Mit rund 90 Minuten Verspätung konnte sie endlich beginnen, den Parteitag zu eröffnen, Annalena Baerbock, neben Robert Habeck die Co-Vorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen.
Die Organisatoren hatten alle Hände voll zu tun, technische Probleme zu beseitigen, was auch kein Wunder ist, denn noch nie hat eine Bundesdelegiertenkonferenz so wie jetzt komplett digital stattgefunden. Die ersten zweieinhalb Stunden seien "eine ziemliche Zumutung" gewesen, sagt der langjährige Grünen-Abgeordnete Hans-Christian Ströbele. Auch die Rede von Annalena Baerbock sei "etwas seltsam gewesen". Inhaltlich habe sie strittigen Themen in den Grünen überhaupt nicht Stellung genommen. "Darüber muss man sich unterhalten, und da muss man dann auch einen Beschluss fassen, wie denn die Mehrheit das sieht."
Das Interview im Wortlaut:
Dirk-Oliver Heckmann: Sie haben ja an unzähligen Parteitagen teilgenommen in Ihrem aktivpolitischen Leben. Wenn Sie jetzt den diesjährigen verfolgen, was geht Ihnen da durch den Kopf?
Hans-Christian Ströbele: Na, das war gestern die ersten zweieinhalb Stunden schon eine ziemliche Zumutung. Ich musste immer darum kämpfen, nicht einzuschlafen. Da wurden unendlich viele Anträge behandelt, die überhaupt nicht strittig waren, und alles musste aber penibel genau abgestimmt werden – da müsste ein besseres Verfahren gefunden werden. Als es dann inhaltlich wurde, wurde es natürlich auch viel interessanter, und auch die Rede von Annalena Baerbock hat einen gewissen Punkt gesetzt, obwohl man ganz deutlich merkte – das ist ja gerade in der Kommentierung auch schon klar geworden –, dass die Umstände schon sehr verhindert haben, dass ihr wahres Können zum Vorschein kam. Also da alleine auf so einer kleinen Bühne ins Dunkle reinzureden, das ist nicht jedermanns Sache. Ich bin froh, dass ich nicht an ihrer Stelle gewesen bin.
Baerbock-Rede - "Es war schon ein bisschen seltsam"
Heckmann: Ist nicht jedermanns Sache, in der Tat, dennoch hätte sie es besser machen können?
Ströbele: Ach, wissen Sie, das kann man immer sagen. Ich hätte vielleicht nicht so dieses Format, dass sie da steht oder sogar ein bisschen rumläuft auf dem Podium ganz alleine, gewählt, sondern dass sie sich irgendwo hinsetzt oder vor einem Rednerpult steht. Es war schon ein bisschen seltsam.
Heckmann: War ein bisschen seltsam, da sind Sie sicherlich nicht der Einzige, Herr Ströbele, der diesen Eindruck hatte, aber es sind natürlich auch ungewöhnliche Umstände und Bedingungen, so wie dieser Parteitag jetzt stattfindet. Die Parteitage der Grünen waren ja immer bekannt für Unberechenbarkeiten und leidenschaftliche Debatten. Annalena Baerbock, um jetzt mal ins Inhaltliche reinzugehen, hat bei ihrer Rede gestern so ein bisschen den Eindruck gemacht, auf mich zumindest, dass man möglichst viele Ecken und Kanten wegschleifen wollte, dass man möglichst anschlussfähig an möglichst viele Menschen sein wollte. Verlieren die Grünen da gerade so ein bisschen an Profil?
Ströbele: Ich glaube schon. Ihre Wahrnehmung ist richtig, sie hat ja auch zu strittigen Themen in den Grünen überhaupt nicht Stellung genommen. Es gibt ja Diskussionen, beispielsweise über die Rolle der NATO, es gibt jetzt die Äußerung von Katrin Göring-Eckardt, dass die Grünen keine Friedenspartei sind oder keine mehr sind. Darüber muss man sich unterhalten, und da muss man dann auch einen Beschluss fassen, wie denn die Mehrheit das sieht. Zu solchen kritischen Themen hat sie geschwiegen, hat praktisch nichts gesagt, obwohl das ja ihr Gebiet ist, Außenpolitik.
"Konkurrenz zwingt die Grünen ihre Themen zu überprüfen"
Heckmann: Wie erklären Sie sich das, dass dann solche Themen ausgespart werden? Ist das so der Blick auf mögliche Regierungsbeteiligung, dass man sich da nichts verbauen möchte?
