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Perfektionismus-Wahn in der Familie

Lügen und Geheimnisse innerhalb einer Familie: Das waren auch schon zentrale Motive in der erfolgreichen Kinokomödie "Good Bye, Lenin!", für die Bernd Lichtenberg das Drehbuch schrieb. Anders als in dem Film ist das Maskenspiel in Lichtenbergs ersten Roman nun sehr viel düsterer.

Von Gisa Funck | 29.06.2010
    Ein blechernes Geräusch durchschnitt den Morgen und weckte Johannes eine Stunde, bevor sein Wecker klingeln sollte. Marianne, seine Frau, lag wie ein Stein neben ihm im Bett. Johannes (...) stand leise auf, streifte sich den Bademantel über (...) und ging barfuß hinunter in die Küche. Mit einem Glas Leitungswasser in der Hand trat er auf die Terrasse. Es war ganz still, im ersten Morgenlicht sah der Garten aus wie ein lange verlassenes Paradies. (...) Johannes trank in wenigen Schlucken das Glas aus und suchte nach der Ursache des Geräusches, das ihn aus dem Schlaf gerissen hatte. Nichts zu sehen. (...) Etwas Rotes schimmerte auf dem Rasen, (...) eine Schachtel Pallmall. Drei Zigaretten steckten noch in der Packung. Johannes fröstelte, als er sie nun fest umschlossen in der Hand hielt. Der Zaun war zu weit weg, (...) als dass jemand die Packung bis hierher hätte werfen können. (...) Johannes spürte plötzlich eine Unbehaglichkeit in seinem Körper.
    Nach außen hin scheint bei der Kleinfamilie Stelzer in Bernd Lichtenbergs Roman "Kolonie der Nomaden" eigentlich alles in Ordnung zu sein. Vater Johannes ist um die 50 und arbeitet als Journalist in Köln. Mutter Marianne, ungefähr gleichaltrig und eine ehemalige Schauspielerin, betätigt sich erfolgreich als Maklerin von Fertighäusern. Und das einzige Kind der beiden, Sohn Paul, studiert mit Anfang 20 Philosophie in Berlin. So weit - so problemlos das Klischeebild einer scheinbar glücklichen Akademikerfamilie.

    Doch schon in der allerersten Szene des Romans, als Vater Johannes durch ein merkwürdiges Geräusch im Garten geweckt wird, zeigt der Fund eine fremden Zigarettenschachtel: Irgendetwas stimmt nicht mit Lichtenbergs Vorzeigefamilie am Tag vor der Beerdigung des Großvaters, für die Sohn Paul nach längerer Zeit wieder einmal die Eltern besucht. Ein Familientreffen, das wie so viele Familientreffen der Literaturgeschichte, zum Enthüllungstermin wird, bei dem lange verschwiegene Lügen und alte Geheimnisse ans Licht kommen. Bernd Lichtenberg:

    "Angst ist ein großes Thema und das ist ja auch schon in diesem allerersten Bild drin, dass er draußen etwas hört. Aber es ist nicht nur die eine Angst von ihm, dass jemand in diese Welt eindringt, es gibt auch verschiedene Ängste. Man kann vielleicht bei Marianne sagen, es ist die Angst, stecken zu bleiben in dieser Situation. Es ist bei Paul die Angst Erwartungen nicht zu erfüllen, zu gucken, was sage ich meinen Eltern, was für ein Leben ich in Berlin habe als Student, was gar nicht stimmt. Der Wunsch, perfekt zu sein, sich einzuordnen, dieses Hadern ist schon da, dass man das nicht schafft. Und viel zu spät kommt eigentlich die Erkenntnis, dass man ja auch anders mit diesem Druck umgehen könnte."
    Der Wunsch, fremden Erwartungen perfekt zu entsprechen - oder anders formuliert: die Unfähigkeit mit eigenen Fehlern und Schwächen umzugehen - sie macht allen drei Familienmitgliedern im Roman "Kolonie der Nomaden" gehörig zu schaffen. Die wahren Dämonen dieses Psychodramas lauern im eigenen Kopf. Und jeder – Vater, Mutter und Sohn - scheitert hier vor allem an übersteigerten Ansprüchen an sich selbst. Und hat seine jeweils eigene Strategie, dieses Scheitern vor den anderen zu verbergen. Mutter Marianne fühlt sich durch die Ehe mit Johannes eingeengt und flüchtet sich in eine heimliche Affäre mit dem Krankenpfleger des verstorbenen Großvaters. Vater Johannes glaubt als Vater versagt zu haben – und kaschiert das mit Geldgeschenken. Und vor allem Paul, der Sohn, führt seinen Eltern beim Heimatbesuch ein richtiges Schmierentheater vor. Denn eigentlich ist Paul nur noch pro forma in Berlin an der Uni eingeschrieben. In Wahrheit aber hat er schon seit über einem Jahr kein Seminar mehr besucht und vertändelt seine Zeit mit Partys, Internetsurfen und Computerspielen. Paul fühlt sich wie der "totale Versager", wie er selbst sagt. Doch das mag er seinen Eltern nicht gestehen. Also spielt er zuhause lieber den Mustersohn, der ständig mit einem Philosophiebuch von Schopenhauer oder Wittgenstein herumläuft und sich niemandem anvertraut:

