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Pawel Spiewak (Hg.): Anti-Totalitarismus. Eine polnische Debatte

Ein großes Verdienst gebührt dem in Darmstadt ansässigen Deutschen Polen Institut für seine rührigen Bemühungen um die deutsch-polnischen Beziehungen. Und dabei ist jetzt auch eine neue Buchreihe zu erwähnen, die in Zusammenarbeit mit dem Frankfurter Suhrkamp-Verlag entstanden ist. Ihr Name: "Denken und Wissen. Eine polnische Bibliothek". Als Band -3- ist dort nun die Anthologie: "Polnischer Anti-Totalitarismus" erschienen - herausgegeben vom Ideenhistoriker und Publizisten Pawel Spiewak.

Von Godehard Weyerer |
    Die Menschen in Polen reden aneinander vorbei – zumindest die, die sich darüber streiten, wie die kommunistische Vergangenheit zu bewerten sei. Es sind nicht allzuviele. Die große Mehrheit beschäftigt sich mit dem Hier und mit dem Jetzt; der Alltag bringt für sie genug Probleme mit sich; man gibt sich unpolitisch und schert sich wenig um das, was war. Zum Leidwesen der Intellektuellen, die einst der Kampf gegen das kommunistische Regime einte und die in der Bewertung seines Unrechtscharakters heute heillos zerstritten sind.

    Pawel Spiewak, Soziologie-Professor an der Universität Warschau und überzeugter, aber nicht fanatischer Befürworter von Entkommunisierung und so genannter "Durchleuchtung", das heißt Überprüfung wichtiger Entscheidungsträger in Staat und Gesellschaft auf deren Handeln zu Zeiten der Volksrepublik, Pawel Spiewak also hat beide Seiten zu Wort kommen lassen. Die Anthologie ist der dritte Band der vom Deutsch-Polnischen Institut Darmstadt herausgegebenen Reihe "Denken und Wissen. Eine polnische Bibliothek". Und es ist ein Buch, das gehobene Ansprüche stellt an seine Leserschaft. Die Texte sind in ihrem Ansatz mitunter von hoher Komplexität - philosophisch, sprachwissenschaftlich, theologisch, soziologisch. Alexander Wat etwa schreibt über die Semantik der stalinistischen Sprache; Andrzej Walicki geht der Frage nach, ob die Volksrepublik Polen ein totalitärer Staat war; Primas Jozef Glemp fordert auf dem Weg zur Wahrheit Anstrengung und Demut ein; Gustaw Herling-Grudzinski und Jozef Tischner schreiben über die Verführung des Denkens in kommunistischen Zeiten.

    Zuweilen atmen die Essays den Geist des Kalten Krieges, was nicht weiter verwundert, stammen sie doch aus dieser Zeit. Der Großteil der Arbeiten aber wurde in den 90ger Jahren verfasst. Gemeinsam ist ihnen, dass sie in dem vorliegenden Sammelband erstmals auf deutsch erschienen sind.

    Manche Texte sind dagegen ein Ärgernis; dies betrifft in erster Linie jene, die einen Vergleich zwischen Kommunismus und Nationalsozialismus wagen. Da ist die Rede davon, dass man unter dem Nationalsozialismus "würdevoll, sogar mit Stolz" hätte sterben können; wogegen der Kommunismus von den Opfern noch Zusammenarbeit und Einverständnis verlangt hätte. Da wird das sowjetische Gulag-System als menschenverachtender dargestellt als die Vernichtungslager der Nazis. Die Totalitarismus-Theorie ist ein Kind des Kalten Krieges. Ein Vergleich mit der Nazi-Diktatur sollte in erster Linie den ideologischen Gegner, die Kommunisten in all ihren Erscheinungsformen, desavouieren.

    Vor nun bald zehn Jahren, als in Deutschland der Historiker-Streit seinem Höhepunkt entgegen ging, meldete sich der Stuttgarter Historiker Eberhard Jäckel zu Wort. Er erinnerte daran, dass keine Regierung, auch Stalins nicht, je auf den Gedanken gekommen war, eine bestimmte Menschengruppe samt Alten, Frauen, deren Kinder und Säuglinge in Gaskammern zu ermorden. Und habe in der Sowjetunion immerhin nicht eine wenn auch sehr vage und keineswegs sicher das Leben und die Freiheit garantierende Möglichkeit bestanden, sich durch Unterwerfung oder Anpassung der Verbannung und Zwangsarbeit im Gulag-System zu entziehen? Man müsste, so Jäckel, auf diese Unterschiede bestehen, allerdings ohne den sowjetischen Terror zu verniedlichen oder gar zu verharmlosen, ohne zu leugnen, dass es dem individuellen Opfer völlig gleichgültig sein konnte, ob es im Keller der Gestapo oder der sowjetischen Geheimpolizei gefoltert wurde. Oder im Amt für Staatssicherheit der polnischen Kommunisten.

