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Pater Barnabe und seine Kinder

Sie haben kein Zuhause, kein Geld, keine Ausbildung und keine Perspektive. Etwa 50.000 Straßenkinder versuchen in der indischen Wirtschaftsmetropole Bombay zu überleben, als Bettler, Schuhputzer oder Autowäscher. Zwei Drittel von ihnen nehmen Drogen, schnüffeln Lösungsmittel oder konsumieren Heroin. Seit 1987 ist Pater Barnabe mit den Projekten der Salesianer Don Boscos eine feste Anlaufstelle für die Kinder. Die katholischen Ordensbrüder bieten Beratung und Unterkunft, Ausbildung und Behandlung, und lassen die Kinder einmal Kinder sein, sie könne einmal spielen statt schuften . Seit einigen Jahren gibt es am Rande von Bombay ein Zentrum für Entziehungskuren. Fast 1000 Jungen haben das Programm bislang durchlaufen, deutlich mehr als die Hälfte ist danach clean geblieben. Aus Bombay berichtet Christoph Heinzle.

Von Christoph Heinzle |
    In die eine Richtung geht es hinaus in die Vororte des Millionenmolochs Bombay. In die andere hinein ins Herz der indischen Wirtschafts- und Finanzmetropole. Der Bahnhof von Dadar ist Ort von Ankunft und Abfahrt. Für Dutzende Kinder ist Dadar Lebensmittelpunkt. Sie arbeiten, schlafen und spielen auf, neben und zwischen den Bahnsteigen.

    Jeden Abend verkriechen sich die Straßenkinder zum Schlafen in eine der dunklen, stinkenden Ecken auf dem Bahnhof. Und jeden Abend kommen Polizisten und Bahnangestellte, um die unerwünschten Gäste zu vertreiben, erzählen sie. Die Kinder werden beschimpft, geschlagen, verhaftet. Immer wieder landen sie im Gefängnis. Und immer wieder kommen sie zurück nach Dadar.

    Die Kinder von Dadar haben viel hinter sich. Alle haben erschütternde, berührende Geschichten zu erzählen. Von Vernachlässigung und Missbrauch, von Hunger und Vertreibung, von Armut und Familienkrisen. Eines der Kinder von Dadar ist der zwölfjährige Santosh.

    " Meine Stiefmutter schlug mich immer. Sie hat meine Hand verletzt und dann scharfe Chilis draufgelegt. Eines Tages rannte ich dann weg aus meinem Dorf. Beim Schlafen fiel ich aus dem Zug und verletzte mich. Ich landete für zwei Monate im Gefängnis. Meine Stiefmutter wollte mich danach nicht wieder haben. So musste ich weiter im Gefängnis bleiben. Die Polizei gab mir schließlich 10 Rupien und ich fuhr mit dem Bus nach Bombay."

    Viele Kinder sind sichtlich zugedröhnt und weggetreten. Die meisten hier schnüffeln Lösungsmittel für kurze Ausflüge aus der harten Realität ihres Alltags. Um sich die Sucht leisten zu können, machen die meisten Drecksarbeit. Sie sammeln Müll und Lumpen, helfen bei großen Hochzeitsfeiern oder putzen in Zügen. Santosh verdient etwa einen Euro täglich.

    " Zum Geldverdienen mache ich Züge sauber. Ich ziehe mein T-Shirt aus, wische damit unter den Füßen der Fahrgäste und den Sitzen. Dann bettle ich und bekomme ein paar Rupien Trinkgeld."

    Jeden Tag gehen Sozialarbeiter von "Shelter Don Bosco" auf die Straßenkinder in Dadar zu. Die Mitarbeiter des Straßenkinderprojekts des Salesianerordens wollen zunächst Vertrauen aufbauen. Im Zentrum von "Shelter Don Bosco" können die Kinder reden, spielen, singen. Hier lernen sie ein bisschen zählen, lesen, schreiben. Zwanglos, spielerisch, unverbindlich. Für die meisten Kinder die einzige Erziehung überhaupt. Und der einzige Weg zu ein wenig Anerkennung und Selbstvertrauen. So erzählt Santosh.

    " Weil ich gut lernte, bekam ich einen Kamm, einen Geldbeutel und eine Seife von der Lehrerin. Das machte mich stolz, gab mir ein gutes Gefühl. Mit der Seife habe ich mich gewaschen, den Kamm verschenkte ich, den Geldbeutel habe ich immer noch."


    In der Anlaufstelle des Projekts in Dadar bekommen die Kinder auch Informationen über den Weg aus der Sucht. Ohne Druck, wie Koordinatorin Selvi Philipp betont. Es dauert bis die Kinder Vertrauen fassen. Sie lassen sich nicht drängen Und die Kinder sollen sich aus freiem Willen für ein anderes Leben entscheiden.

