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Peking präsentiert sich sachlich

Der Autor und Journalist Shi Ming beurteilt die Präsentation Chinas auf der Frankfurter Buchmesse, was die schöngeistige Literatur angeht, als "besonders dürftig". Sachbücher stehen im Vordergrund.

Shi Ming im Gespräch mit Karin Fischer |
    Karin Fischer: Und wir beschäftigen uns weiter mit China. Wenn von diesem Land die Rede ist, dann stehen sich das Offizielle und das Oppositionelle, das naturgemäß am lautesten in seiner dissidenten Form im Westen ist, unversöhnlich gegenüber. Die Diskussionen heute auf der Messe zum Thema Meinungsfreiheit haben die wichtigsten Fakten wieder deutlich gemacht. Jedes in China gedruckte Buch braucht eine ISBN-Nummer, die der Staat vergibt, und unterliegt damit automatisch der Zensur. Es gibt keine freien Verlage. Chinakritische Manuskripte werden zum Beispiel elektronisch nach Hongkong übermittel und dort von Untergrundverlegern gedruckt. Und die Autorin Dai Qing erzählte heute:

    O-Ton Dai Qing

    Fischer: Sie berichtet über das einzige Buch über das Tian'anmen-Massaker 1989, ganz primitiv gemacht, weil von den Studenten selbst gedruckt. Und noch davon hat der Staat 1700 Exemplare beschlagnahmt, obwohl es nur die Leidensgeschichte dieser Menschen enthielt.

    Für das illegale Veröffentlichen in China gibt es nämlich immer noch hohe Gefängnisstrafen. Mein Kollege Shi Ming, Chinaexperte der Deutschen Welle, hat für den internationalen P.E.N. Gedichte chinesischer Autoren aus dem Gefängnis zusammengestellt. Hier eines von Zhang Jianhong.

    Herbstzeit

    Zhang Jianhong

    In der Erinnerung ist der Herbst länger als erwartet, aber kürzer als ein Regentropfen. Am Schilfgerüst beim alten Haus hängt ein Kürbis vom letzten Jahr, der sämtliche Geschichte, erfunden oder wirklich, für sich behielt. Im Spalt der Steinmauer, durch den der Regen drang, gab es auch eine kleine grüne Eidechse. Sie saß auf meiner Tastatur, rollte die Augenkugeln und schien zu sagen, dass ich aufbrechen, nach etwas suchen sollte. Als meine Stadt unter einer trägen Herbstsonne schließlich fiel, warf ich das Buch fort und packte die Koffer.

    Fischer: Shi Ming, diese Verse klingen schon einerseits unterschwellig bedrohlich, sprechen aber auch von einer Suche und von Aufbruch. Von wann stammen sie und wofür steht dieses Gedicht für Sie?

    Shi Ming: Dieses Gedicht war realiter entstanden, als der Autor, damals noch recht jung, ins Gefängnis musste, und er stellte sich vor den Tag, an dem ein Gefängniswärter ihm sagte: Du solltest wieder hinausgehen. Also ein Gedicht quasi mit umgekehrter Perspektive. Die Gefängnisstrafe fängt an, man dichtet schon das Ende. Und das ist mehr oder minder auch eine Metapher von dem heutigen China.

    Man hat schon eine etwas konkretisierte Hoffnung auf ein gewisses Ende, das man sich nicht vorstellen kann. Dabei hat man auch das Gefühl, man steht gerade am Anfang eines Prozesses, eines vielleicht sogar in neuen Formen unterdrückenden Prozesses, zum Beispiel durch Internetzensur - dieser Autor, den wir jetzt gerade zitiert hören, ist ja wegen Internetveröffentlichung ins Gefängnis gewandert - oder aber auch durch andere Krisenszenarien, etwa die nationalistische Großstimmung, die eine politische Dissens schon deshalb nicht erlaubt, weil jede andere Meinung als antichinesische Meinung eingestuft wird.

    Fischer: Diese zwiespältige Öffnung Chinas ist ja seit Wochen Thema bei uns eigentlich. Hier auf der Buchmesse präsentiert sich das Gastland unter der Überschrift "Tradition und Innovation", hat also auch diesen Weg in die Moderne, in die Zukunft mit drin. Das bezieht sich vor allem auf die alte und neue Schrift- und Buchkultur. Auch Schildkrötenpanzer, das haben wir gelernt, dienten vor 1000 Jahren schon als Kommunikationsmittel. Wie genau sieht der Landespavillon der Chinesen hier aus?

    Shi Ming: Der Pavillon erweckte, bei mir jedenfalls, einen schlichten, funktionalen, fast technizistischen ästhetischen Eindruck. Also man betont, was funktioniert, was funktionieren sollte. Man betont auch, dass die Kommunikation nicht ein Selbstzweck ist, sondern die Gänge werden breiter, auch repräsentativer, die Musik wird musealer, auch die Darbietung hat eher Marktcharakter als eben einen intellektuellen Charakter. Man fokussiert alles in diesem Pavillon auf eine gewisse Funktionalität. Nur diese Funktionalität lässt sich so nicht mehr definieren.

    Fischer: Es wird vor allem Schrift und wie Schrift hergestellt wird vorgeführt?

    Shi Ming: Zum Beispiel, das ist eine Metapher. Man stellt heute nicht mehr nur Schrift her, sondern alles andere auch. Also Druck oder Internetverbindungen, Kommunikation, aber auch Zensur - das stellt man alles her.

