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Perfektion als Schönheitsideal
Die neue Lust am Körperkult

Käme ein Mensch aus dem Mittelalter per Zeitreise in unsere heutige Welt, er wäre sprachlos vor so viel schönen Menschen. Was er nicht wissen kann: Es wird kräftig nachgeholfen. Philosophen, Soziologen, Psychologen und Theologen bewerten das ganz unterschiedlich.

Von Peter Leusch | 22.08.2013
Fitness: Den Körper bearbeiten
Fitness: Den Körper bearbeiten (imago/Ikon Images)
"Man kann es sehen an Reaktionen, die Fußballspieler zeigen in Situationen, die kein Mensch intellektuell bewältigen kann, zum Beispiel sogenannte intelligente Pässe spielen. Wir können auch Leichtathletik nehmen, Handball, Schwimmen: Wir sehen überall, wie der Körper den Menschen in Situationen einpasst, da hat der Körper Priorität. Er führt den Menschen sozusagen, er führt das geistige Verständnis. Wenn wir es getan haben, dann begreifen wir, warum wir das getan haben, aber nicht in dem Moment, wo wir es tun."

Gunter Gebauer, Philosoph, Sportwissenschaftler, FU Berlin.

"Was ist eigentlich in der Moderne mit dem Mythos Topform, der allerorten aus den Medien, aus den Gazetten, aus den Kiosken quillt: Schönheitsideal, Körperkult, Fitnesskult - wenn wir alle fit und ideal sein müssen, wie gehen wir mit behinderten Menschen, mit kranken, mit sterbenden Menschen um. Differenzieren wir die aus, schieben wir sie weg und wird dann damit das, was wir wirklich sind, nämlich zutiefst verletzlich, sterblich, verfallend - ich bin jetzt auch 55 und tue mich schwer im Fußball, dass das nicht mehr integrierbar wird ins eigene Selbstbild."

Jochen Wagner, Philosoph, Theologe, Pfarrer, Evangelische Akademie Tutzing.

"Wenn man die Geschichte des Körpers über einen längeren Zeitraum hin anguckt, dann erleben wir seit der Mitte des 20. Jahrhunderts eine Gegenbewegung zu dem, was über Jahrhunderte zumindest in einer Kultur, wie der unseren üblich war, nämlich die Körperverdrängung. Und jetzt kommt es zu einer Körperaufwertung, das finde ich, wenn ich es bewerten soll, erst einmal eine ganz positive Entwicklung."

Robert Gugutzer, Soziologe, Universität Frankfurt.

Drei Wissenschaftler verschiedener Disziplinen, die aus ihrer jeweiligen Perspektive heraus das Thema Körper anschneiden und dabei positive wie negative Aspekte der Entwicklung beleuchten. Denn mit seiner steilen Karriere im vergangenen Jahrhundert, die immer noch weiter zu gehen scheint, ist der Körper mit seiner kulturellen Bedeutung in den Fokus wissenschaftlicher Untersuchungen und Reflexionen gerückt.

Wenn man an das ausgehende 19. Jahrhundert zurückdenkt, an die Leibfeindschaft des Bürgertums, das die Frauen in Korsetts und beide Geschlechter in starre Konventionen presste, dann waren die Reformbewegungen in der Wende zum 20. Jahrhundert - Nudismus, Tanzkultur, Sportbegeisterung - ein mächtiger Freiheitsschub für den Körper, der sich offen zeigen, freier bewegen und ausdrücken durfte. Nirgendwo spiegelt sich die gewachsene Bedeutung des Körpers heute so deutlich wie im Sport, in der Popularität des Spitzensports ebenso wie im Freizeitsport und in der Fitnessbegeisterung.

Gabrielle Caine, Sportlehrerin an einer Einrichtung für geistig behinderte Menschen der Diakonie Nieder-Ramstadt, trainiert eine Fußball-AG.

"Im Training werden Bewegungsabläufe eingeübt, natürlich wird der Freistoß eingeübt, natürlich wird die Ecke auch eingeübt, aber teilweise kommt sie nicht im Spiel, weil das nicht so wichtig war für den Spieler, dieses Programm abspulen zu lassen kognitiv. Sondern er erinnert sich an etwas ganz anderes, er schießt auf das Tor und hat sein Bein in dem Moment so gestellt, dass der Ball in die lange Ecke kommt und der Torwart nicht die Möglichkeit hat, den Ball festzuhalten. Wenn er dann gefragt wird von mir oder anderen: Du, das war ein klasse Tor, wie in der Bundesliga. Wie hast du das gemacht? - Dann sagt er einfach: Das habe ich nicht gemacht, das macht mein Bein."

