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"Permanenter Verlust an Freiheit"

Ex-Verfassungsrichter Paul Kirchhof warnt vor einer Überforderung des Staates und überbordender öffentlicher Verwaltung. "Wir sind umzingelt von Bürokratie und können kaum noch atmen", sagte er. Jedes Detailproblem solle der Gesetzgeber lösen, doch das ziehe einen "permanenten Verlust an Freiheit" nach sich.

Moderation: Jürgen Liminiski | 23.03.2008
    In der Diskussion um gesetzliche Mindestlöhne wandte sich der Steuerexperte gegen eine staatliche Festlegung. Arbeitsplätze würden dadurch so verteuert, dass Unternehmer sie nicht mehr anbieten könnten, sagte er. Außerdem bekräftigte Kirchhof seine Forderungen nach einer radikalen Reform des Steuerrechts. Reformen in vielen kleinen Schritten würden misslingen, warnte der Direktor des Insituts für Finanz- und Steuerrecht der Universität Heidelberg. Mit Blick auf die Veränderungen der Parteienlandschaft durch die Linkspartei plädierte Kirchhof für die Einführung eines Familienwahlrechts. Eltern sollten dabei für ihre Kinder abstimmen.

    Das Interview mit Paul Kirchof hören sie seit 11.05 Uhr im Deutschlandfunk.

    Jürgen Liminski: Professor Kirchhof, in diesen Tagen ist eine Zahl veröffentlicht worden, die Fragen aufwirft: 52 Prozent des Einkommens gehen an den Staat, nur 48 Prozent darf, kann der Bürger für sich behalten. Ist das richtig? Dient das dem Gemeinwohl?

    Paul Kirchhof: Das ist natürlich eine dramatische Zahl. Nun muss man wissen, dass diese 52 Prozent teilweise natürlich Sozialversicherungsabgaben sind, für die der Bürger eine Gegenleistung bekommt, nämlich die Sicherheit im Alter, bei Krankheit, bei Arbeitslosigkeit. Dennoch ist es ein dramatisches Krisensymptom, wenn der Bürger erlebt, dass, wenn er ein Einkommen erzielt, er die Hälfte davon abgeben muss, also gegenwärtig für seinen heutigen Bedarf nur über knapp die Hälfte seines Einkommens frei verfügen kann.

    "Wir haben ein Problem der sozialen Gerechtigkeit"
    Liminski: Es stehen also Zweifel im Raum, zumal vor allem die Durchschnittsverdiener davon betroffen sind, weniger die höheren Einkommen. Haben wir da nicht ein Problem der sozialen Gerechtigkeit? Würde ein Mindesteinkommen dieses Problem vielleicht lösen?

    Kirchhof: Wir haben ein Problem der sozialen Gerechtigkeit - einmal, weil die Umsatzsteuer, die indirekte Steuer, so hoch ist. Das trifft die kleinen Leute mit den kleinen Einkommen. Das trifft die Familie, die ihr ganzes Einkommen konsumieren müssen, um die Kinder ernähren zu können. Und dann muss ja auch derjenige, den wir im Einkommensteuerrecht verschonen, weil er zu wenig Einkommen erzielt, Umsatzsteuer zahlen. Das heißt, die Umsatzsteuer wirkt dort als eine soziale Schieflage. Was den Mindestlohn angeht, muss man sehr deutlich sagen: Mindestlohn ist etwas Wichtiges, etwas Schönes - der Grundgedanke. Jeder soll von seiner Arbeit leben können, das ist prinzipiell richtig.

    Nur, der Staat darf nicht definieren, was der Mindestlohn ist, denn dann würde er bestimmte Arbeitsplätze so verteuern, dass der Unternehmer diese Arbeitsmöglichkeiten nicht mehr anbietet. Und dann ist etwas sehr Schlimmes passiert, denn jeder Bürger, der arbeiten will, der nicht in der Familie arbeitet sondern im Erwerbsleben arbeitet, möchte gerne dazugehören, er möchte die Anerkennung seiner Arbeit, er möchte die Begegnung, er möchte das Einkommen. Und deswegen auf keinen Fall einen staatlich definierten Mindestlohn!