Ströbele: Ganz richtig, das ist ein Schielen auf die Regierungsbeteiligung. Ich glaube, das würde sie auch, wenn Sie jetzt im Gespräch wäre, auch so sehen und so schreiben. Aber das ist natürlich für die Partei nicht gut, wenn man intern Sachen diskutiert, die sehr, sehr weitgehend sind, und ans Mark der Partei geht und wenn das vielleicht jetzt noch heute Nachmittag oder abends kopiert wird, aber wenn das in solchen Reden gar nicht vorkommt.
Heckmann: Vielen sind die Grünen ja nicht mehr grün genug. Ich erwähne jetzt mal den Autobahnbau, diesen umstrittenen in Hessen beispielsweise, wo es ja Widerstand gibt und auch die Grünen dort in die Kritik geraten. Auch in Sachen Klimapolitik gibt’s Diskussionen, jetzt der Kurs des Bundesvorstands ist vielen nicht strikt genug, es entsteht Konkurrenz auch für die Grünen auf dem Gebiet der Klimapolitik. Wie gefährlich ist diese Entwicklung für die Partei?
Ströbele: Wissen Sie, ich finde, die Konkurrenz ist gut, weil einmal zwingt sie die Grünen tatsächlich, ihre Aussagen, ihre Inhalte zu überprüfen und zu sagen, müssen wir da nicht doch was nachbessern und müssen wir das nicht doch ein bisschen schärfer ausdrücken, und natürlich, müssen wir nicht das auch machen. Nehmen Sie zum Beispiel das Tempolimit auf Autobahnen: Das kann man am Tag nach der Wahl oder nach den Regierungsverhandlungen praktisch umsetzen, dann braucht man nicht lange Zeit, da werden nur Schilder geklebt. Aber dazu jetzt eine Meinung zu sagen, machen wir das oder machen wir das erst nach fünf Jahren oder nach zwei Jahren, da braucht man eigentlich eine Antwort. Und für die andere Seite, also für die, die nicht zufrieden sind mit der Politik der Grünen, ist es auch ein guter Grund, sich jetzt mal hinzusetzen und zu sagen, wie soll denn dann unsere Klimapolitik ganz konkret aussehen. Einfach zu sagen, das Klimaziel muss eingehalten werden – wie wird das umgesetzt, wie wird das konkret gemacht –, das möchte ich …
Prinzipien noch nicht geopfert
Heckmann: Herr Ströbele, wenn ich da kurz einhaken darf: Ich verstehe ich Sie richtig, dass Sie den Eindruck haben, dass die derzeitige Parteiführung grüne Grundsatzüberlegungen, Prinzipien opfert dem Machtwillen.
Ströbele: Nein, die sind ja noch nicht geopfert, jetzt sind ja erst mal Ziele benannt. Es kommt natürlich entscheidend darauf an, was kann da in den Regierungsverhandlungen vereinbart werden und vor allen Dingen, noch viel wichtiger, was wird umgesetzt. Daran muss man das messen.
Heckmann: Die Grünen, Herr Ströbele, halten sich ja alle Machtoptionen offen, angesichts der Mehrheitsverhältnisse in Umfragen ist das ja vielleicht nachvollziehbar, seit Monaten gibt es eine Mehrheit für Schwarz-Grün. Ist die Zeit dafür reif?
Ströbele: Ich fürchte ja. Ich bin da nicht von begeistert und war schon bei den letzten Koalitionsverhandlungen mit der CDU sehr, sehr skeptisch, ob das richtig ist, und war dann in gewisser Weise sogar froh, dass es nicht geklappt hat, jedenfalls nicht auf der Basis, auf der man damals war in den Koalitionsvereinbarungen. Man muss da sehr, sehr vorsichtig sein, aber es kommt ja auch drauf an, wer in der Union als Partner oder Gegner dann da sitzt, und mit wem was ausgehandelt werden muss, das wissen wir ja bisher nicht.
Heckmann: Die Frage ist ja auch, was ist die Alternative, Rot-Grün oder Rot-Rot-Grün hat ja keine Machtoptionen.
Ströbele: Ja, das ist die zweite entscheidende Frage. Da könnte sich noch was ändern, sowohl bei den Grünen nach oben als auch vielleicht bei der SPD ein bisschen, dann sähe das anders aus, aber das ist jetzt alles Spekulation.
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