Die Antwort spricht aus, dass der Körper mehr ist als ein organischer Komplex aus Gliedern, Muskeln und Gelenken, die unserem Willen gehorchen, der Körper vermag oft praktizierte Bewegungsabläufe zu speichern und zu automatisieren – Gehen, Schwimmen, Radfahren sind Beispiele solchen Könnens, das gemeinhin allein dem Geist zugeschrieben wurde. Gunter Gebauer:

"Wir müssen schon annehmen, dass der Körper gelehrig ist, dass er etwas in seinem Training aufnehmen kann, dadurch, dass wir ständig gespielt haben als junge Spieler, dass wir so etwas wie ein Verständnis uns angeeignet haben. Etwas, dass wir uns in der Welt sinnvoll bewegen, ohne, dass wir uns immer diesen Sinn intellektuell, also kognitiv, erschließen."

Gunter Gebauer nennt andere Beispiele, Erfahrungen, die jeder aus dem Alltag kennt: ein Türschloss, das klemmt, sodass wir x-mal mit dem Schlüssel vergeblich ansetzen, bevor es aufgeht. Doch irgendwann haben wir den Kniff, die spezifische Bewegung herausgefunden. Und ab da lässt sich die Tür ohne Probleme öffnen. Muss unser Kopf dafür irgendeine Überlegung anstellen – nein, denn die Hand weiß es.

Die Psychologen sprechen vom Leibgedächtnis. Freilich sind es nicht nur Fertigkeiten und positive Erfahrungen, die das Leibgedächtnis speichert, sondern auch negative Erlebnisse, seelische Verletzungen, Traumata, die geweckt werden, ohne dass das Bewusstsein gefragt wird. Gabrielle Caine:

"Das ist eigentlich auch das Problem, dass die traurigen und negativen Erlebnisse oder Situationen eher noch zum Tragen kommen, sich leichter auslösen als die positiven. Ich beobachte das auch, wenn Erinnerungen an Krankenhausaufenthalte kommen. Wenn ein Krankenwagen vorbeifährt oder das Blaulicht gehört wird, dass das fast immer mitbedeutet: Ich werde abgeholt, ich komme irgendwohin. Wenn man in der Kindheitserinnerung nachgräbt und solche Sachen ebendort stattgefunden haben. Oft haben die geistig Behinderten eine Heimkarriere hinter sich, sie sind in verschiedenen Heimen aufgewachsen und immer mit einem bestimmten Auto abgeholt worden und assoziieren das dann mit Angst und Trauer."

Im Positiven wie im Negativen arbeiten unsere Sinne dem Leibgedächtnis zu. Das tun eben auch die lange von der neuzeitlichen Philosophie geschmähten sogenannten niederen Sinne wie Riechen und Schmecken. Doch dabei verkannte die Bewusstseinsphilosophie, welche wichtige Rolle Geruch und Geschmack für eine lebendige Erinnerung spielen. Vermutlich liegt die Anziehungskraft der Weihnachtsmärkte für viele gerade darin, dass der Geruch von Kerzenwachs, Glühwein und Gewürzen Bilder und Gefühle der Kindheit aufleben lässt. Elisabeth Gräb-Schmidt, evangelische Theologin an der Universität Tübingen, denkt konkret an den Umgang mit altersdementen Menschen. Ihr Plädoyer hat Konsequenzen für ein Menschenbild, das immer noch sehr einseitig an Vernunft und Ratio ausgerichtet ist.

"Wir haben im Zuge der Diskussion über die Frage, ind alle Menschen Personen, oft darauf Bezug nehmen müssen, dass Vernunft und Personenverständnis miteinander korrelieren. Dass am Vernunftverständnis, am Bewusstseinszustand der Menschen ihre Autonomie und Freiheitsfähigkeit angebunden ist. Wir erkennen mittlerweile, dass das eine Engführung ist, dass nicht nur die Vernunft, sondern auch der Leib eine ganz wesentliche Rolle spielt für das Verständnis der Person."

