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Paul Schatz im Uhrenkasten

Die Wirklichkeit läßt immer zu wünschen übrig - das ist einer der Gründe dafür, daß Autoren schreiben. Auf Jan Koneffkes neuen Roman trifft dieser Satz in ganz besonderem Maß zu: Die Geschichte von Paul Schatz im Uhrenkasten ist ein groß angelegtes, äußerst komplexes Spiel mit Wunsch und Wirklichkeit, mit dem Tatsächlichen und dem Möglichen. Damit schließt der 1960 in Darmstadt geborene Autor an Fragestellungen an, die ihn schon vorher beschäftigten. Die 1988 veröffentlichte Erzählung "Vor der Premiere" mischt Realität und Fantasie, springt zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen Indikativ und Konjunktiv. Der Gedichtband "Gelbes Dienstrad wie es hoch durch die Luft schoß" von 1989 erprobt auf andere Weise einen kreativen Umgang mit Zeit, mit gestern und heute; und im Roman "Bergers Fall" von 1991 geht es einmal mehr um die Fragwürdigkeit von Realität, und damit auch um den Verlust von Identität.. "Realismus ist Traumarbeit", schrieb Koneffke einmal – und die Geschichte von Paul Schatz und seinen Angehörigen, Bekannten und Widersachern entfaltet aus diesem Programm einen eigenen literarischen Kosmos.

Sabine Peters |
    Wir haben es mit einer vielfältig gebrochenen Familiengeschichte zu tun: Gegen Ende der Weimarer Republik vertritt Pauls Großvater Karl Haueisen, der frühere Rechnungsrat im Reichspostministerium, zwei widersprüchliche Haltungen; er ist zugleich Antisemit und Hitlerhasser. So tobt er, als eine seiner beiden Töchter, Eva, den Juden Joseph Schatz heiratet. Deren Sohn Paul Schatz wird nicht beschnitten, er ist nicht Fisch und nicht Fleisch, er ist, so heißt es, "ein falscher Jude mit arischem Piephahn", - er ist ein kleiner Herr Niemand. Diese Position "Niemand" wandert im Roman und gewinnt vielseitige Bedeutungen: Ein Niemand ist durch Nichtbeachtung und Totschweigen bis hin zur Auslöschung bedroht – aber er ist auch geschützt, weil kein potentieller Gegner auf ihn aufmerksam wird. Pauls Mutter stirbt, als der Sohn sechs Jahre alt ist, - die schreckliche Todesursache erfährt man erst ganz am Schluß des Romans - und Paul wächst mehr oder weniger im Haushalt seiner Tante Else, der Nenntante Ida und des Großvaters im Berliner Scheunenviertel auf. Karl Haueisen ist ein fanatischer Uhrensammler, und als er stirbt – Hindenburg hat soeben Hitler zum Reichskanzler ernannt – imaginiert das Kind Paul, der Großvater existiere jetzt im Erdinneren als Logenmeister weiter; er hantiere mit Uhren und verstelle die Zeiger, und zwar, um Gott zu berichtigen, wo dessen Weltplan mißlungen ist. Diese Vorstellung wird immer wieder aufgenommen, sie durchzieht den ganzen Roman:

