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Paterson

Die "Katastrophe" kam aus heiterem Himmel. Im November 1922 traf sie die amerikanische Literaturwelt so heftig und unerwartet, daß sich Zeitzeugen später an die Vernichtungsgewalt einer Atombombe erinnert fühlten. Verantwortlich für dieses Elementarereignis war die New Yorker Literaturzeitschrift "The Dial", die in jenem November ein langes, in Form und Inhalt schockierendes Gedicht veröffentlichte. Der in den USA noch weitgehend unbekannte Verfasser dieses Poems hieß Thomas Stearns Eliot, der Titel des nachgerade epochalen Gedichts war "The Waste Land". In die allgemeine Aufregung, die "The Waste Land" damals auslöste, mischten sich auch besorgte und entrüstete Stimmen.

Michael Braun | 10.01.1999
    Der wohl empörteste Kritiker, der mit Eliots Gedicht eine Katastrophe für die amerikanische Literatur heraufziehen sah, war sein literarischer Antipode William Carlos Williams, der Dichterarzt aus dem Provinznest Rutherford in New Jersey. In einigen kleinen Gedichtbänden hatte Williams bis dahin die Grundrisse einer Poetik des amerikanischen Alltags entworfen, die sich an der gesprochenen Sprache und an typisch amerikanischen Traditionen und Lebenswelten orientieren sollte. T.S. Eliot dagegen, so schimpfte Williams später in seiner Autobiographie, stieß die amerikanische Lyrik genau in dem Moment in den europäischen Akademismus zurück, als sie kurz davor war, sich lokal zu verwurzeln und ein neues Verständnis von poetischem Regionalismus zu entwickeln. Spätestens seit dem "waste land"-Schock trug sich Williams daher mit dem Gedanken, das Seinige zu tun, um mit einem poetischen Gegenentwurf die "Katastrophe" abzuwenden.

    In dieser Situation literarischen Umbruchs entsteht der Plan zu dem langen, weitverzweigten Gedicht "Paterson", in dem Williams die Geschichte und Mythologie der amerikanischen Zivilisation neu erschaffen wollte. Schon in seinem frühen, 1916 verfaßten Gedicht "The Wanderer" finden wir die Fundamente für dieses Konzept einer heimatverwurzelten amerikanischen Poesie. Hauptakteure in diesem Gedicht sind seine Großmutter und ein Fluß: der Passaic River im Nordosten von New Jersey. Der geographische Ursprung und Verlauf dieses Flusses, die geologischen Gegebenheiten und die historischen Anekdoten und Legenden, die sich um den Passaic River ranken, bilden schließlich das poetische Kraftzentrum von "Paterson".

    "Paterson", das ist zunächst ein ganz realer Ort, eine mittlere Industriestadt von etwa 150 000 Einwohnern im Nordosten von New Jersey. In seiner poetischen Imagination verwandelt Williams diese Provinzstadt zur Kernzone amerikanischen Lebens. Mit Paterson geographisch und mythisch eng verknüpft sind auch die einst berühmten Passaic Falls, die großen Wasserfälle, die in Williams’ Gedicht zum Schicksalstopos stilisiert werden. "Von Anfang an", schrieb Williams in einer späten autobiographischen Notiz, "stand für mich die Einteilung in vier Bücher fest, die dem Lauf des Flusses folgen sollten". In dem 1926 veröffentlichten Gedicht "Paterson: Der Wasserfall" skizziert Williams schon sehr genau die Umrisse seines langen Gedichts, dessen erster Teil freilich erst zwei Jahrzehnte später, 1946, veröffentlicht wurde.

    Paterson: Der Wasserfall

    Welche gemeinsame Sprache taugt, zu entwirrn? Der Fall, zu schnurgeraden Zeilen gekämmt durch die frontale Felslippe - setze da ein, mitten

    in den schneidenden Satz, den Neben- satz, prall bepackt!

    So beginnt das Vorläufer-Gedicht zu "Paterson": Mit ein paar Verszeilen, in denen die Sprache des Dichters mit der Struktur und dem wilden Toben und Tosen des Wasserfalls gleichgesetzt wird - ein metaphorisches Verfahren, das im späteren "Paterson"-Gedicht leitmotivisch wiederkehrt. Die ersten drei Verse tauchen auch wortwörtlich im "ersten Buch" von "Paterson" wieder auf. In der Art eines poetischen Exposés beschreibt das programmatische Gedicht "Paterson: Der Wasserfall" den Erkenntnisweg und die thematische und formale Struktur des geplanten Langgedichts:

    Das ist mein Plan. 4 Teile: Erstens die archaischen Personen des Stücks.