Korrekturen im philosophisch-anthropologischen Verständnis des Menschen zugunsten seiner Leiblichkeit haben auch eine praktische Seite. Jenseits der verbalen Kommunikation, des Gesprächs, das mit einem schwer Dementen nicht mehr möglich ist, zeigen sich andere Formen des zwischenmenschlichen Kontakts.

"Wenn man Menschen Situationen aussetzt, zum Beispiel, wenn ein Opa mit seinem Enkel zum Fußballspiel geht, erlebt man, wie ganz andere Dimensionen in diesen Menschen wieder wach werden und die Demenz völlig in den Hintergrund tritt. Er reagiert wieder ganz normal und auch für die Angehörigen wird deutlich, es ist hier noch vieles da, an was wir anknüpfen können."

Die Leiblichkeit im Personenbegriff stärker zu betonen, ist auch eine Herausforderung an die Theologie. Zwar hielt die christliche Lehre immer an einer Leib-Seele-Einheit fest, aber dort wo sie platonisches Gedankengut aufnahm, vor allem bei Paulus, tendiert sie bis heute zur Geringschätzung alles Körperlichen. Elisabeth Gräb-Schmidt plädiert für einen theologischen Akzentwechsel.

"Das Christentum hat zwei Wurzeln, einmal das griechische Denken und einmal das hebräische Denken. Und im Zuge des griechischen Denkens, das sehr lange auch dominant war, ist diese philosophische am Geist, am Intellekt, an der Ratio orientierte Linie maßgeblich geworden. Mehr und mehr merkt man aber, dass man sich auch auf das alttestamentarische hebräische Denken rückbesinnt, wo eben die Leiblichkeit eine sehr große Rolle spielt. Und das ist der andere Strang des Christentums, der auch immer präsent war, der aber auch wieder verstärkt ins Bewusstsein gehoben werden sollte, um sich daran zu orientieren und die Ganzheit des Menschen zu befördern helfen."

Allerdings sind wir in einer paradoxen Situation. Denn während die einen Wissenschaftler mit Blick auf den Umgang mit Altersdemenz immer noch von einer Unterschätzung der Leiberfahrung sprechen, diagnostizieren andere mit Blick auf Fitnesswahn und Schönheitskult ganz im Gegenteil eine Überschätzung des Körpers.

Robert Gugutzer, Soziologe an der Universität Frankfurt, sieht dabei den neuen Körperkult in einem bestimmten Zusammenhang:

"Der Körperkult wird zu einer Diesseitsreligion. Der Religionssoziologe Thomas Luckmann hat einmal gesagt, das 20. Jahrhundert sei dadurch gekennzeichnet, dass es zu einer Schrumpfung der Transzendenzen gekommen sei. Die Religion verkörpert große Transzendenzen, das ist das Jenseits, der metaphysische, überempirische Gott. Aber wir leben in einer Zeit, in der weniger diese großen Transzendenzen für den Menschen wichtig sind, sondern was er dann ganz einfach mittlere oder kleine Transzendenzen nennt, der Körper, das eigene Ich, die Selbstverwirklichung, die Autonomie, - solche Themen werden für den Menschen wichtig."

Der Gegenpol zum Körper, der Begriff der Seele, gerät dagegen in den säkularisierten Gesellschaften der modernen Welt immer diffuser und zweifelhafter. In dem Maße, wie der Glaube ans Jenseits von vielen aufgegeben wurde, haben sich die Menschen verstärkt dem Diesseits zugewandt. Der Körper ist nicht nur physische Grundlage, sondern letzte Sinninstanz, ja für manche sogar eine Art Seelenersatz geworden.

Aber im Kult um den Körper wird das Körperliche selbst mitnichten anerkannt. Vielmehr wird der Körper an medialen Bildern vermessen, denen er zu gleichen hat: Er soll schön und schlank, fit und jugendlich sein. Dafür muss er bearbeitet werden, notfalls auch leiden. Und immer mehr Mittel sind dabei recht:

"Die Schönheitschirurgie ist natürlich so eine technologische Möglichkeit, sich mit dem Körper auseinanderzusetzen, ihn zu perfektionieren. Ein Soziologe namens Erwin Gofman nennt das "das beste Selbst herstellen". Und das passt wieder zu dieser These, dass der Körperkult die Religion ein Stück weit ersetzt, es entsteht so ein Kult um das eigene Selbst, das Selbst wird sozusagen zum Heiligtum, wird sakral initiiert. Und dafür ist der Körper ein wunderbares Mittel, denn der Körper das bin ja immer auch ich. Da ist keine Trennung. Wann immer man sich intensiv mit dem Körper auseinandersetzt, dann tut man ja auch etwas für sich."