    Liminski: Aber wenn ein Schiedsrichter fehlt, kann es natürlich passieren, dass wegen der Umstände dieser Mindestlohn sehr tief angesiedelt ist. Wir kennen die einzelnen Berufe, die es da gibt, Friseure und so weiter, die praktisch von einem solchen geringen Mindestlohn nicht leben können. Muss nicht doch eine höhere Instanz, eben der Staat, eingreifen, wenn die Tarifparteien es alleine nicht schaffen?

    Kirchhof: Ich glaube, auch da muss man genau zuschauen. Etwa bei der Friseuse könnte es sei, ich bin da kein Experte, dass sie über die Trinkgelder so viel hinzu verdient, dass der reale Lohn, den sie empfängt, durchaus die Beträge deutlich übersteigt, über die wir gegenwärtig als Mindestlohn diskutieren. Natürlich muss es eine Maxime geben, der die Angemessenheit des Mindestlohnes definiert. Aber da hatten wir bisher in den sechzig Jahren gute Erfahrung gemacht, wenn wir sagen: Nicht der Staat definiert den Lohn, sondern die Arbeitgeber und die Gewerkschaften sind verantwortlich, den Lohn zu definieren.

    Liminski: Zum Thema "soziale Gerechtigkeit", oder zumindest das Empfinden für soziale Gerechtigkeit, dazu gehören auch die hohen Einkommen, Stichwort Managergehälter. Sollte man da vielleicht eine obere Barriere einziehen?

    Kirchhof: Auch da würde ich sagen, man sollte diese Gehälter angemessen in den Institutionen festsetzen, die wir haben. Also etwa bei den Aktiengesellschaften, da ereignen sich ja diese Probleme, durch den Aufsichtsrat, und zwar insgesamt durch den Aufsichtsrat, nicht durch eine Untergruppierung des Aufsichtsrates, wo dann möglicherweise wieder Repräsentanten sitzen, die in anderen Gesellschaften selber Vorstand sind, sondern in der Kontrolle des Aufsichtsrates als Repräsentant der Aktionäre, die ja gerne Dividenden haben wollen und als Repräsentant der Arbeitnehmer, die gerne hohe Löhne haben wollen. Wenn dies System durchlässig ist und wissend gehandhabt wird, könnte man da durchaus auf die richtige Zahl kommen.

    "Es gibt kein perfektes Steuersystem"
    Liminski: Noch mal zurück zu der Steuerfrage, mit der wir das Gespräch begonnen haben. Brauchen wir eine Reform der Steuerreform? Das ist ja auch eine Frage der sozialen Gerechtigkeit. Das System funktioniert ja eigentlich, gelegentlich fliegt der eine oder andere Steuersünder auf, aber dann geht es weiter. Gibt es überhaupt ein perfektes Steuersystem ohne Schlupflöcher?

    Kirchhof: Es gibt kein perfektes Steuersystem, weil die Fantasie des Menschen beim Bemühen um Steuerersparnis grenzenlos ist. Aber wir haben einen fundamentalen Reformbedarf schon deshalb, weil in Deutschland kein Steuerpflichtiger mehr das System der direkten Steuern, Einkommensteuer und Lohnsteuer, noch versteht. Er muss aber seine Einkommensteuererklärung selber abgeben, er muss mit seinem guten Namen unterschreiben, dass alles richtig sei. Das kann er heute nicht. Er kann allenfalls unterschreiben, dass er einen Steuerberater ordentlich ausgesucht hat, aber ob das, was der Berater ihm aufgeschrieben hat, auch tatsächlich richtig sei, das weiß er nicht. Vor allem aber: Er muss die Sicherheit haben, dass sein Nachbar, der vielleicht genau so viel verdient wie er, in gleicher Höhe Steuern zahlt, weil er die gleiche Höhe von Euro verdient hat.