    "Als er tot war, verstellte Großvater Haueisen einen Uhrenzeiger – und ... es wagten sich keine SA-Leute ins Scheunenviertel, um Steine in Mosche Steinkukkers Buchladen zu werfen. Und es kam zu keiner Razzia, bei der man einen Haufen Menschen im Grenadierstraßenhof zusammentrieb und beschimpfte und ruppig anfaßte. Und niemand pinselte weiß an Pufeles Eierladen: >Kauft nicht beim Juden<. ... Und am Nordpol schmolzen Eiskappen ab, und in Feuerland brachen Vulkane aus, und Kometen zischten am Himmel – und auf Erden schwieg niemals mehr ein Mensch einen Menschen an, ... keine Beleidigung, kein Vergehen, kein Verrat und keine Dummheit durften mit Schweigen bestraft werden. Und Postboten schleppten sich mit Lebenszeichen und Bitten um Vergebung und Verzeihungsbriefen fast zu Tode. Morseapparate ratterten, Rauchsignale stiegen auf, Buschtrommeln tobten, ... und Haueisens Telefonapparat im dusteren Flur rasselte, als wolle er zerspringen, und es rief Pauls Mutter an, und berichtete vom Leben im Himmel, und wo sie zu entdecken sei... Zu schweigen, ewig tot zu sein – es war nicht mehr erlaubt. ... Und im heiligen Land lebte Jesus, ... Judas blieb sein vertrautester Freund, ... und als Hitler kreischte:>Ich nehme Rache an Judas, man muß sie ausmerzen, diese verschlagene Rasse < , staunte man und wollte wissen: Was quatscht der? Was soll das?, und endlich wandte er sich seinen Postkarten zu und war ein kleiner Herr Niemand."

    Diese aus ganz verschiedenen Teilen des Romans aneinandergereihten Zitate lassen in ihrem Gestus der Verneinung – keine SA, keine Razzien, kein Tod - an den Aufklärer Voltaire denken, der zu dem furchtbaren Erdbeben von Lissabon im Jahr 1755 sinngemäß anmerkte, er anerkenne es nicht: Ein Hieb gegen das "System Schöpfung", so wie auch gegen "die" Wirklichkeit. Jan Koneffkes zunächst kindlicher Held Paul Schatz verfährt im Prinzip ähnlich wie Voltaire: Er akzeptiert ein Faktum nicht, und so stattet er den toten Großvater mit gottgleichen Fähigkeiten aus, eben weil die Wirklichkeit zu sehr zu wünschen übrig läßt.

    Mit der Frage, wie man den Faschismus, wie man den Völkermord, wie man Auschwitz verstehen kann, wird man nicht fertig. Dolf Sternberger schrieb einmal, es sei verfehlt, sich um ein Verständnis zu bemühen: Denn Verstehen lasse sich das Verständige; die Shoa aber entzöge sich der Vernunft. Und um mit dem Unbegreiflichen, Unverständlichen einen Umgang zu finden, läßt also Jan Koneffke den Großvater Haueisen in die Zeit des Faschismus eingreifen. Es entsteht eine schöne, kindlich großzügige und kindlich größenwahnsinnige, märchenhafte Version einer besseren Welt. "Alles wird gut", behauptet der Roman auf einer seiner Ebenen quasi immer wieder und hebt damit den Leser hinauf in die luftigen Höhen von Sehnsucht und Hoffnung – um ihn alsbald wieder herunterzuholen auf den Boden der Tatsachen. Denn Haueisen verhindert ja die Verfolgung der Juden im Scheunenviertel tatsächlich nicht, - schließlich ist er Antisemit - und der heranwachsende Enkel Paul Schatz erfährt auch bald seine eigene Ohnmacht. Mit vierzehn Jahren hat er seine erste Geliebte, das ist die Prostituierte Anna Feuerhahn. Er versucht, sie vor den Nazis in einem Gartenhaus zu verstecken, aber dann verschwindet sie. Das Scheunenviertel leert sich; auch Joseph Schatz wird abgeholt, und Paul selbst flüchtet nach Quedlinburg zum Bruder des Großvaters, wo er in einem Versteck, und zusätzlich als Stotterer getarnt, auf das Kriegsende wartet. Jan Koneffke beläßt es nicht bei dem Reigen von Scheunenviertelbewohnern und bei der Generationsfolge Haueisen, Joseph Schatz und Paul Schatz. Paul seinerseits hat einen Neffen, das ist der Ich-Erzähler des Romans. Er ist, wie der Autor, 1960 geboren. Als Kind besucht dieser Ich-Erzähler den Onkel, er ist fasziniert von dessen Geschichte und kennt sich darin aus, als sei sie seine eigene. Die Überlegung, die dahinter steht, ist wahrscheinlich: Wenn einer, wenn dieser Onkel ein "Herr Niemand" ist, können dann nicht auch "alle" seine Identität annehmen? Der Ich-Erzähler jedenfalls kann manchmal kaum zwischen sich selbst und Paul unterscheiden; einmal fragt er sich selbst ausdrücklich, als er seinen Neid auf den Onkel wahrnimmt, ob sein eigenes Leben nicht bescheiden und lahm sei, verglichen mit dem des Paul Schatz.