Natürlich hat die Entwicklung der Hygiene, der Körperpflege, auch der Ästhetisierung Standards gesetzt, hinter die westliche Menschen weder zurück wollen, noch können. Der Regisseur Fellini liebte es, in seinen Filmen skurril-hässliche Gesichter und Gestalten auftauchen zu lassen. Wer heute in einer bundesdeutschen Gesellschaft mit einem ungepflegten Gebiss herumläuft, disqualifiziert sich selbst. Er ist sozial stigmatisiert, weil die Krankenkassen dieses Mindestmaß an Ästhetik unterstützen, noch jedenfalls.

Aber man kann das Gedankenspiel weitertreiben. Wenn die kosmetischen Operationen fortschreiten, gentechnologische Manipulation hinzukommen, welche Standards gibt es morgen? Ist man sozialer Außenseiter, wenn man seine Schlupflider nicht operieren, kein Fett absaugen lässt oder bestimmte gentechnologische Tests und Eingriffe bei sich oder seinen Kindern ablehnt? Vielleicht fehlt es den meisten an Geld, ihren Körper in teuren Maßnahmen aufzurüsten und sich Lebensqualität zu kaufen?

Jochen Wagner, Theologe und evangelischer Pfarrer:

"Ich glaube in keinem Land, noch dazu katholisch, wird so viel Schönheitsoperation betrieben wie in Brasilien. Da gibt es unendlich viele Frauen. Ich glaube, im Jahr ist es eine Million, die sich unter das Messer legen, um den Körper in irgendeiner Form zu dem Ideal zu bringen, was gerade medial platziert wird."

Man kann den Körper nicht einfach sein lassen, akzeptieren, wie er ist. Vielmehr wird der Körper zu einem Projekt, zu einer Aufgabe, der man sich widmet. Es gilt, den eigenen Körper in Fitnessprogrammen zu formen, in kosmetischen Operationen zu bearbeiten. Der Körper ist ein Statussymbol geworden. Früher sagte man: Kleider machen Leute. Heute muss man ergänzen: Körper machen Leute. Gunter Gebauer:

"Wenn Menschen davon überzeugt sind, dass es schöner ist, wenn ein Chef schlank ist und groß ist und durch die Größe und Schlankheit und die laute feste Stimme beispielsweise Leute in Bann schlagen kann. Wenn wir das schon erwarten, dann ist es ganz normal, dass wir so einen Chef bekommen. Wenn wir darüber nachdenken, können wir natürlich sagen, warum muss der nun groß sein, der kann doch auch klein sein. Napoleon war ganz klein und hat halb Europa beherrscht. Aber wenn wir uns umschauen unter den deutschen Spitzenmanagern ist kaum jemand unter 1,85 groß. Wir sind nicht frei von solchen Vorurteilen. Wenn solche Leute vor einem stehen und sie werden von Hunderten anderen angehimmelt und sie machen einfach einen klasse Eindruck, dann kann man sich dem einfach nicht entziehen."

Sitzen wir in der Falle unserer Bilder und Vorurteile? Während der Körper nach Jahrhunderten der Geringschätzung rehabilitiert wurde, während sein Erfahrungsreichtum und seine Möglichkeiten wiederentdeckt und wissenschaftlich neu bewertet werden - Stichwort Leibgedächtnis -, ist der Körper im Fitness- und Schönheitskult bereits neuen Zwängen unterworfen, wo das Wunschbild der Befreiung in krankmachende Ideale umschlägt. Besonders augenfällig dann, wenn das strahlende Image eines Spitzensportlers zerbricht und dahinter die ruinöse Ausbeutung seines Körpers sichtbar wird.

Perfekt sind nur die Bilder und Mythen des Körpers, der wirkliche Körper, das heißt der Mensch, ist es nicht.