    Gegenwärtig hat derjenige, der Steuern zahlt, das Gefühl, er hätte die Steuerschuld mindern können, wenn er hinreichend clever gewesen wäre, wenn er es besser verstanden hätte, auf diesem total verstimmten Klavier des Steuerrechts zu spielen und ihm die heiteren Töne individueller Steuerersparnis zu entlocken. Das heißt, die Steuerlast wird zu einem intellektuellen Selbstvorwurf. Und das ist das eigentliche Drama. Wir haben kein Vertrauen mehr in dieses Steuerrecht, weil es gleichheitsgerecht unausweichliche Lasten festlegt, sondern wir begegnen diesem Steuerrecht mit dem Weg zum Steuerberater, indem wir ihn fragen: Wie kann ich dieses Recht vermeiden? Und dadurch verliert das Recht seine Glaubwürdigkeit, seine innere Autorität, es entsteht kein Rechtsvertrauen. Und diese ganze Gesellschaft und dieser Staat werden steuerlabil. Wir haben uns arrangiert mit dem Weg in den steuerlichen Grenzfall, das ist legal, teilweise auch darüber hinaus jenseits des Rechts in die Illegalität.

    Liminski: Mit andern Worten: Sie plädieren, das ist ja auch bekannt, für eine radikale Steuerreform?

    Kirchhof: Es geht nur eine radikale. Herr Liminski, wir haben etwa 500 Privilegien, Lenkungstabestände, Ausnahmetatbestände, im Einkommensteuerrecht. Und das ist ja das Listige. Dann hat bei 500 Privilegien jeder mindestens eins, und er sagt: Das System ist zwar schlecht, aber ich bin ja begünstigt, ich stehe auf der Seite der Glücklichen, der Privilegierten. Und er ahnt gar nicht, dass sein Freund zehn Privilegien hat, sein Konkurrent 20 und sein Feind 30. Das heißt, wenn wir alle Privilegien wegnehmen würden und dementsprechend die Steuersätze senken würden, wäre er ohne sein Privileg viel besser gestellt. Und er bekommt die niedrige Steuerlast dann, ohne sich in den staatlichen Anreizen zu verbiegen und zu verbeugen vor dem modernen Leviathan des Steuerrechts.
    Liminski: So eine Herkules-Tat braucht ja auch viel Mut. Sehen Sie den in der Politik?

    Kirchhof: Ich meine, wir müssen die Menschen aufklären und müssen ihnen sagen, dass, wenn sie diese Steuersparmodelle eingehen - Pfiffe und Filme und Denkmäler und Schrottimmobilien, wie es jüngst mal geheißen hat -. dass das für den Steuerpflichtigen sehr teuer wird, wei: Die Steuerersparnis wird ja absorbiert von denen, die diese Anlagemodelle empfehlen. Die saugen das auf mit ihren Kosten. Aber vor allem: Es verliert der Bürger Freiheit. Er denkt Stunden und Tage und viele Wochenenden über die Steuer nach, hat den Kopf nicht mehr frei für seinen Markt, sein Unternehmen, seine Investitionen, und deswegen müssen wir die Menschen aufklären und ihnen sagen: Ihr seid alle im Freiheitsverlust in diesem System deutlich schlechter gestellt.

    Und dann gibt es nur eine Lösung: Auf einen Schlag alle 500 Privilegien weg. Wenn einer seines behalten darf, sagen die anderen 499: Warum der, wenn der seins behalten darf, will ich auch meins behalten. Sie wissen, jedes Privileg hat eine Gruppe, die es erkämpft hat, das ist der Täter. Und dieser Täter ist heute der Wächter. Der passt natürlich auf, dass sein Privileg nicht verloren geht. Und deswegen gibt’s nur das Prinzip einer fundamentalen Reform. Die Reform der vielen kleinen Schritte wird gröblich misslingen.

    Liminski: Sehen Sie dafür eine Chance in der Politik?

    Kirchhof: Ich meine, das wird gegenwärtig sehr bewusst, dass dieses Steuerrecht so nicht mehr weitergeführt werden kann. Wir haben das Auto gegen die Wand gefahren, wir fahren nicht mehr gegen die Wand. Die Menschen spüren das. Wo immer ich über das Steuerrecht rede,ich erlebe es auch persönlich, sie bedrängen mich: Was können wir denn nun tun? Jetzt muss doch was passieren. Auch der gegenwärtige Sturm im Paragraphenwald des Steuerrechts, den wir zur Zeit erleben, ist ja nicht zu bewältigen mit einigen wenigen Strafverfahren, denn wenn jemand den Staat betrügt, muss er bestraft werden wie jeder andere, der seinen Vertragspartner betrügt. Aber das Kernproblem liegt doch darin, dass die Menschen das Steuerrecht für vermeidbar halten, die Steuerlast für ausweichbar und deswegen ein so verwirrtes Rechtsbewusstsein entsteht. Denn man kann doch gar nicht verstehen, warum ein Mensch, ich spreche von keinen aktuellen Fällen, die kenne ich nicht, aber warum ein Mensch, der wirtschaftlich erfolgreich ist, viel Geld hat, durch Steuerhinterziehung ein so hohes Risiko eingeht. Das ist doch irrational. Man kann es nur verstehen, wenn man beobachtet, dass dieses Steuerrecht eigentlich die Menschen als ein plausibles, als ein unausweichliches Recht nicht mehr erreicht.

