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Perlen aus Platten

Lange Zeit wurde sie verachtet und vergessen, allmählich aber entdeckt Polen seine Nachkriegsarchitektur wieder. Für manche Perle der Sozialistischen Moderne kommt das Revival zu spät: Sie fielen der Abrissbirne zum Opfer. Die interessantesten Überbleibsel hat ein junger Fotograf nun in einem Bildband gesammelt – und es damit zum Bestseller gebracht.

Von Adalbert Siniawski |
    "Der Hauptbahnhof in Warschau sieht aus wie eine überdimensionierte Haltestelle: ein riesiges Dach, das einen gläsernen Körper überspannt. Interessant sind die Lichtverhältnisse: Wenn keine Reklame vor den deckenhohen Fenstern hängt, ist es hier sehr hell und weitläufig."

    Fotoreporter Filip Springer ist fasziniert, wenn er die hohe Eingangshalle zu "Warszawa Centralna" betrachtet – ebenso die Geschichte: Architekt Arseniusz Romanowicz brauchte im kommunistischen Nachkriegspolen ganze acht Entwürfe und 25 lange Jahre, bis endlich 1972 der Bau des Bahnhofs begann.

    "Dass man den Raum mit all seiner Wucht zu spüren bekommt, war beabsichtigt. Der Bau hatte für die kommunistische Führung höchste Priorität: Sie wollte ihre Macht und Größe demonstrieren. Gleichzeitig sollte der Bahnhof einen supermodernen Gegensatz bilden zum Kulturpalast, der direkt daneben im Zuckerbäckerstil erbaut worden war – ein Sinnbild für die Loslösung vom Stalinismus und für den europäischen Fortschritt."

    Filip Springer ist 30 Jahre jung und einer der gefragtesten Bildjournalisten in Polen. Er reiste kreuz und quer durch das Land zu den vergessenen und lange Zeit verachteten Perlen der Sozialistischen Moderne. Sein Buch ist mehr als ein Bildband: Es geht auch um die Entstehungsgeschichte der Bauten und deren oftmals verkannte Architekten. In den 60ern und 70ern reisten sie in den Westen und suchten dort Inspiration. Wieder daheim, in der Mangelwirtschaft, waren ihre Mittel jedoch einschränkt. Nur für "Warszawa Centralna" wurden Marmor, Alufenster und Rolltreppen aus Italien und der Schweiz herangekarrt.

    "Das ist das einzige Bauwerk dieses Kalibers in Polen. Schon beim Bau des Ostbahnhofs, als Romanowicz sagte, er bräuchte Aluminiumelemente, antwortete man ihm, er solle einfach Stahl nehmen und mit einer silbernen Farbe anmalen. Die schönen Ideen und die Realität im Kommunismus prallten aufeinander. Deshalb mussten die polnischen Architekten kreativer sein als ihre Kollegen im Westen."

    Fehlproduktionen aus der Herstellung von Metallstühlen fanden neue Verwendung beim Bau von Verkaufspavillons. Weil es keinen gescheiten Putz gab, griff man zu einem einfachen Sandgemisch. Die Folge? Die strengen, grauen Fassaden bröckelten schneller als gedacht. Die Gebäude wurden zu einem verhassten Symbol für das zerfallende kommunistische System. Eben "Schlecht geboren" – so die Übersetzung des Buchtitels "Źle urodzone".

    "Die Architektur ist in Polen unbeliebt, weil sie in einer falschen Zeit entstanden ist, also im Kommunismus. Wir verfluchen alles, was damals war. Und wir verfluchen diese Bauwerke, weil sie schmutzig geworden sind und stinken. Niemand hat daran gedacht, sie zu säubern und erst dann zu urteilen, ob sie gut sind oder schlecht. Stattdessen reißt man sie einfach ab. Wenn wir Architektur in politischen Kategorien beurteilen, dann ist das grotesk."

    So wurde zum Beispiel der Bahnhof in Kattowitz vor einiger Zeit gesprengt – mit seinen kelchförmigen Säulen ein einzigartiges Beispiel für den so genannten Brutalismus-Stil. Vor drei Wochen wurde der austauschbare Nachfolgebau eingeweiht. Ausgerechnet die Wirtschaftskrise hat "Warszawa Centralna" vor einem ähnlichen Schicksal bewahrt: Für einen neuen Bahnhof fehlte das Geld, stattdessen wurde der alte kurz vor der Fußball-EM hochglanzpoliert. Ohne das frühere kommunistische Grau erscheint die Sozialistische Moderne viel lichter. Ein Stimmungsumschwung ist wahrnehmbar.

    "Jetzt schlägt das Pendel in die andere Richtung aus: Alles, was in der Volksrepublik entstanden ist und nach Oldschool aussieht, gilt als modern und trendy. Vor allem die jungen Hipster sehen das so. Aber das ist auch nicht ganz richtig, denn nicht alles aus der damaligen Zeit ist tatsächlich wertvoll."