    Die Ewigkeit von Vogel und Busch bewahrt. Entwirrt das konfuse Strömen, gereiht zu sprechenden Zeilen! Klang

    mit Kraft vereint, der Kraft des Fallens von weit oben! Die wilde Stimme des hemdsärmeligen Evangelisten, ankämpfend: >Hört

    mich! Ich bin die Auferstehung und das Leben! < - so geht das Echo umher zwischen Barsch und Hecht, schlanken Aalen von Barbados, der Sargasso-

    See: die Küste arbeiten sie sich herauf zu dieser Fülle, Teiche und wilde Ströme - Drittens die alte Stadt: Alexander Hamilton hat sich von St. Croix heraufgearbeitet,

    von jener See! und einer tieferen, aus der er kam! und unversehens festgehalten von diesem starren Gedröhn, festgenagelt hier: die Felsen stumm

    aber das Wasser, dem Stein vermählt, beredt wenngleich gefroren: das Wasser, selbst wenn und wenngleich gefroren - das Wasser wispert noch und stöhnt -

    Und durch die spröde Luft gellt die Fabrikglocke im Dämmer; und unter Füßen knirscht Schnee. Viertens die heutige Stadt: ein

    gestaltloses Dröhnen. Der Katarakt und sein Krachen auseinandergebrochen - und, von all der Gelehrtheit innen getroffen, dröhnt es, das leere Ohr.

    Tatsächlich ist hier schon poetisch konzentriert, was dann später im epischen Großformat mit langem Atem entfaltet wird: Das erste Buch beginnt mit der Anrufung einer allegorischen Gestalt - des unsterblichen Riesen Mr. Paterson, der sein schlafendes Haupt an den Wasserfall schmiegt und in seinen Phantasmagorien die landschaftliche Umgebung und die Geschichte der Passaic Falls durchwandert. Im zweiten Buch taucht die Figur des geheimnisumwitterten Predigers auf, des Evangelisten, der eine große Predigt über Amerika hält. Das dritte Buch beschwört in litaneiartigen Sequenzen den schweifenden Geist des Dichters, seine ewige Suche nach Schönheit und Erlösung, daneben auch das zweite Generalthema des Gedichts, die Tragödie des ehelichen Zusammenlebens. Im vierten Buch schließlich wird die Geschichte der "alten Stadt" und des neuen, "gestaltlos dröhnenden" Paterson vergegenwärtigt. Als poetischer Glutkern und Zentralmetapher des Gedichts fungiert dabei der Wasserfall, beschworen als "Fall" und "Katarakt", der mit den Elementarbildern von "Fluß" und "Strom" die disparaten Einzelteile des Gedichts zusammenführt. Zu den geplanten vier Büchern, die zwischen 1946 und 1951 publiziert wurden, fügte Williams als Epilog noch ein fünftes Buch hinzu, das dann 1958 erschien. Daß sein Großgedicht "Paterson" wie alle anderen vergleichbaren Poeme, seien es nun Ezra Pounds "Cantos" oder Walt Whitmans "Grashalme", zum Unabschließbaren tendiert, zeigt die Tatsache, daß sich in Williams’ Nachlaß noch Aufzeichnungen für ein sechstes Buch fanden.

    Schon während der Arbeit am fünften "Paterson"-Buch war Williams lebensgefährlich erkrankt, von mehreren Schlaganfällen schwer gezeichnet. Als er im März 1963 im Alter von achtundsiebzig Jahren starb, wurde er in seiner Heimat schon längst als Erzvater der modernen amerikanischen Lyrik verehrt. In Deutschland schlief man einstweilen noch den Schlaf der Selbstgerechten. In Hugo Friedrichs erstmals 1956 erschienener kanonischer Studie über "die Struktur der modernen Lyrik" kommt der Name William Carlos Williams nicht vor. Es ist - einmal mehr - Hans Magnus Enzensberger zu verdanken, der 1961 mit einer ersten Übersetzung von Williams Gedichten und mit einem fulminanten Essay auf den Dichter nachhaltig aufmerksam gemacht hat. Danach begann man Williams und sein Werk allmählich wieder zu vergessen, woran auch die erste Gesamtübersetzung seines opus magnum "Paterson" im Jahr 1970 nichts änderte. Das amerikanische Dichterpaar Anselm und Josephine Hollo hatte damals für den Goverts Verlag eine Übertragung angefertigt, die sich mit der jetzt realisierten Neuübersetzung von Joachim Sartorius und Karin Graf durchaus messen kann.