    Liminski: Ein früherer Bundesfinanzminister hat Sie einmal wegen der familienpolitisch relevanten Urteile als "teuersten Richter aller Zeiten" bezeichnet. Sind diese Urteile wirklich so teuer gewesen, das heißt, sind sie überhaupt umgesetzt worden?

    Kirchhof: Teure Urteile, es ging damals um die Familienbesteuerung, werden nur deshalb teuer, weil sie ein großes, weit verbreitetes und ins Geld gehendes Unrecht bewältigen. Also das Problem ist nicht die teure Reparatur, sondern das Problem ist das Unrecht, das für die betroffenen Familien teuer war. Und deswegen musste das Gericht dort reparieren. Der Gesetzgeber hat reagiert. Wir müssen allerdings beobachten, dass er dann, wenn es um die Familien geht, glücklicherweise in einer großen Zahl, wir haben glücklicherweise noch viele Kinder, nicht genug, aber wir haben noch viele Kinder in Deutschland, dann kostet das Geld, und deswegen zögert er dort. Aber gerade an dieser Stelle ist natürlich das Verfassungsrecht in besonderer Weise gefordert, weil es gewährleisten muss, dass diejenigen, die Familien, die auf die Zukunft setzen, die in der Leistungsgesellschaft die wichtigste Leistung erbringen die wir brauchen, nämlich Kinder, und die gut erziehen, damit das später mal gute demokratische Bürger und leistungsfähige Wirtschaftssubjekte sind, dass wir diese nicht steuerlich und auch in den staatlichen Gewährleistungen nicht benachteiligen.

    Liminski: Sie haben die Frage nicht ganz beantwortet. Sind diese Urteile umgesetzt worden?

    Kirchhof: Sie sind alle umgesetzt worden, aber teilweise nicht intensiv genug.

    Liminski: Ihr früherer Kollege im Bundesverfassungsgericht und späterer Bundespräsident Roman Herzog hat angeregt, das Wahlrecht zu ändern. Brauchen wir ein neues Wahlrecht, vielleicht ein Mehrheitswahlrecht, um nicht in Weimarer Verhältnisse zurück zu fallen?

    Familienwahlrecht zur Stabilsierung der Demokratie
    Kirchhof: Herr Herzog hat zu Recht auf das Thema Wahlrecht hingewiesen, und zwar nicht, weil es mal Wahlergebnisse gibt, die dem einen oder anderen nicht gefallen. Da kann man ja nicht durch Änderung des Wahlrechts reagieren, sondern muss schon den Bürgerwillen respektieren, der so oder anders will. Aber wir haben eine Strukturschwäche in unserem Wahlsystem, die gegenwärtig erkennbar wird, wenn wir einem Fünf-Parteien-System, vielleicht sogar noch ;ehr-Parteien-System, entgegen gehen. Jeder Wahlkampf ist ein Wettbewerb. Und jeder Wettbewerb ist darauf angelegt, Sieger und Besiegte zu haben. Das heißt, am Wahlabend muss feststehen, wer hat gewonnen und wer hat verloren. Was haben wir gegenwärtig? Da sagt derjenige, der die meisten Stimmen bekommen hat: Ich bin der Wahlsieger. Und auch darüber wird, siehe Hessen ,sogar manchmal noch gestritten. Und der erklärt dem staunenden Wahlvolk: Ich werde jetzt 14 Tage verhandeln, nach allen Seiten offen, und nach 14 Tagen erkläre ich dem Wähler, wer gewonnen hat, wer die Regierung bildet, wer die Parlamentsmehrheit durch Koalition bildet. Und das ist nicht die Idee unseres Wahlrechts.

