Einen ganzen Tag lang hat es gedauert, bis Klinik und Behörden ihren Widerstand aufgegeben und dem Wunsch der Familie Nawalny entsprochen haben, den wohl bekanntesten russischen Oppositionspolitiker zur Behandlung außer Landes in die Berliner Charité zu bringen.
Die Vertrauten von Nawalny vermuten einen Giftanschlag, Ärzte in Omsk wollen dafür bisher keine Anzeichen gefunden haben. Seit heute Morgen ist Alexej Nawalny an Bord eines Spezialflugzeuges auf dem Weg nach Deutschland.
Mit dem Grünen-Außenpolitiker Jürgen Trittin, Mitglied im Auswärtigen Ausschuss des Bundestages und in der deutsch-russischen Parlamentariergruppe, haben wir darüber gesprochen, welche Verantwortung der russische Präsident Wladimir Putin trägt und wie Deutschland auf den Fall Nawalny reagieren soll.
Befund unabhängiger Ärzte ist wichtig
Jasper Barenberg: Herr Trittin, nach diesem langen Hin und Her darf Alexej Nawalny jetzt doch zur Behandlung nach Deutschland reisen. War das nach Ihrer Einschätzung, wie ja gesagt wird, ausschließlich eine medizinische Entscheidung?
Jürgen Trittin: Nein, offensichtlich hat der internationale Druck, die internationale Solidarität hier tatsächlich geholfen, Alexander Nawalny jetzt die Behandlung zukommen zu lassen, die er sich wünscht und die angesichts der Schwere der Bedrohung seines Lebens auch nötig ist.
Barenberg: Der Kreis um Nawalny vermutet ja auch bei dieser letzten Verzögerung eine bewusste Strategie, möglicherweise um zu verhindern, dass man ein Gift noch nachweisen kann. Ist das für Sie plausibel?
Trittin: Ich bin kein Mediziner, man wird ganz unterschiedliche Motive haben. Es gibt eine grausame Reihe von Giftanschlägen auf Oppositionelle, die später erschossene Politkowskaja, der Mitstreiter des ebenfalls erschossenen Boris Nemzow, sie alle sind Opfer von solchen Anschlägen geworden. Insofern ist es gut, wenn jetzt von unabhängigen Ärzten ein Befund gemacht wird, dann muss man auch nicht mehr spekulieren.
"Menschen wie Nawalny sind Russland ein Dorn im Auge"
Barenberg: Es ist unklar, welche Rolle der Kreml und Präsident Putin in diesem Fall spielen. Spielt das überhaupt eine Rolle, wenn es um die Frage geht, welche Verantwortung Putin für das Schicksal von Alexej Nawalny hat?
Trittin: Ich glaube, dass der russische Staat eine Verantwortung dafür hat, was mit Menschen passiert, die sich in einer Weise engagieren, die ihm vielleicht nicht gefallen, die aber ja in vielen Fällen Wichtiges aufgedeckt haben. Es gibt natürlich in Russland eine Kleptokratie, es gibt Menschen, die mit Korruption und Ähnlichem unglaubliche Reichtümer angehäuft haben. Und Nawalny hat ja mit seinen Recherchen unter anderem auch zu dem ehemaligen Präsidenten und Ministerpräsidenten Medwedew erheblich dazu beigetragen, ein System zu enthüllen, wie mit politischer Macht auch der Weg hin zu einer Bereicherung geschehen ist. Ähnliches hat er nun mit dem amtierenden Ministerpräsidenten gemacht. Solche Menschen sind Russland, aber sind natürlich auch den Individuen, und das sind mächtige Individuen, ein Dorn im Auge.
Barenberg: Jetzt haben Sie aber noch nicht gesagt, welchen Teil der Verantwortung Putin also trägt?
Trittin: Ich bin der festen Überzeugung, dass ein politisches System solche Menschen schützen muss und genau dieser Schutz ist nicht gelungen.
"Wir dürfen nicht einfach weggucken"
Barenberg: Sie haben angesprochen, dass wir seit gestern ja auch über die vielen, vielen ganz ähnlich gelagerten Fälle aus der Vergangenheit sprechen. Welche politischen Schlussfolgerungen muss man, müssen Sie in Ihren Augen aus diesem Muster, aus diesem inzwischen bekannten Muster ziehen?
