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Per Achterbahn zum Schleudertrauma

Medizin. - Rund 200.000 Autounfälle passieren jedes Jahr in Deutschland. Eine der oft als harmlos angesehenen Folgen ist das Schleudertrauma. Für die Betroffenen ist so ein Schleudertrauma allerdings in mehrfacher Hinsicht unangenehm. Nicht nur, dass sie Schmerzen haben und in ihrer Bewegungsfähigkeit eingeschränkt sind. Oft wird ihnen auch unterstellt, die Krankheit nur zu simulieren. Denn oft lässt sich ein Schleudertrauma nicht nachweisen. Das wollen Ulmer und Darmstädter Wissenschaftler jetzt ändern.

25.02.2003
    Von Andrea Vogel

    Nur drei bis fünf Prozent der Schleudertraumata kann ein Arzt mit Verfahren wie zum Beispiel der Computertomographie erkennen. Alle anderen Betroffenen müssen sich immer wieder den Vorwurf gefallen lassen, sich auf Kosten des Gesundheitssystems vor der Arbeit zu drücken.

    Ein Schleudertrauma zieht zurzeit oft lange rechtliche Streitigkeiten von Krankenversicherungen und Patienten nach sich; was natürlich dann sehr nervenaufreibend für beide Seiten sein kann und den Patienten dann noch zusätzlich belastet; und es fehlt einfach an aussagekräftigen Diagnosemöglichkeiten und auch an Therapiestrategien, um diese Patienten dann halt dementsprechend zu behandeln.

    weiß Ulrich Bockholt vom Fraunhofer-Institut für Graphische Datenverarbeitung in Darmstadt. Gemeinsam mit dem Mediziner Dr. Michael Kramer von der Ulmer Universitätsklinik entwickeln und erproben Bockholt und seine Kollegen jetzt ein neues Verfahren, um Schleudertraumata sicher diagnostizieren zu können. Dazu schicken die Wissenschaftler die Patienten quasi "mit Scheuklappen" in eine virtuelle Realität: Sie bekommen eine Art Helm aufgesetzt, an dessen Vorderseite ein Display angebracht ist: Ihr Fenster zur künstlichen Umwelt.

    Dieser Datenhelm hat eigentlich den Nachteil, dass er ein sehr eingeschränktes Blickfeld bietet. Aber in unserem Fall ist das ein Vorteil, weil, wenn wir jetzt in der virtuellen Welt eine Bewegung vorgeben, z.B. einen Schmetterling, der durch diese virtuelle Welt fliegt, muss der Patient, um diese Flugbahn verfolgen zu können, diese Flugbahn genau durch seine Kopfbewegung verfolgen.

    Und genau diese Kopfbewegungen sollen in Zukunft das Schleudertrauma sichtbar machen. Ungefähr wie eine liegende Acht sieht die Flugbahn des Schmetterlings aus. Wie groß diese Acht ist, das legen die Patienten zu Beginn des Versuchs selbst fest. Die Fraunhofer-Forscher verändern dann nach und nach die Geschwindigkeit, mit der das virtuelle Insekt seine Bahnen zieht. Gleichzeitig messen sie, wie zügig und glatt der Patient dieser schneller werdenden Bewegung mit seinen Kopfbewegungen folgen kann. Bremst er oder weicht bestimmten Positionen aus, so ist das ein erster Hinweis auf das gesuchte Schleudertrauma. Einen zweiten Hinweis gibt das so genannte EMG, das sind elektrische Signale, die die Muskeln des Patienten aussenden.

    Das EMG-Signal wird am Nacken abgegriffen, und damit können wir feststellen, bei welchen Bewegungsmustern Schmerzen auftreten.

    Diese Schmerzsensoren sind eine Entwicklung der Unfallchirurgen der Universitätsklinik in Ulm. Den Schmerz selbst können die Mediziner zwar nicht sehen, wohl aber die Reaktion des Muskels. Der macht nämlich unter Schmerzen genau das Gegenteil von dem, was er eigentlich tun sollte: Ist aktiv, wenn er ruhen sollte und passiv, wenn er sich zusammenziehen müsste. Dadurch unterscheidet sich das EMG-Signal bei Schmerzen auffällig vom gesunden. Die Schmerzmessung wird jetzt mit der virtuellen Realität gekoppelt. Während also der Patient den flatternden Schmetterling beobachtet, wird nicht nur gemessen, wie schnell und gleichmäßig seine Bewegungen sind, sondern auch registriert, wann seine Nackenmuskeln anfangen wehzutun. Dieses Schmerzsignal wiederum beeinflusst das Geschehen in der virtuellen Welt.

    Die Rückkopplung ist natürlich beliebig skalierbar. Man kann halt anfangen mit einem Not-Aus, dass ich sage: Wenn ein gewisser Schwellwert überschritten wird, stoppe ich sofort das System, als minimale Sicherheit; aber wir wollen natürlich eine Echtzeit-Rückkopplung vom EMG auf die virtuelle Welt entwickeln, so dass wir das Signal verlangsamen und automatisch auch die Bewegungsmuster wiederholen, die als schmerzverursachend identifiziert wurden.

    Gerade diese Rückkopplung muss aber noch genau untersucht und vor allem überprüft werden. Denn schließlich wollen die Darmstädter und Ulmer Wissenschaftler ihren Patienten nicht versehentlich schlimme Schmerzen bereiten. Bis Unfallopfer ihre Schädigung mit Hilfe des neuen Geräts beweisen können, wird darum noch einige Zeit vergehen. Erste Testreihen sind für den Sommer geplant, an Patienten mit Schleudertrauma wird das Gerät wohl frühestens im nächsten Jahr ausprobiert werden.