    Und deswegen müssen wir darüber nachdenken, dass wir dieses Wahlrecht so umorganisieren, dass durch Unmittelbarkeit der Wahl, so heißt das Verfassungsprinzip, allein der Wähler durch sein Kreuzchen in der geheimen Wahlkabine bestimmt, wer am Sonntagabend als Sieger als zukünftige Regierung feststeht. Wir sollten nicht überlegen, ob wir das Persönlichkeitswahlrecht haben wollen, also das Wahlrecht, in dem jeder Kandidat, der seinen Wahlkreis gewonnen hat, in den Bundestag geht, und keiner geht über die Liste der Partei. Also immer nur das Direktmandat wirkt sich aus bei der Zusammensetzung des Deutschen Bundestages. Dann hätten wir zum Beispiel die FDP nicht im Deutschen Bundestag, dann hätten wir die Grünen nicht im Deutschen Bundestag. Und ich meine, es entspricht inzwischen guter und gefestigter Tradition, dass wir diese Parteien in unserem Staat mit politischer Wirksamkeit haben. Diese Tradition sollte man nicht abrupt unterbrechen durch Änderung des Wahlrechts, denn das würde doch zu sehr danach aussehen, als würde der Wahlgesetzgeber mit einfacher Mehrheit sich die Mehrheiten schneiden, die er gerne hätte.

    Liminski: In Ihrem Buch "Das Gesetz der Hydra" plädieren Sie für ein Familienwahlrecht. Würde das denn mehr Stabilität bringen, oder würde es nicht eher die Systematik, ja sogar die Verhältnisse in der Wählerschaft verändern?

    Kirchhof: Es würde etwas verändern, aber es würde die Demokratie gerechter machen und, wie ich meine, auch stabilisieren. Die Demokratie folgt dem Prinzip: ein Mensch, eine Stimme. Ein Kind ist ein Mensch. Ein Kind ist sogar der Mensch, der von den politischen Entscheidungen von heute noch 80 Jahre betroffen ist, während der andere vielleicht 60, 40 oder 10 Jahre betroffen ist. Er ist also in dieser Demokratie der hauptbetroffene Mensch, der gerne garantieren möchte, dass dieser Staat sich nicht zu hoch verschuldet zu Lasten der zukünftigen Menschen, die Umwelt nicht ausbeutet, ein Bildungssystem entwickelt, das unsere Kinder hochqualifiziert für ihre Zukunft. Und von daher kann es eigentlich keinen Zweifel geben, dass nach dem Demokratiegedanken diese jungen hauptbetroffenen Menschen an dieser Abstimmung beteiligt sein sollen.

    Nun können Sie natürlich mit 6 oder 10 oder 15 Jahren noch nicht abstimmen, weil sie noch nicht voll entscheidungsfähig sind. Aber das heißt nicht, dass sie kein Abstimmungsrecht hätten. Das sagen wir auch sonst in der Rechtsordnung. Wenn etwa die Großeltern dem Enkelkind mit der Geburt ein Grundstück vererben, dann können diese Enkelkinder Eigentümer sein. Wir tragen sie ins Grundbuch ein, weil sie Rechte haben können. Sie sind Inhaber von Rechten, höchstpersönlich. Nur diese Rechte werden für dieses Kind bis zur Volljährigkeit von den Eltern ausgeübt.

    Und genau so machen wir es im Wahlrecht. Das Kind ist wahlfähig, prinzipiell vom Recht her, es kann es nur noch nicht ausüben. Und deswegen üben die Eltern, jeder eine halbe Stimme in der Geheimheit Wahl, Vater und Mutter, eine halbe Stimme aus für ihr Kind. Und plötzlich gewinnt in dieser Demokratie die Familie wieder Gewicht. Und die Familie setzt auf eine langfristige Zukunft. Die Eltern wollen, dass es ihren Kindern in 40 Jahren besser geht. Das ist ein ungeheurer Stabilisator für die politische Entwicklung. Wer Kinder hat, ist nicht gerne bereit, zu Lasten der Kinder politische Experimente zu machen.

