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Pathognostische Studien Bd. VI

Man kann ja nicht gerade behaupten, die Psychoanalyse hätte heute Hochkonjunktur. Die Zeiten, als Woody Allens Stadtneurotiker beim Analytiker Orientierung suchte, sind ge-nauso vorbei, wie jene der sexuellen Revolution der sechziger Jahre. Bei Studenten er-freut sich die Psychoanalyse auch nicht mehr besonderer Beliebtheit.

Hans-Martin Schönherr-Mann |
    Gerade in den Wissenschaften wäre aber eine Berücksichtigung von Sigmund Freuds Einsichten noch immer wünschenswert. Denn die Psychoanalyse verbindet nach wie vor die Philosophie mit der Alltagswelt der Menschen: eine weiterhin notwendige Bezie-hung, gerade wenn sich heute Wissenschaft und Technik in der Lebenswelt immer mehr ausbreiten.

    Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erkannten Lebensphilosophie und Existentialismus im Anschluss an Nietzsche die Entfremdung der Wissenschaften vom Menschen und seinen Problemen. Die Psychoanalyse bot wie die Soziologie hier Abhilfe an, die in der Philo-sophie dankbar aufgenommen wurde. Ob Heidegger oder Sartre, Adorno oder Marcuse, wer im 20. Jahrhundert nach der Lage des Menschen in der Welt fragte, warf auch einen Blick auf Sigmund Freud.

    Der Siegeszug einer Philosophie als Wissenschaft ließ sich aber sowenig aufhalten wie der Kapitalismus oder die technische Welt. Vergebens versuchte in Deutschland ein durch Freud nachgerüsteter Marxismus, sei es bei Reich, Adler oder Fromm, dieser Ent-wicklung Widerstand zu leisten. In Frankreich war man da innovativer: Jacques Lacan, Michel Foucault, Gilles Deleuze, Félix Guattari - um einige große Namen aus der Post-moderne-Debatte zu nennen - greifen auf Nietzsche und Heidegger zurück und über-schreiten in ihren strukturalen Gesellschaftsanalysen den orthodoxen Rahmen sowohl von Freud wie von Marx.

    Wenige knüpfen in Deutschland produktiv an diese Konzeptionen an. Der in dieser Hinsicht wohl innovativste Gegenwartsphilosoph, Rudolf Heinz, Professor für Philoso-phie an der Universität Düsseldorf und Psychoanalytiker, ergänzt sein umfängliches Werk durch den sechsten Band seiner Reihe Pathognostische Studien. Pathognostik nennt Rudolf Heinz seine Verbindung von Philosophie und Psychoanalyse:

    "Pathognostik - ich weiß nicht - der Titel ist schon sehr alt. Den haben wir irgendwann mal erfunden, bei irgendeiner Zusammenkunft unten in der Klinik, hier in Wuppertal, in der Tagesklinik. Und er setzt sich aus zwei Teilen zusammen, aus Gnostik, Gnosis, und das ist ja die Anmeldung eines Anspruchs einer besonderen Art des Erkennens, des phi-losophischen Erkennens, also durchaus in der Tradition der großen traditionellen Philo-sophie bis zur Existentialontologie. Gnosis, und Pathos, Leidenschaft und Leiden: also das leidenschaftliche Erkennen, das ist ein Titel von Giordano Bruno, wäre gar nicht schlecht in dem Zusammenhang."

    Vor allem aber knüpft die Pathognostik an die Psychoanalyse an, allerdings an deren fortgeschrittenste Entwicklungen. Heinz lehnt als illusionär die traditionelle Ich-Psychologie ab, die das Subjekt so stärken will, dass es wieder Herr im eigenen Haus wird und letztlich sich einbildet, Herr der Welt zu sein. Vielmehr ist der Mensch der Welt genauso ausgeliefert wie seinen verdrängten Trieben, die sich in seinem Bewußtsein wie Verhalten immer wieder störend bemerkbar machen. Rudolf Heinz distanziert sich vom Subjektivismus in der Philosophie wie in der Psychoanalyse:

    "Pathognostik ist eine Fortschreibung der Psychoanalyse, hoffentlich zeitgemäß, so dass der ominöse Subjektivismus der Psychoanalyse (. . .) entfällt, und zwar so entfällt, dass alles das, was unabhängige, vom Menschen geschaffene Kultur Objektivität ist, der-selben Herkunft ist, wie das, was vorher dem Subjekt reserviert, die menschliche Trieb-ausstattung besagt, wobei Trieb inbegrifflich der Todestrieb ist."