    Dieser Satz ist allerdings eine Überlegung wert. Ohne den Ich-Erzähler unbedingt mit dem Autor ineins zu setzen, es fällt doch auf: Jan Koneffke stellt sich mit dem neuen Roman in eine Reihe von "nachgeborenen" Autoren – Marcel Beyer oder Norbert Gstrein gehören ebenso dazu - , die sich von der eigenen Gegenwart ab- und einem "großen" historischen Stoff zuwenden. Die spontane Empfindung der Rezensentin gegenüber einer solchen Stoffauswahl, also gegenüber dem Thema Faschismus und Judenvernichtung, ist Skepsis. Ist denn die Gegenwart so spannungslos, konfliktarm und harmonisch, daß man sich daran nicht reiben kann? Braucht es, provokativ gefragt, den Faschismus, damit ein Leben nicht "lahm" ist? Wie kommen Autoren "der" jüngeren Generation dazu, diese Zeit des Faschismus zum Material ihres Erzählens zu machen? Kann man auch dieses Geschehene, diese Phase der Geschichte einfach zur Verfügung haben, kann man sie fiktionalisieren, mit ihr spielen, kann man die Puppen tanzen lassen? Ist es nicht anmaßend, als heutiger Mensch etwa das niedergemachte jüdische Leben im Berliner Scheunenviertel der 20er, 30er, 40er Jahre zu schildern? Verrät es blankes Kalkül, ein nach wie vor so emotionsgeladenes Sujet wie den Faschismus zu wählen und vor diesem gewichtigen Hintergrund selbst entsprechend dazustehen? Oder: Ist es möglich und vielleicht gerade wünschenswert, tröstliche Fiktionen zu entwickeln, um sie der Trostlosigkeit der Fakten gegenüberzustellen? So naheliegend solche Fragen auf den ersten Blick sein mögen – und vergleichbar wurde ja auch der Film "das Leben ist schön" von Roberto Bennini diskutiert – aber zugespitzt führen solche Fragen wohl in die Orthodoxie, und man müßte konsequenterweise schließlich fordern: Autoren sollen nur über ihre eigene Zeit schreiben, über das ihnen aus eigener Erfahrung Vertraute. Historische Romane wären unmöglich, sowie auch Bücher, in denen die eigene Geschlechts oder Schichtenzugehörigkeit übersprungen wird; kein Ost-Autor dürfte über den Westen schreiben, und so fort. Man sieht: Solche zugespitzte Argumentation engt ein, und um Koneffkes Arbeit annähernd zu bewerten, muß man andere Kriterien heranziehen.

    Da ist dann also die Sprache: Sie ist eher traditionell ausgerichtet, sie will weniger beunruhigen und in die Fremde stoßen, als den Leser tragen und mit sich nehmen. Koneffke erzählt in epischer Breite, manchmal bekommt der Tonfall sogar etwas Biblisches, er nähert sich dem hohen "und-es-begab-sich-Sound". Die zahlreichen Wiederholungen in der Beschreibung von Personen – Haueisen schwingt den Schlangenkopfstock; Anna Feuerhahn raucht saturngroße Kringel, Joseph Schatz erzählt Witze, als ginge es ums Leben – diese Wiederholungen geben dem Leser das befriedigende Gefühl der Möglichkeit des Wiedererkennens. Dabei muß man sagen, daß der Roman nie langatmig wird – hier nimmt sich einfach ein Autor Zeit, zahlreiche Handlungsstränge und Episoden auszubreiten und miteinander zu verweben.

