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'Pelléas et Mélisande'

Das Regietheater treibt seine Stilblüten: Viel Sonnenblumen prangen in der Klinik Allemonde, mit der Kazuko Watanabe die Bühne des hannoverschen Opernhauses verbaute. Die traumhafte Atmosphäre, das phantastische Mittelalter, in dem Misstrauen und Eifersucht des Machtmenschen Golaud eskalieren und sich tödlich konkretisieren, ist der fast lebensechten Darstellung des Konflikts in der Patchwork-Familie des Königs Arkel gewichen. Ein weißer Korridor, allzeit hell ausgeleuchtet, dient als Rahmen – Krankenhaustüren führen nach links und rechts zum Wartebereich und zu einem offensichtlich der Behandlung dienenden Zimmer, zur Essnische und anderen, freilich uneinsichtigen Funktionsräumen; auf einem Tischchen in halber Tiefe des Flurs liegt – bitte bedienen Sie sich! – Informationsmaterial und steht eine große Flasche Volvic, aus der die des Wegs Kommenden jeweils gerne einen großen Schluck nehmen. Das stille Wasser steht für den Quell. Die mittelalterliche Finsternis, die Dämmerung der Frühe und das Zwielicht der langsam herabsinkenden Abende ist der schonungslosen Erleuchtung eines durch und durch aufgeklärten Zugriffs auf die wenigstens halbdunkle Geschichte gewichen. Dem entspricht der klare und harte Zugriff des Dirigenten Shao-Chia Lü, der die schwebende und webende Musik ziemlich zügig und gänzlich unsentimental durchtreibt:

Ein Beitrag von Frieder Reininghaus |
    Die vier Generationen der Arkels erscheinen in auffälliger Weise unvollständig. Da ist der alte König – und benimmt sich jetzt wie ein alter Kiffer...

    ...der 68er-Generation. Geneviève, seine Schwiegertochter, die Mutter von Golaud sowie dessen Halbbruder Pelléas, wird in Jossi Wielers Inszenierung von Danielle Grima als Alt-Alternative dargestellt – mit reichem Sortiment an geblümter und gesternten Röcken, gestählt vom Töpfern in der Toskana und den Selbstbefreiungs-Trommelkursen in Sambia: eine unendlich nachsichtige und allzu nachgiebige Mutti und Oma, die ganz offensichtlich mit der Verantwortung für ihren Enkel Yniold überfordert ist. Der Kleine hantiert heftig mit Plastik-Panzer und Jagdbombern; er tritt heftig gegen die Wände und bearbeitet diese auch aus vollen Händen mit Farbe, vor der schließlich selbst der helle Anzug des Vaters Golaud nicht verschont bleibt.

    Als auf der Jagd verirrter Witwer Golaud drückt sich Oliver Zwarg, exemplarisch ein mittlerer Angestellter und von robustester Natur, im Wartebereich herum; dort gabelt er mit der womöglich frisch aus Osteuropa importierten Alla Kravchuk, der zumindest leicht verwirrt und ziemlich verhuscht wirkenden Mélisande, fast beiläufig seine neue Frau auf. Die aber fühlt sich sichtbar rasch zum nichtsnutzigen Pelléas hingezogen, der ein breites Sortiment Sportkleidung zu Schau stellt; doch erst einmal diszipliniert sich Golaud um des Familienfriedens willen. Freilich brechen dann die Dämme des angestauten Frusts und der Eifersucht. Mit drei Schüssen streckt er Pelléas nieder und verletzt seine schwangere Frau so schwer, dass sie sich nicht mehr erholt.

    Vordergründig haben Wieler und Morabito die alte, archaisierende Geschichte neu und modern erzählt. Doch das Konzept der Familientherapie in Hannover geht nicht auf. Denn es ist so gar nicht einsichtig, warum Golaud zwischen elastischer Binde über der Schulter und computernervösen Fingern ein Schwert zu braucht, warum die Familienmitglieder singend Sie zueinander sagen und was es mit der Krone auf sich haben sollte, die Mélisande anfänglich beim Weinen ins (nicht vorhandene) Wasser stürzt. Zu wesentlichen Dimensionen des Werks verhält sich die Inszenierung einfach gar nicht. Ihr dramaturgischer Grundfehler ist: dass sie die historische Königsebene in das Milieu eines finanziell aufgeblasenen Kleinbürgertums am Rande der Gegenwart transponiert, für das die Delial- Sonnencreme bedeutend wichtiger ist als die Delikatesse des Maeterlinck-Texts. Mit ihrem brutal banalisierenden Zugriff tragen alternde Jungtheatermacher wie Jossi Wieler frischfröhlich zu jenem "Kulturabbau" bei, als dessen Betreiberin sie die politische Klasse der Republik denunzieren.

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