    Fischer: Wir haben viel über Chinas Aufbruch ins Zeitalter des Kapitalismus gehört, über die aggressive Gangart, die aber doch etwas mehr Meinungspluralismus mit sich bringt. Dennoch habe ich jetzt schon mehrfach gehört, dass die Öffnung des Marktes in China, was die Literatur betrifft, zu einem Niedergang geführt hat, in dem Sinne, dass viel mehr Schlechtes, weil eben Verkäufliches, Marktgängiges produziert wird. Seit Bei Dao oder Lu Xun sei die Literatur auf den Hund gekommen. Können Sie das nachvollziehen, sehen Sie das auch so?

    Shi Ming: Teilweise ist es auch so. Zumindest bezogen auf die Romanliteratur ist es so, dass die große Prosa offenbar nicht den Markt trifft, jedenfalls nicht in einer epischen Form, dass man also einen Zeitquerschnitt hergibt.

    Momentanaufnahmen zum Beispiel durch Lyrik, die finden sich trotzdem noch recht gut vor, oder eben etwas seichtere oder sehr kommerzialisierte Literatur verbreitet sich sehr stark. Aber das hängt ja auch damit zusammen, nicht nur, dass die moderne Filmkultur und Internet diese Visualisierungsversuchung voll ausgeübt hat, dass man lieber etwas sieht oder vermeintlich sieht, als etwas spürt. Sondern es gibt noch einen ganz gewichtigen Grund, weil auch die lesende Elite heute so verwirrt ist.

    Also ein Professor zum Beispiel an der Uni, wo findet er seinen Sinn? Gibt er also Unterricht, den er gerade vom Westen kopiert hat? Erzählt er also von Jürgen Habermas, kann aber nicht die Vernunft der Kommunikation ausüben? Lehrt er Marxismus, muss aber den Kapitalismus draußen vor der Tür in voller Wucht ausleben? Diese Leserschaft, die eine Multiplikatorenrolle immer schon gespielt haben für schöne Literatur - für Romane zum Beispiel -, die ist heute noch auf einer Suche nach sich selbst. Und schon gar nicht sind sie auf die Idee gekommen, nach etwas zu Lesendes [zu greifen], um sich zu finden. Und das mag vielleicht ein Grund sein, warum die gleichen Machtverhältnisse oder gleicher Marktfanatismus in Amerika immer wieder große Romane hervorbringt, aber nicht in China.

    Fischer: Wenn man die Feuilletons der letzten Wochen durchgeguckt hat, dann war dort eigentlich abzulesen, dass die bedeutenden und guten chinesischen Romane uns nicht entgangen sein können. Sie haben heute den Gang über die Messe und zu den chinesischen Verlagen hinter sich. Was ist Ihnen dort aufgefallen, positiv wie negativ?

    Shi Ming: Also sehr positiv ist eher der Bereich der Sachbücher, und dort insbesondere der Bereich der Übersetzungen, zum Beispiel Philosophie. Es sind alle Philosophen des 20. Jahrhunderts präsentiert, in chinesischer Sprache. Nietzsche ist dabei, Heidegger ist dabei, Jaspers ist dabei, Derrida ist dabei, Jürgen Habermas ist dabei, auch die Deutungen.

    Also diese Breite der Philosophen als Übersetzungen, das zeigte schon einen Querschnitt, wie groß das potenzielle Bedürfnis ist, um auch diese neue Welt aus westlicher Perspektive tief zu verstehen. Andererseits aber gibt es sehr wenige Sachbücher, die diese philosophischen Ansätze aufgreifen und beziehen auf chinesische Realität. Mag sein, dass das aus politischer Vorsicht geschieht, aber es mag auch sein, dass man noch gar nicht aus der Phase des sogenannten kognitiven Lernens sich herausgefunden hat, sondern noch dabei ist.

    Was die schöngeistige Literatur angeht, ist das Ergebnis besonders dürftig. Es gibt ein paar Romane, aber noch nicht mal die besten, die in China ausgezeichnet sind, sind hier präsentiert, sondern es gibt historisch neu gemachte Romane - über Konfuzius, über sich streitende Königreiche. Vielleicht ist es eine PR-Nummer, dass man die schöngeistige Literatur gar nicht hier anbieten will, damit die schöngeistigen und kritischen Diskussionen anhand dieser Romane sich nicht entzünden können, aber vielleicht liegt das auch daran, dass so viele Romane gar nicht da sind.

    Fischer: Dann sagen Sie uns bitte zum Schluss, Shi Ming: Welchen chinesischen Autor, der die Realität heute abbildet, müssen wir in Deutschland, der übersetzt worden ist, jetzt zur Kenntnis nehmen unbedingt?

    Shi Ming: Ma Jian ist schon ein gutes Beispiel, Yu Hua ist ein gutes Beispiel, Yan Lianke ist ein gutes Beispiel. Es gibt einen Roman, der jetzt gerade von Suhrkamp rausgekommen ist, oder besser gesagt, es ist eher eine Reportage - die Geschichten der Rechtsabweichler in einem Umerziehungslager -, hervorragende Literatur, sollte man lesen.

    Fischer: Herzlichen Dank, Shi Ming, für diese Eindrücke vom Gastland China hier auf der Frankfurter Buchmesse.