Trittin: Ich glaube, dass man sehr, sehr ernst mit Russland darüber sprechen muss, dass diese Praktiken von uns nicht akzeptiert werden. Und die Aufregung, die Russland an den Tag gelegt hat infolge beispielsweise des Auftragsmords im Berliner Tiergarten, diese Aufregung kann ich gar nicht nachvollziehen, denn auch dies zeigt: Offensichtlich sind entweder Teile des Apparates nicht unter Kontrolle der Regierung Putin oder so etwas geschieht mit Wissen, Willen der Regierung Putin. Und das ist etwas, was wir an dieser Stelle nicht akzeptieren können und wo wir - bei aller Notwendigkeit, mit Russland über viele Fragen vom Iran-Abkommen und Ähnlichem zur Verständigung zu kommen - nicht einfach weggucken dürfen.
Barenberg: Jetzt hat Deutschland, hat die Bundeskanzlerin persönlich ja die medizinische Hilfe angeboten, sie hat Aufklärung gefordert, wie Sie das natürlich auch tun in diesem Fall. Welche Verantwortung übernimmt die Bundesregierung auch politisch für das weitere Schicksal von Nawalny?
Trittin: Ich glaube, wir haben als Bundesrepublik Deutschland, die Bundesregierung, die Regierung von Berlin, die sich ja auch sehr, sehr schnell für [unverständliches Wort, Anm. d. Red. ] ausgesprochen hat, gezeigt, dass wir es ernst meinen mit dem Schutz von Menschen, die hier in dieser Weise attackiert werden. Wie gesagt, ich bin froh, die überwiegend gute Nachricht ist, dass Nawalny jetzt in einem Flugzeug liegt, das Berlin ansteuert.
Mit Russland über gewaltfreie Lösung in Belarus sprechen
Barenberg: Das Ganze passiert ja in einer Zeit, in der es eine ganze Reihe von Konflikten mit Russland gibt. Auch in Deutschland gibt es Stimmen, die immer wieder sagen, man sollte mehr Vertrauen in die russische Regierung haben, wenn es um die Lösung solcher Konflikte geht. Nehmen wir den jüngsten, den Konflikt in Belarus, das weitere Schicksal dort und die Zukunft des Präsidenten Lukaschenko. Was lernen wir in dieser Hinsicht denn aus dem Fall Nawalny? Wie viel Vertrauen hat die russische Regierung verdient, so wie sie sich jetzt in diesem Fall verhalten hat?
Trittin: Da würde ich Lenin zitieren: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Anders gesagt, selbstverständlich wird man über die Frage einer Lösung dieses Systems in Belarus auch mit Russland sprechen müssen, aber man darf auch in solchen Gesprächen nicht naiv sein, man darf nicht so tun, als wenn Russland hier nicht auch eigene Interessen hätte, das gleiche Russland, was sich eine Nichteinmischung von außen in die belarussischen Verhältnisse verspricht, muss genau diese Nichteinmischung ebenfalls praktizieren. Wenn sie es nicht tun, dann muss man dennoch den Versuch machen, von ihnen einzufordern, den Beitrag zu leisten, der nötig ist, um in Belarus zu einer nicht gewaltsamen Lösung des Konflikts zu kommen.
Barenberg: Aber bei aller Skepsis, die ich bei Ihnen ja auch durchhöre, grundsätzlich sollte man, was Belarus etwa angeht, jetzt auch die nächste Zeit auf Zusammenarbeit mit Moskau setzen und nicht auf Konfrontation?
Trittin: Nein, man muss mit Moskau sprechen. Das ist etwas, was vor der Frage steht, Zusammenarbeit oder Konfrontation. Man muss sprechen, man muss klar sagen, was Europa wünscht. Europa wünscht, dass es in Belarus zu einer Lösung ohne Gewalt kommt, dass die nicht fair und frei verlaufenen Wahlen entsprechend überprüft werden und man dort zu einer Lösung kommt, die Belarus zu einer belarussischen Regierung führt, die tatsächlich die Zustimmung der Bevölkerung hat. Das ist die gemeinsame Verantwortung, die Europa und Russland haben, und an diese Verantwortung muss man Russland immer wieder erinnern.
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