    Im Zentrum der Pathognostik steht der Todestrieb: nach Freud, die Neigung allen or-ganischen Lebens in den anorganischen Zustand zurückzukehren. Heinz bezieht sich dar-auf im diagnostischen Sinne, meint dergleichen nicht pessimistisch. Mit dem Todestrieb markiert er den Hang des modernen Menschen zu den Dingen, genauer zu den techni-schen Dingen. Er glaubt, mit ihnen sein Leben zu sichern. Doch überall lauert in ihnen auch das Verderben bzw. Risiken, die der Mensch aber immer weiter eingeht. Er ist eben versessen auf Dinge - Häuser, Autos, Computer - , auf das Tote, das Unlebendige, in dem er letztlich versucht aufzugehen, wenn er sich die Welt gemütlich oder auch pathetisch einrichtet. Dergleichen bleibt natürlich unbewusst, lässt sich gerade deshalb mit dem To-destrieb vergleichen. Rudolf Heinz schließt an das berühmte Buch von Deleuze und Guattari an, nämlich den Anti-Ödipus:

    "Die Letztdimensionierung des Unbewußten (. . .) spricht als der Todestrieb - das wäre eine Ausgangsprämisse meiner Art, die Psychoanalyse kritisch fortzuschreiben. Da kommt aber ein weiteres Hauptelement dessen, was ich mit diesem seltsamen, aber gut eingebürgerten Ausdruck Pathognostik benannt habe, dazu.(. . .) Das wäre die Maschi-nenordnung. (. . .) Also alles das, was man marxistisch die Produktivkräfte, die Technik, die Dinge nennen könnte. (. . .) Und da würde ich jetzt die Neuerung meinerseits anset-zen, und zwar so,(. . .) Sie müssen aus dem Todestrieb ableiten die Dinglichkeit. Und das ist gar kein Problem dies zu tun, nämlich der Körper, der selber sich im Tode überleben möchte, der also die Eigenschaft an sich hat, idealiter lebendige Leiche zu sein - das wäre die zusammenfassende Formulierung - würde ja verwechseln die Erfüllung seiner selbst, mit seiner Vernichtung. Und da gibt es nur ein Heilmittel dagegen und das die Gattung Mensch eh schon praktiziert, nämlich Dinge zu schaffen."

    Rudolf Heinz psychoanalytische Gegenwartsdiagnose trifft zweifellos ins Herz der Moderne und enthüllt die Illusionen eines naiven Rationalismus genauso wie die Hoff-nungen auf die technologische Selbsterlösung des Menschen. Eher erweisen sich die Dinge gar als Waffen gegen den Menschen selbst. Rudolf Heinz spürt den Abgründen der technischen Welt im Unbewußten des Menschen nach, ohne ihn erlösen zu wollen. Trotzdem aber formuliert er entgegen vieler seiner Psychoanalytiker-Kollegen einen so-zialen Anspruch der Psychotherapie.

    Im 6. Band der Pathognostischen Studien, der diverse Aufsätze, Vorträge, kleinere Schriften und Briefwechsel enthält, geht es denn auch in diesem Sinne vornehmlich um die Traumtheorie, mit der sich Rudolf Heinz auch an anderer Stelle intensiv beschäftigt. Dabei wandelt er die Konzeption Sigmund Freuds ab, der den manifesten Trauminhalt, als das was man wirklich geträumt hat, vom latenten Traumgedanken unterscheidet. Letzterer entstammt dem Unbewußten und wird durch die Traumarbeit so verwandelt, dass er erst durch die Analyse entborgen werden kann:

    "Der latente Traumgedanke, der manifeste Trauminhalt und die Traumarbeit: jetzt die Revision besteht darin, das funktionale Phänomen zu generalisieren, sprich also zu be-haupten, der latente Traumgedanke ist nichts anderes als die Traumarbeit selbst, so dass als Traum resultiert, also als manifester Trauminhalt, die Selbstdarstellung der Traumar-beit. (. . .) Es ist keineswegs so, dass in diesem Selbstbezug der Trieb weg wäre. Umge-kehrt der Selbstbezug selber wäre der Inbegriff der Triebhaftigkeit."

    Im Traum bekräftigt sich der Todestrieb, aber natürlich nicht allein. Es gibt auch die Hoffnung auf die erotische Extase. Allerdings wird der Tod letztlich siegen. Derart bes-tätigt die Pathognostik die Aktualität der Psychoanalyse, wenn sich Philosophie noch mit der Lebenswelt der Menschen wirklich auseinandersetzen will. Angesichts der Über-macht technischer Gerätschaften mit ihren Folgen - BSE, Gentechnologie oder Videowelt - kann nur hoffen, dass solche pathognostische Bemühungen aktiv bleiben.