    Jan Koneffke hat auch sicherlich gründlich recherchiert; die jüdische Lebenswelt des zerstörten Scheunenviertels, die er schildert, erkennt man wieder von zahlreichen Fotodokumenten, Zeitzeugen, Sachbüchern und Romanen aus dieser Zeit. In Koneffkes Roman wird diese Welt in sinnlichen, verschwenderisch bunten Bildern, in oft sehr komischen Anekdoten und Schnurren wieder belebt, wobei manchmal vielleicht dann doch sehr breit aufgetragen wird, etwa in der Weise, wie Pauls Vater charakterisiert wird und das orthodoxe jüdische Leben ironisiert wird:

    "Nein, seinen Vater mochte er nicht. Er haßte Vaters feuchte Lippen, ... er haßte Vaters kriecherisches Wesen und sein fremdklingendes Deutsch, das klang, als habe er Schmalz im Mund. ... Er ... vermied es, Vater zu nahe zu kommen... Heute war es anders ... >Was ist?< erkundigte sich Vater...>Ich bin nicht beschnitten. Mein Piephahn ist arisch<. Vater...lachte und lachte.> O ja, es ist wahr, du bist nicht beschnitten. Du bist kein Jude, nie bist du ein Jude gewesen. Deine Mutter und Haueisen ließen dich taufen. .. Und ich sage dir, mir war es absolut schnuppe. Aus Zufall bin ich Jude, oder man sagt, ich sei Jude, und andere Juden behaupten, ich sei keiner. Was soll man denken?...Du sagst dir, ich bin Jude, du streitest es ab, einer sagt, du seist Halbjude, was soll man denken? Wann ist man ein Achtel-, ein Viertel-, ein halber-, ein Dreivierteljude? Ich weiß es nicht. Was soll man von dieser Welt denken, wo man dir einen Gott verpaßt, ob du es willst oder nicht... Was soll man von dieser Welt denken, wo sie dich und deinen Gott hassen, ob du diesen Gott verehrst oder nicht, was soll man denken! < Nein, Joseph Schatz glaubte an keinen Gott und war nie in einem Bethaus zu finden, wo schnalzende, zischende und einen jammerhaften Singsang anstimmende Juden mit zernagten Pelzen und zerfressenem Filzhut und dreckigem Mantel eine Holzbank behockten und sich über ein Buch beugten, als wollten sie zu krummen Buchstaben werden. Wo ein Rabbi betete, ein Schlattenschammes mit einem Opferstock wedelte, ein Ofen bollerte und eine schmorige Hitze herrschte. Und er spottete, wenn ein chassidischer Rabbiner mit seinem flatternden Anhang ins Scheunenviertel einzog und in einer dreckigen Schankwirtschaft Hof hielt. ... Vater war ein moderner Mensch."