    Liminski: Glauben Sie nicht, um das aufzugreifen, wer Kinder hat, dass es utopisch ist? Denn angesichts der Elternschaftsverhältnisse im Bundestag, etwa die Hälfte der Abgeordneten haben keine oder nur ein Kind, ist ein solches Vorhaben eigentlich nicht realisierbar.

    Kirchhof: Ich meine, es wird realisierbar, weil alle Abgeordneten, auch die ohne Kinder, auf eine langfristige Zukunft setzen. Sie erwarten, dass diese Gesellschaft, diese Wirtschaft, dieser Kulturstaat, diese deutsche Sprache, in der wir uns gegenwärtig gerade so schön verständigen können, auch in 20, 30, 40 Jahren noch voll funktionsfähig ist. Und das gelingt natürlich nur, wenn auch in dieser Zukunft leistungsfähige Menschen in der deutschen Kultur und in unseren demokratischen Prinzipien aufgewachsen sind. Deswegen ist eigentlich dieses Zukunftskonzept zu Gunsten der Familie für jeden Nachdenklichen ohne Alternative. Auch hier gilt: Wir müssen den Menschen, und da würde ich jetzt nicht nur die Wähler sehen, sondern da würde ich auch die Mitglieder der Regierung und des Parlaments sehen, aufklären über das, was für unsere Entwicklung entscheidend ist, wo die Weichen richtig gestellt werden müssen.

    Liminski: Immer wieder, Herr Professor Kirchhof, wird im politischen Diskurs das Ehegattensplitting infrage gestellt. Entweder man will es ganz abschaffen oder an die Kinder beziehungsweise die Unterhaltspflichtigkeit für sie koppeln, also zu einer Art Familiensplitting weiter entwickeln. Ist das denn verfassungskonform? Was passiert mit Ehen, deren Kinder aus dem Haus sind?

    Kirchhof: Zunächst einmal, dieses Ehegattensplitting ist ein notwendiger Bestandteil des geltenden Steuerrechts. Das hat mit Familienförderung nichts zu tun. Wir haben im Einkommensteuerrecht das Prinzip der Individualbesteuerung. Jeder Mensch versteuert das Einkommen, das er am Markt erzielt hat als einzelne Person. Wenn er jetzt seinen Gewinn aber in einer Erwerbsgemeinschaft erzielt, also einer GmbH, einer offenen Handelsgesellschaft, einer Gesellschaft des bürgerlichen Rechts, dann wird zunächst einmal der gemeinsame Gewinn festgestellt, der wird dann aber auf alle Gesellschafter aufgeteilt und jeder kann seinen Teil splitten, also seinen Teil, den er aus dieser Erwerbsgemeinschaft erzielt hat, besteuern. Und jetzt stellt sich die gleichheitsrechtliche Frage: Warum soll die Erwerbsgemeinschaft, an der uns um unserer Zukunft willen in besonderer Weise gelegen ist, die Ehe, die potentielle Elternschaft, dieses Recht nicht haben? Und ein Zweites kommt hinzu. Die Begüterten, die über viel Vermögen verfügen und gut beraten sind, gründen die Familien-KG. Und in diese Familien-KG nehmen sie Sohn und Tochter beim ersten Schrei als Kommanditisten hinein, und dann können diese Kinder mehr als 15 Prozent ihres Kapitalanteils jährlich als Einkommen für sich beziehen mit eigenen Steuerfreibeträgen und mit einem abgesenkten Progressionssatz. Und was für die Reichen gilt, muss dann zumindest im Ehegattensplitting auch für den Einkommensteuermittelstand gelten. Besser wäre es noch, wir würden aus dem Ehegattensplitting auch für diese Menschen ein Familiensplitting machen.

    Liminski: Und was passiert mit den Ehen, deren Kinder aus dem Haus sind?

