseres politischen Systems. Wie ein Heilungsprozess indes von Nichtwählern bewirkt werden soll, das bleibt ebenso im Ungefähren wie die gegenwärtige Politik der Großen Koalition. Und so verharrt er denn, wie der Buchtitel besagt, lediglich bei einigen Ansichten eines Nichtwählers. Für einen politischen Journalisten ein mutiges, aber auch merkwürdiges Bekenntnis.