    Als einziger deutscher Kritiker reagierte 1970 übrigens Karl Krolow auf das poetische Monument "Paterson". Krolows Beschreibung von "Paterson" als eines gattungsüberschreitenden "Montagetextes" trifft dabei sehr genau die formalen Eigenarten des Werks. Denn Williams hat zwischen die eigentlichen Versformen immer wieder Prosatexte der verschiedensten Art eingefügt: Briefe, Berichte aus Chroniken, geologische Tabellen und indianische Legenden. Auf deklamatorische Partien folgen in "Paterson" immer wieder deskriptive und registrierende Passagen, emphatische Anrufungen der Natur werden durch kühlen Dokumentarstil konterkariert. Karl Krolow sieht vor allem in diesem Montageverfahren die Modernität des Werks: "Zustande kam dabei ein vielstimmiges Opus, das man vergeblich einzuordnen versucht, weil es sich allen Klassifizierungen entzieht. Es hat als Ensemble etwas Überraschendes, Unberechenbares und dieses Unberechenbare war möglicherweise die Absicht von Williams, der damit das Außerordentliche des amerikanischen Alltags, den amerikanischen Kosmos durch einen literarischen ‘american way of life’ darstellen wollte."

    Krolows Fazit läßt sich unschwer in literaturkritischen Klartext übersetzen: William Carlos Williams’ "Paterson" ist nicht nur ein "unberechenbares", sondern auch, ganz entgegen den Intentionen des Autors, ein schwer zugängliches Werk. Während die Imagination des Dichters in den lyrischen Sequenzen assoziativ und sprunghaft arbeitet und den Leser ständig durch unterschiedlichste Vorstellungswelten jagt, wirkt der Text in seinen prosaischen Partien, insbesondere bei den eingeschobenen Briefen und Legenden stofflich viel konzentrierter. Hinzu kommt, daß gerade die einmontierten Briefe wunderbare Exempel poetologischer Unruhestiftung darstellen. Im zweiten Buch präsentiert Williams beispielsweise sehr ausführlich die Liebes- und Haßbriefe einer gekränkten Dichterin, die sich durch den berühmten Dichterarzt aus Rutherford mißverstanden und verschmäht fühlt. Im fünften Buch finden sich dann bewegende Briefe des Dichters Allen Ginsberg, die Williams eigenem poetischen Credo sehr nahe kommen, zumal auch Ginsberg das Hohe Lied von Paterson singt: "Ich stelle mir für mich eine Art neue Sprache vor - zumindest anders als das, was ich bisher geschrieben habe - neu insofern, als sie klare Aussagen treffen muß über die Tatsachen des Elends (...) und der Herrlichkeit auch, falls bei meinen subjektiven Wanderungen durch Paterson sich solche zeigt. Der Ort ist, wie ich sagte, der natürliche Lebensraum meiner Erinnerungen. (...) Ich sehe Elend (wie eine Flutwelle, die sich aus meiner Phantasie erhebt), vor allem aber die Herrlichkeit, die ich in mir trage, wie es alle freien Menschen tun."

    Über seine eigene neue Gedichtsprache gibt Williams gegen Ende des fünften Buches Auskunft: "Nun ja, ich würde sagen, Dichtung ist eine mit Gefühl aufgeladene Sprache. Es sind Worte, rhythmisch organisiert. (...) Ein Gedicht ist ein in sich geschlossenes Universum. (...) Wir Dichter müssen in einer Sprache reden, die nicht Englisch ist. Nämlich im amerikanischen Idiom. Es ist genauso ursprünglich wie Jazz."

    Elend und Herrlichkeit: Die beiden Pole einer auf Paterson konzentrierten Dichtung, wie sie der damals vierundzwanzigjährige Allen Ginsberg definierte, beschreiben auch den poetischen Spannungsbogen in Williams’ "Paterson"-Poem. Da sind auf der einen Seite die lyrischen Evokationen der Passaic Falls, die sich, illustriert durch Chroniken und Legenden von unerhörten Ereignissen am Wasserfall, zur poetischen Liebeserklärung an die wilde Schönheit der Landschaft ausweiten. Den Rühmungen der Natur-Herrlichkeit stehen allerdings Klagelieder gegenüber, poetische Artikulationen des Schmerzes über das, was Williams "divorce" beziehungsweise "Scheidung" und "separation", respektive "Trennung" nennt: Das zielt auf das "Elend" von Mann und Frau, auf ihre ewig scheiternden Versuche, sich in Leidenschaft zu vereinen und zum Liebespaar zusammenzuschließen. Will man den Selbststilisierungen in seiner Autobiographie Glauben schenken, so bevorzugte Williams im wirklichen Leben die Wonnen der Gewöhnlichkeit: Statt sich kräftezehrenden Ausschweifungen und den in Dichterkreisen üblichen außerehelichen Zerreißproben hinzugeben, verharrte er in unauffälliger Monogamie. Die langen poetischen Sequenzen in "Paterson", die von Entfremdung zwischen Mann und Frau oder dem "Eherätsel" handeln, legen da aber eine ganz andere Spur. In den düstersten und bewegendsten Passagen von "Paterson", die dieses "Rätsel von Mann und Frau" thematisieren, werden naturlyrische Elemente, poetologische Reflexionen und Verzweiflungs-Gesten zu einem rhapsodischen Gesang verschmolzen:

    Sing mir ein Lied, um den Tod erträglich zu machen, ein Lied von einem Mann und einer Frau: das Rätsel von Mann und Frau. Welche Sprache könnte unsere Dürste stillen, welche Winde könnten uns erheben, welche Fluten uns tragen über Niederlagen hinaus außer einem Lied, einem Lied, das keinen Tod kennt ?

    Der Fels vermählt mit dem Fluß macht kein Geräusch

    Und der Fluß strömt vorbei - doch ich bleibe klagend ohne Unterlaß rufend zu den Vögeln und Wolken (lauschend) Wer bin ich?

    - die Stimme! - die Stimme erhebt sich, mißachtet (mit ihrer neuen) der unbeugsamen

    Sprache. Gibt es keine Erlösung?

    Gib auf. Laß es sein. Hör auf zu schreiben. >Einem Heiligen gleich < wirst du nie diesen Schandfleck des Sinns trennen,

    eine Beleidigung für die Liebe, der Wurm des Geistes frißt den Kern weg, nie zufriedengestellt

    - nie diesen Schandfleck des Sinns von der trägen Masse trennen. Nie Nie dieses Strahlen

    in vier Teile zerlegt, unerreicht von Symbolen.

    Doktor, glauben sie an >das Volk <, die Demokratie? Glauben Sie noch - an diesen Schweinetrog korrupter Städte? Ja, Doktor? Jetzt?

    Gib dieses Gedicht auf. Gib dieses Hin und Her der Kunst auf.

    Der Dichter William Carlos Williams hat nicht aufgegeben. Er hat sein "Paterson"-Projekt über zwei Jahrzehnte geplant und hat dann in großer Beharrlichkeit und Disziplin sein poetisches opus magnum vorangetrieben. Mit seiner Entscheidung für "Paterson" hatte Williams auch seinen Bewunderern und Freunden größere Irritationen zugemutet - kannte man ihn doch als den Dichter des kleinen Alltag-Snapshots, der kleinen realistischen Momentaufnahme, die sich mit dem Festhalten gewöhnlicher Alltagsgegenstände begnügt. Berühmt geworden ist daher auch nur der Williams, der in seinen Gedichten köstliche Pflaumen im Eisschrank verzehrt, zu roten Schubkarren greift oder die Katze hinten im Hof begräbt. Das lange Poem "Paterson" ist immer nur respektvoll zitiert, in den seltensten Fällen aber auch gelesen worden.

    Um so höher ist daher der Entschluß des Hanser Verlags zu bewerten, dieses selten gelesene Meisterwerk mit einer Neuübersetzung endlich wieder ins öffentliche Bewußtsein zu rücken. Karin Graf und Joachim Sartorius haben die schwierige Aufgabe, für die ganz unterschiedlichen Tonlagen dieses gattungsüberschreitenden Lyrik-Monuments poetische Entsprechungen zu finden, mit Bravour bewältigt. Abgesehen von kleineren Schludrigkeiten, etwa wenn "Muschelschalen" sich in ominöse "Muskelschalen" verwandeln, haben sie Williams’ heißgeliebtes "amerikanisches Idiom" einfühlsam ins Deutsche gebracht. Der Gerechtigkeit halber sei hier aber nochmal hinzugefügt, daß sich ihre Neuübertragung nur punktuell, nicht substantiell von der Ur-Übersetzung von Anselm und Josephine Hollo unterscheidet.

    "Das lange Gedicht", hat Walter Höllerer vor mehr als dreißig Jahren notiert, "unterscheidet sich nicht nur durch seine Ausdehnung von den übrigen lyrischen Gebilden, sondern durch seine Art sich zu bewegen und da zu sein, durch seinen Umgang mit der Realität." "Doch dies ist nur möglich", so schreibt Höllerer weiter, und wir dürfen diese Erkenntnis auch auf "Paterson" beziehen, "doch dies ist nur möglich mit freierem Atem, der im Versbau, im Schriftbild Gestalt annimmt. Ich werde mir sichtbar." In "Paterson" wird nicht nur der Verfasser William Carlos Williams und sein Mikrokosmos in New Jersey sichtbar, sondern auch die weit größere Einheit - der Makrokosmos Amerika.