    "Da dieser Roman ja multiperspektivisch geschildert ist, hat man auch manchmal das Gefühl, dass sie auf so eine ganz absonderliche Weise vorbeireden. Dass man quasi dem anderen noch etwas vormacht, obwohl eigentlich der andere einem verzeihen würde. Also, dass dieser Druck oder die Angst zwar da ist, dass sie aber eigentlich gar nicht so real ist, sondern: Es ist vor allem die eigene Angst und der eigene Druck, den man sich macht."
    Lügen und Geheimnisse innerhalb einer Familie: Das waren auch schon zentrale Motive in der erfolgreichen Kinokomödie "Good Bye, Lenin!", für die Bernd Lichtenberg als Drehbuchautor 2003 mit dem Europäischen Filmpreis ausgezeichnet wurde. Anders als in "Good Bye, Lenin!" aber, wo ein Sohn seiner strikt sozialistisch gesinnten Mutter in Schildbürger-Manier vorschwindelte, der Mauerfall wäre gar nicht passiert, ist das Maskenspiel in Lichtenbergs ersten Roman nun sehr viel düsterer und sehr viel tragischer. Denn hier ist es keine, bis zur Lächerlichkeit übersteigerte Polit-Ideologie, die eine grandiose Lüge erfordert, sondern ein erschreckend aktuell wirkender Perfektionismus-Wahn, der die erlösende Aussprache zwischen Eltern und Sohn verhindert. Und das wirkt im Roman umso bedrückender, je verzeihlicher die Verfehlungen von Johannes, Marianne und Paul eigentlich von außen erscheinen. Ganz im Gegensatz zu anderen Familiendramen lauert in der Kolonie der Nomaden keineswegs eine skandalträchtige, genretypische Leiche im Keller – gibt es kein monströses Kapitalverbrechen, das unbedingt verheimlicht werden muss. Stattdessen sind es bei den Stelzers relativ profane Fehltritte wie eine außereheliche Affäre, väterliche Versagensängste oder ein verschlamptes Studium, die in den Köpfen der Protagonisten schlimmste Schuldgefühle erzeugen und zu immer neuen Täuschungsmanövern führen:

    "Und das ist vielleicht das Tragische, dass es viele Missverständnisse gibt. Dass man eigentlich viel relaxter zusammen sein könnte, wenn man diese Barrieren nicht hätte, die man selbst gebaut hat."
    Wo andere jüngere deutsche Schriftsteller gerade das generationsübergreifende Epos wiederentdecken, hat Bernd Lichtenberg das System Familie in seinem ersten Roman auf ein 24-stündiges Kammerspiel reduziert, bei dem die Perspektive zwischen Vater, Mutter und Sohn immer wieder hin und her wechselt. Filmschnittartig sind die 21 kurzen Kapitel nebeneinander montiert, die sich regelmäßig chronologisch überlappen. Dadurch werden die jeweiligen Maskeraden für den Leser schnell enttarnt, der in eine quasi-detektivische Rolle rückt. Zusätzlich baut sich eine fast thrillerhafte Spannung im Roman auch deshalb auf, weil Lichtenberg mit Johannes' älterem Bruder Andreas auch noch eine vierte, etwas unheimliche Figur ins Spiel bringt. Denn Andreas ist ein Heimkehrer, den niemand auf der Rechnung hat. Seit Jahrzehnten gilt der Weltenbummler als verschollen. Nun kehrt er ausgerechnet am Tag vor der Beerdigung seines Vaters zurück und umschleicht als unentdeckter Beobachter das Haus, in dem die Lügenkonstrukte der anderen drei Figuren unausweichlich auf eine familiäre Katastrophe hinzusteuern scheinen. Nicht umsonst ist im Roman immer wieder zwischendurch von einem Terroranschlag die Rede. Und läuft direkt vor der Haustür eine Polizeifahndung ab. Die Geister eines übersteigerten Perfektionismus innerhalb der heutigen Leistungsgesellschaft: Sie spielen bis zum überraschenden Knalleffekt am Schluss die eigentliche Hauptrolle in Lichtenbergs exemplarisch anmutendem Familienporträt. Eine rasante und beunruhigende Lektüre, deren sozialkritischen Unterton der Autor durchaus beabsichtigt hat:

    "Es ist ja gar nicht so das große Geheimnis, also es kommt ja in dem Roman nicht irgendwie das große Trauma raus, sondern: Das Tragische ist, in was für Kleinigkeiten wir uns belügen. Dass dieser Anspruch an alle immer noch stärker wird. Und man muss sich auch fragen: Warum gibt es so Amokgeschichten? Warum haben wir so zwei ganz schwere Amokfälle in Deutschland gehabt? Hat das etwas damit zu tun, dass dieser Druck einfach immer so stark ist und dann irgendwann mal die Leute durchdrehen?"

    Bernd Lichtenberg: "Kolonie der Nomaden", Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2010, 224 Seiten, 17.95 Euro.