    Eine solche Passage läßt die Rezensentin unsicher zurück, gespalten: Ja, da ist die typische selbstironische Sprechweise mit quasi gerungenen Händen und den rhetorischen Fragen, wie man sie im Duktus zu kennen meint, ob von Martin Buber, aus der Sammlung jüdischer Witze von Salcia Landmann, oder aus den populären Romanen von Chaim Potok. Und der Konflikt, den die aufgeklärten, "modernen" Juden mit den zugewanderten osteuropäischen Juden hatten, zeichnet sich in der zitierten Passage ebenfalls deutlich ab. Aber: Werden hier nicht auch oft Klischees reproduziert, wird hier nicht, wie elegant oder ironisch auch immer, mit Pattern, mit Typen und Topoi jongliert? Ein sowjetischer Major: Durch und durch "russischer Gemütsmensch". Die Chassidim: Jammervoll singende Elendsgestalten. Der Zaddik: Ein rätselhafter lebenskluger Weiser. Der Großvater: Geheimnisvoller Wüterich. Die Mutter: Abwesende Lichtgestalt. Der Vater: Luftikus und Herzensbrecher. Und schließlich der Sohn: Gefährdetes Geißlein im Uhrkasten. Wobei man sagen muß, der Roman funktioniert, er funktioniert beeindruckend gut. Koneffke ist ein Meister der Komposition, er ordnet mit diesem Roman ein äußerst kunstvolles Regelwerk an: Motive werden wiederholt, variiert, verzahnt – das Buch selbst hat etwas von einem raffinierten, sorgsam ausgetüftelten Uhrwerk an sich. Es ist die philosophisch-phantastische Vision des Romans, "Zeit" neu zu vermessen; und wer an die Macht des Erzählens glaubt, der erfährt während der Lektüre, daß dieser Glaube mitunter tatsächlich Berge versetzen kann. Zumindest aber lösen sich in diesem Buch eigentlich alle Rätsel, es bleibt – ob einen das erfreut oder enttäuscht - es bleibt im Grunde keine Frage offen, und selbst die nach der Liebe findet eine bravouröse Antwort: Koneffke hat seine Protagonisten über weite Strecken des Romans nur ratlos oder zynisch fragen lassen, was denn Liebe sei. Am Schluß wird dieser abstrakte Begriff, dieses Substantiv "Liebe" wird zu einem Verb verflüssigt, es wird in eine Bewegung überführt: Ja, der Ich-Erzähler hat seinen Onkel Paul geliebt. Solche Volten gelingen Jan Koneffke immer wieder; manchmal wirken sie lediglich gekonnt gesetzt, manchmal haben sie die Anmut der Eingebung. Der Grad an Virtuosität und Perfektion, den dieser Roman hat, läßt zwischendurch immer auch an die chinesische mechanische Nachtigall denken: Hans Christian Andersen hatte seinerzeit mit diesem Märchen die Unschuld und Schönheit des "natürlichen" Gesangs gegenüber dem künstlerischen betonen wollen; er hat es allerdings seinerseits in einem Kunstmärchen getan. Was heute als Literatur gilt, ist zumeist hoch reflektiert und gewiß nicht von Bauchrednern geschaffen worden, und gerade das Genre des postmodernen Romans, dem Koneffkes Buch zugeordnet werden kann, ist sich der eigenen Mittel sicherlich sehr bewußt. Jan Koneffkes literarischer Anspruch liegt vermutlich weniger darin, das Schreiben zum Medium einer Suche zu machen; eher geht es hier wohl darum, einen Stoff intellektuell und unterhaltsam zu gestalten. – Wenn das der Anspruch war, muß man sagen, er wird erfüllt: An diesem Buch kann der Genußleser sein Vergnügen haben, ebenso wie derjenige, der die Kunstfertigkeit und das sorgfältig und fein Ziselierte dieses Erzählens wahrnimmt. Einmal legt Koneffke sein Programm offen; da erklärt der erwachsene Paul seinem Neffen, dem Ich-Erzähler:

    "Man muß aus seinem Leben eine Geschichte machen. Hand und Fuß sollte sie haben und komisch sein. Wenn sie nicht komisch ist, wenn man nicht zappelt und strampelt in seiner Geschichte, wenn man sich nicht Arme und Beine ausreißt und in Mustopf und Fettnapf tritt, wird man seinn Leben nicht los! ... Was sage ich, loswerden kann man seine Vergangenheit nicht. Man muß aus seinem Leben eine Geschichte machen, um bei Verstand zu bleiben, ja, am Ende, wenn es eine erstklassige Geschichte ist, meint man, sie sei einem anderen passiert. Armer Kerl, sagt man sich, oder, was ist der meschugge! und lacht sich krumm und schief, verstehst du?"