    Freilich lohnt eine genaue Lektüre des Sammelbandes. Denn am Ende setzt sich ein Bild zusammen, das Einblick gewährt in Untiefen und Verwerfungen im Umgang unseres östlichen Nachbarn mit seiner kommunistischen Vergangenheit. Und es erhärtet sich der Eindruck, das sich beide Lager in diesem ideologisch aufgeheizten Disput noch lange feindselig und unversöhnlich gegenüberstehen werden. Das unterscheidet die Situation grundlegend von jener in Deutschland, wo das DDR-Regime und seine Strukturen quasi über Nacht verschwanden, und es erinnert außerdem an die Staaten des ehemaligen Ostblocks, in denen nach 1989 die Postkommunisten in freien Wahlen wieder an die Macht gelangten und ähnliche Kontroversen wie in Polen aufbrachen.

    Die Gegner der "Lustracija", wörtlich übersetzt der "Durchleuchtung", das heißt einer Überprüfung auf Zusammenarbeit mit den kommunistischen Geheimdiensten, warnen vor Denunziantentum und Hexenjagd - oder, wie es Adam Bratkowski in seinem Beitrag formuliert, vor einem Revolutionsterror unter dem Signum der Tugend à la Robespierre, was einem Neubeginn und dauerhaften Frieden im Land nur im Wege stünde. Andere Autoren, und sie sind in dem Sammelband in offensichtlicher Mehrheit, prangern den Gleichmut früherer Funktionsträger an, die ohne irgendeine Geste des Bedauerns die Verantwortung für geschehenes Unrecht von sich weisen und sich ihres Handelns noch nicht einmal schämen.

    Angst zeugt Unglück auf Unglück, schrieb der slowenische Schriftsteller Edvard Kocbek. Wer Angst hat, wird blind und gefährlich, und seine Gefährlichkeit zeugt neue Angst. Das gilt für das Erbe der Volksrepublik Polen wie für jede andere Diktatur. Unrecht muss benannt und gesühnt werden – jedoch nach rechtsstaatlichen Prinzipien. Vom gesellschaftlichen Kampf um das kollektive wie auch individuelle Gedächtnis zeugt das Buch in beeindruckender Weise – ein Kampf, der allerdings verloren zu sein scheint, weil ein wachsender Teil der Polen anscheinend nicht bereit ist, die sozialistischen 40 Jahre in Bausch und Bogen zu verteufeln. Viele aus der Erfahrung gespeiste Argumente, die zu dieser Haltung beigetragen haben, werden in dem Buch genannt: die Reisemöglichkeit, wie es sie in keinem anderen Ostblock-Staat gab, kulturelle Freiräume, die starke Stellung der Kirche, eine weithin privat wirtschaftende, nicht in Produktionsgenossenschaften gepresste Klein-Bauernschaft - und schließlich der bemerkenswerte Umstand, dass die kommunistische Führung 1989 freiwillig die Macht aus der Hand gab, freie Wahlen zuließ und ihre Abstimmungsniederlage akzeptierte. Dies beschrieben und nicht außer Acht gelassen zu haben, spricht für den Herausgeber und sein redliches Bestreben um Ausgewogenheit.

    600 Seiten umfasst das Buch. Ein kommentiertes Personenverzeichnis, detaillierte Angaben zu den Autoren und deren Texte im Anhang sowie ein Abkürzungsverzeichnis und ein Kalendarium erleichtern die Orientierung.

    Als Fazit bleibt die Erkenntnis: In dem vorliegenden Band - und das ist das Spannende an der Lektüre - tragen nicht die frühere Nomenklatura und bürgerliche Oppositionelle einen Streit aus. Das Zerwürfnis trennt vielmehr das Lager der liberalen Intellektuellen, die einst zum Widerstand gegen das sowjetisch determinierte Unrechtsregime in Polen aufgerufen hatten und für ein antitotalitäres Denken eingetreten waren – und sich heute ihrer gemeinsamen Wurzeln nicht mehr erinnern wollen.

    "Polnischer Antitotalitarismus. Eine Anthologie", herausgegeben von Pawel Spiewak, erschienen im Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main; das Buch hat 606 Seiten und kostet 39 Euro 90.