    " Was auch immer die Kinder den Tag über verdienen, geben sie für ihre Sucht aus. Wir bieten den Abhängigen Aufklärung an. Wir schildern die negativen Auswirkungen der Sucht und erzählen, was sie ohne Sucht erreichen könnten, welche Fähigkeiten in Ihnen stecken. Nach dieser Vorbereitungsphase schicken wir die Kinder in unser Zentrum für Drogenentzug."

    Gästen in Lonavla schallt ein fröhliches Willkommen entgegen. In dem Ausflugsort, zwei Stunden von Bombay entfernt, hat Pater Barnabe ein Heim für Drogenaussteiger aufgebaut. Es ist das Herz des Entzugsprogramms von "Shelter Don Bosco". Seit seiner Jugend habe er etwas mit armen, drogenabhängigen Straßenkindern machen wollen, sagt der 42-jährige Salesianer. "Ich sehe sie als meine Kinder."


    Stolz zeigen die Straßenkinder in Lonavla ihr Heim. Etwa 50 Jungen versuchen hier einen Neuanfang nach einer verkorksten Kindheit. Für den 17-jährigen Joseph hieß Kindheit Leben im Slum, Weglaufen von zuhause, Drogen, Familienprobleme. Als Straßenkind auf sich allein gestellt hörte Joseph von "Shelter Don Bosco" und vom Angebot, in einem Heim leben zu können, zur Schule zu gehen. Doch es dauerte, bis er Vertrauen fasste.

    " Hier sagte man mir, ich könnte bleiben, wenn ich mit den Drogen aufhören würde. Ich glaubte das zuerst nicht und dachte, es würde wie früher in dem anderen Heim: sie nehmen mich mit, schlagen mich, sperren mich ein und zwingen mich zu arbeiten."

    Die Drogen seien ein zentrales, aber nicht das einzige Problem der Straßenkinder, meint Pater Barnabe.

    " Es geht nicht nur darum, von den Drogen loszukommen, sondern von der Straße wegzukommen. Die Gruppe gewährt Schutz vor Missbrauch oder Raub. Doch damit gehen Drogen, Glücksspiel und sexuelle Freizügigkeit einher. Unser Programm hat deshalb zum Ziel, die Kinder von der Straße zu holen."

    Der Entzug für Pater Barnabes Kinder beginnt in einem kleinen Krankenhaus in Lonavla. Von Sozialarbeitern und Ärzten betreut durchleben sie hier die ersten Tage ohne Drogen. Joseph war ein besonders schwieriger Fall.
    " Ich musste mich übergeben, hatte Durchfall, konnte nicht schlafen. Ich spürte ein Brennen im Hals und in der Lunge. Ich konnte nichts essen. Zwei Monate war ich im Krankenhaus. Sie gaben mir Bluttransfusionen und schließlich kam ich von den Drogen los."

    Morgendliche Zeitungslektüre im Therapiezentrum. Teil eines prall gefüllten Tages. Die Kinder basteln, bekommen Lektionen in Körperhygiene oder einfachen Schul-Unterricht. In einer Werkstatt lernen sie die Berufe des Tischlers, Elektrikers und Schlossers kennen.

    In Lonavla gibt es viel Raum für Spiel und Spaß. Das Gemeinschaftsgefühl soll den Straßenkindern über ihre Vergangenheit hinweghelfen. Mut machen für den Neuanfang.

    " Vor allem geht es hier darum, die seelischen Brüche der Kinder zu reparieren. Sie sollen Selbstvertrauen bekommen und das Gefühl, sie können etwas. Ich versuche ihnen zu vermitteln: Ihr seid nicht die Lumpen, die ihr auf den Straßen aufsammelt. Ihr seid etwas wert. Ihr werdet von der Gesellschaft geschätzt. Und ihr könnt etwas für euer eigenes Leben tun.
    "

    Mittagessen in Wadala, dem zentralen Heim von "Shelter Don Bosco" im Süden Bombays. Hier hat das Projekt des Salesianerordens vor 20 Jahren begonnen. Die meisten der mehr als 150 inzwischen drogenfreien Straßenkinder in Wadala gehen zur Schule oder machen eine Ausbildung. Anfangs bot der Orden den Straßenkindern vor allem Essen und medizinische Betreuung. Doch die meisten lebten weiter auf der Straße, so Pater Barnabe:

    " Die früheren Leiter des Heims sagten, diese Jungen haben ihr Seelenheil gefunden, lass sie weiter arbeiten, wir brauchen für sie nur ein sicheres Umfeld. Ich dachte dann: wenn es mein Kind wäre, warum sollte ich es so lassen. Ich würde wollen, dass mein Kind etwas wird im Leben."