    Das Zitat zeigt noch einmal die Absicht des Autors, mit Realität zu spielen, und zwar, um sie erträglicher, tröstlicher, komischer und schöner zu machen. Daß man "Paul Schatz im Uhrenkasten" gern und in einem Rutsch liest, hat vor allem mit dem Blick des Autors auf seine Figuren zu tun: Jan Koneffke hat ein warmes, lustvolles Interesse an ihnen, und die sorgfältige, liebevolle Schilderung von einzelnen Details läßt einen das etwas Mechanische, möglicherweise allzu Perfekte in der Struktur des Romans immer wieder vergessen. Es ist aber auch die sprühende Phantasie, die den gelegentlich auftauchenden Verdacht, es hier mit einem Roman zu tun zu haben, der sozusagen am Reißbrett geschrieben wurde, zerstreut.

    "Es leerte sich, Haueisens Scheunenviertel. ...Schreiner und Schneider reisten ab oder ließen sich widerstandslos verhaften. Waren verstaubten, in Schaufenstern schwitzendes Fliegenpapier. ... Wischnewskis Werkstatt blieb verriegelt. Gelegentlich durfte er seiner Familie Postkarten aus Sachsenhausen schicken. ... Butterfaß´ Fischladen war verrammelt. Hatte Butterfaß mit Frau und seinen drei Kindern einen Zug bestiegen, der sie ans Meer brachte? Butterfaß schwenkte eine Laterne, und aus seinem Mund stiegen Luftblasen (Samuel Butterfaß sprach hundert Fischsprachen.) Bis ein Blauwal an Land schwamm, der literweise Wasser spie und seinen Rachen aufsperrte. Sie spazierten in seinen Bauch... am Boden schwammen Matrosenskelette Von einem Piratenschiff baumelten Strickleitern. ... Butterfaß und sein Sohn Mordechai erkundeten, was sich im Schiffsleib befand, ... als sich ein Krakenarm um seinen Hals wand und Butterfaß erdrosseln wollte. >Bring mich nicht um, ich bin Samuel Butterfaß, ein Nichts, ein mißachteter kleiner Herr Niemand. < ...Die Krake streichelte Samuel Butterfaß... und verriet, wo Perlen und Silber versteckt waren. Am dritten Tag weckten sie Sonnenstrahlen, und sie spazierten an Land .... Und an Land empfingen sie drei Polizisten und verlangten Ausweis und Visum. Samuel Butterfaß raufte sein Haar, Butterfaß flehte mit seinen Augen. Und als das nichts half, bestach er sie... Butterfaß durfte passieren. Und sie marschierten bis Brooklyn, naß und blaß, verdreckt und elend. Arm waren sie. Was machte das? ... Schwach waren sie. Hatten Fieber. Und froren. Was machte das? Sie lebten."

    Es ist dann doch diese immer wieder unerwartet einbrechende Warmherzigkeit, dieses fast kindliche Wünschen, das zumindest oder eben nur in der Literatur endlich einmal hilft; dieses Wünschen hat die Rezensentin trotz diverser Einsprüche den Roman ganz gern lesen lassen.

    Und daneben wird, das ist in diesem Buch sehr notwendig, schließlich auch noch die Figur des göttergleichen Großvaters mit ein paar Sätzen gründlich demontiert: Haueisen hat seine Tochter gezwungen, ihr zweites Kind, einen zweiten Halbjuden und zweiten Herrn Niemand abzutreiben, daran starb Pauls Mutter. Ist Paul eigentlich sein toter Großvater? Wollte der Ich-Erzähler wirklich Paul sein? Wer ist wer? Wer hätte einer sein können? Wer wollte man sein? Für die Enkel und Urenkel der Generation, die den Faschismus in welchem Alter auch immer erlebten, scheint diese Frage zu einer Spielform werden zu können, und das soll hier nicht kritisiert, sondern konstatiert werden. Jan Koneffke spielt in allem Ernst, aber auch sein Ernst hat etwas Spielerisches. Insofern ist sein neuer Roman in sich rund und ohne Riß – und man wünschte sich von diesem Autor, daß er nach dieser anerkennenswerten, formvollendeten, nach allen Seiten hin abgesicherten Arbeit wieder in ein Risiko geht.