    Kirchhof: Die Voraussetzungen des Ehegattensplittings sind wie bei einer BGB-Gesellschaft weiterhin vorhanden. Und wenn das nicht wäre, dann würden die Ehegatten eben eine BGB-Gesellschaft gründen und sagen, wir machen eine gemeinsame Gesellschaft, die hat zum Zweck: Der eine erwirbt draußen und der andere pflegt die Hauskultur. Und wenn der Gesetzgeber jetzt sagen würde, ich gebe das Ehegattensplitting nur den Eltern, wenn die Kinder noch im Hause sind, ist das meines Erachtens geradezu zynisch. Nehmen wir mal das herkömmliche traditionelle Familienbild, wo die Frau und Mutter zu Hause ist. Das muss nicht so sein, aber das ist ja gegenwärtig noch der häufigste Fall. Dann würden wir der Mutter, die jetzt ihre Kinder gut erzogen hat, die erfolgreich war und deswegen sind die Kinder aus dem Hause, sagen: Du hast deinen Auftrag erfüllt, geh doch wieder in das Erwerbsleben und erwirb. Sie kann aber nicht, weil diese Arbeitsgesellschaft sie nicht mehr zulässt, weil sie vorher die wichtigste Leistung erbracht hat, die diese Rechtsgemeinschaft braucht, nämlich Kinder hervorgebracht und gut erzogen hat. Und diesen Frauen, auch diesen Vätern, dann zu sagen: Es war schon gut, dass ihr die Kinder erzogen habt, aber jetzt definieren wir euch als für die wirtschaftliche Produktivität unerheblich, das ist eigentlich eine menschliche Härte, die keiner in diesem Verfassungsstaat so formulieren sollte.

    Liminski: Was würden Sie denn als das größte Problem Deutschlands bezeichnen?

    Kirchhof: Das größte Problem Deutschlands sind die überhöhten Erwartungen an den Staat. Wir überfordern den Staat planmäßig. Erste Frage: Erwarten wir vom Staat gutes Recht oder gutes Geld? Herkömmlich soll der Staat die Freiheit organisieren und den sozial Schwachen schützen, aber im Wesentlichen durch das Recht. Heute erwarten wir immer mehr Geldzahlungen vom Staat und machen uns nicht bewusst, dass der Staat nur leistender Wohltäter sein kann, wenn er vorher steuerlicher Übeltäter gewesen ist. Der Staat selbst ist nicht produktiv, er hat keine Unternehmen, sondern er kann nur das geben, was er vorher mit der anderen Hand dem Bürger genommen hat. Und dieser Sinnzusammenhang ist nicht mehr bewusst. Dann rufen wir bei jedem Problem nach dem Gesetzgeber. Jedes Detailproblem muss der Gesetzgeber lösen. Und das ist natürlich ein permanenter Verlust an Freiheit.

    Wenn wir jetzt immer die Verantwortlichkeit an den Gesetzgeber übergeben, dann entsteht eine Normenflut, die uns niederdrückt, im Steuerrecht, im Sozialrecht, Gleichstellungsgesetz jetzt, immer wieder neue Normen und immer wieder müssen wir uns orientieren. Wir haben eine Fülle von Normen, die kein Mensch mehr lesen kann, geschweige denn ins Gedächtnis nehmen kann, geschweige denn befolgen kann. Wir haben gegenwärtig allein im Steuerrecht so viele Normen, dass sicher ist, dass jeder Steuerpflichtige eine Norm verletzt, weil er sie nicht kennt.

    Also, die Fülle der Normen ist der Weg in die unbewusste Illegalität. Im Wirtschaftsleben gilt die Regel: Nur ein rares Gut ist wertvoll. Inflation zerstört Werte. Und das gilt auch fürs Recht.

    Und das Dritte ist die Erwartung der staatlichen Leistung, die Bürokratie. Wir sind umzingelt von Bürokratie und können kaum noch atmen. Ich habe jüngst einen jungen Forscher aus Heidelberg beraten, der eine glänzende Erfindung gemacht hat, und er will die jetzt produktionsreif machen, um ein großes Unternehmen zu gründen. Vielleicht ist er ein Karl Benz, ich weiß es ja nicht. Er sagt: Ich brauche als Erstes 17 Genehmigungen. Dessen Konzentration geht jetzt dahin, dass er diese Genehmigungen beschafft. Der will sich aber auf seine Erfindung konzentrieren, um sie weiter zu entwickeln. Da wird Initiative gelähmt, da wird entmutigt, da wird beargwöhnt. Freiheit setzt aber Freiheitsvertrauen des Staates voraus, dass es der Bürger schon richtig macht. Und er macht es ja auch im Regelfall richtig, und wenn er es falsch macht, haben wir Instrumente. Die Überforderung des Staates ist das größte Problem in Deutschland.