Mittwoch, 24. April 2024

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Perséphone von Igor Strawinsky
Kein Zucker, sondern kühle Klarheit

Von Igor Strawinskys "Perséphone" gibt nur sehr wenige Aufnahmen, zumal das Werk mit seinem Mix aus Sprechtheater und Oper auch eigenartig ist. Die neue Aufnahme des Dirigenten Esa-Pekka Salonen aber legt den Zauber dieses Werks frei.

Am Mikrofon: Michael Stegemann | 30.09.2018
    Ein Mosaik, das den Raub der Persephone zeigt. Es wurde bei Ausgrabungen in einem Grab aus der Zeit Alexanders des Großen unter dem Hügel Kasta in der Nähe der Dorfes Nea Mesolakkia in Nordgriechenland entdeckt.
    Ein Mosaik, das den Raub der Persephone zeigt. Der Gott der Unterwelt, Hades, entführt sie. Das Mosaik wurde 2014 in Nordgriechenland entdeckt. (Kulturministerium Griechenland / dpa picture-alliance)
    Igor Strawinsky war ohne jeden Zweifel einer der bedeutendsten und einflussreichsten Komponisten des 20. Jahrhunderts, und viele seiner Werke gehören zum Kernrepertoire der 'klassischen Moderne'. Doch zwischen seinen frühen, mittleren und späten Kompositionen herrscht eine merkwürdige, ebenso ungerechte wie bedauerliche Diskrepanz, was ihre Verbreitung angeht: Wo die Internet-Datenbank Discogs zum Beispiel für das 1910 entstandene Ballett "L’Oiseau de feu" ("Der Feuervogel") mehr als 500 Aufnahmen verzeichnet, da sind es für das Melodram Perséphone von 1933 noch gerade einmal 13! Umso willkommener ist die Neuaufnahme des Werkes, die als Konzertmitschnitt von Esa-Pekka Salonen mit Chor und Orchester der Finnischen Nationaloper bei dem Label Pentatone erschienen ist.
    Musik: Igor Strawinsky, "Ô peuple douloureux" aus "Perséphone"
    Perséphone, das knapp einstündige Melodram in drei Teilen für eine Sprecherin, Tenor, Chöre und Orchester wurde 1933 für die russisch-französische Tänzerin, Schauspielerin und Choreographin Ida Rubinstein komponiert – ebenso wie Maurice Ravels Boléro, Claude Debussys Le Martyre de Saint Sébastien oder später Arthur Honeggers Jeanne d’Arc au bûcher. Auch Strawinsky hatte schon 1927 für sie das Ballett Le Baiser de la fée geschrieben und schätzte die besondere Bühnenkunst Ida Rubinsteins, in der Sprechtheater, Ballett und Oper miteinander verschmolzen. Ähnlich wie fünf Jahre zuvor das Opern-Oratorium Œdipus Rex lebt Perséphone von einer archaischen Strenge, die Esa-Pekka Salonen in seiner Aufnahme perfekt umsetzt. Wem das zu 'kühl' klingt, der lese den Bericht eines Ohrenzeugen der Pariser Uraufführung, des Pianisten Maurice Perrin:
    "Bei der Probe intonierten die Sänger den Eingangschor "Reste avec nous" so übertrieben sentimental, dass Strawinsky ärgerlich unterbrach und sie fragte, was das solle? 'Wir finden diesen Chor besonders ausdrucksvoll', antworteten sie. 'Aber warum wollen Sie denn etwas "besonders ausdrucksvoll" singen, wenn es doch sowieso schon ausdrucksvoll ist?! Das ist ja, als ob man versuchen würde Zucker zu zuckern!'"
    Kein "Zucker" also, sondern scharfe Linien und Konturen, klare rhythmische Akzente und eher zurückhaltend im Ausdruck. Der Chor »Reste avec nous« aus Strawinskys Perséphone mit Chor und Orchester der Finnischen Nationaloper unter der Leitung von Esa-Pekka Salonen.
    Musik: Igor Strawinsky, "Reste avec nous" aus "Perséphone"
    Der Eingangschor aus Igor Strawinskys Melodram Perséphone mit Chor und Orchester der Finnischen Nationaloper unter Esa-Pekka Salonen. In der Titelrolle, die von der Auftraggeberin Ida Rubinstein rezitiert, getanzt und pantomimisch dargestellt wurde, war hier gerade die französische Schauspielerin Pauline Cheviller zu hören. Die drei Teile des Werkes gehen auf Homers Demeter-Hymnus zurück und berichten von der Entführung der Persephone – Tochter des Zeus und seiner Schwester Demeter – durch den Unterweltsgott Hades, von Persephones Schicksal in der Unterwelt und von ihrer alljährlichen Wiedergeburt als Botin des Frühlings. Den französischen Text des Melodrams hatte der spätere Nobelpreisträger André Gide verfasst, der dann allerdings entsetzt darüber war, wie Strawinsky mit seinem Libretto umging:
    "Er hatte erwartet, dass der Persephone-Text mit genau den gleichen Betonun- gen gesungen werden sollte, wie er sie sich bei einer Rezitation vorstellte. Er glaubte, meine musikalische Aufgabe bestünde darin, die Prosodie nachzuah- men oder zu unterstreichen: ich sollte lediglich die Tonhöhe für die Silben finden, da er der Meinung war, er selbst habe ja den Rhythmus bereits komponiert."
    Stattdessen akzentuierte Strawinsky die gesungenen Worte gegen alle Regeln der Phrasierung und der Prosodie und zerlegte sie teilweise sogar in einzelne Silben. Dass Salonens Interpretation dennoch nie spröde oder zerrissen klingt – anders als zum Beispiel Strawinskys eigene Aufnahme von 1966 –, unterstreicht den zutiefst lyrischen Charakter des Werkes. "Sur ce lit elle repose" – Persephones Erwachen in der Unterwelt. Es singen und musizieren wieder Chor und Orchester der Finnischen Nationaloper.
    Musik: Igor Strawinsky, "Sur ce lit elle repose" aus "Perséphone"
    Soweit dieser Ausschnitt aus dem mittleren Teil des Melodrams Perséphone von Igor Strawinsky. Pauline Cheviller in der Titelrolle rezitiert den Text André Gides angemessen schlicht und ohne allzu viel Pathos – etwa hier, wenn sich Persephone in der Unterwelt an das glückliche Leben erinnert, das sie auf Erden bei ihrer Mutter Demeter hatte.
    Musik: Igor Strawinsky, "Ma mère Déméter" aus "Perséphone"
    Eine weitere Gesangsrolle ist der Priester Eumolphos – ein Tenorsolo, das es auch mit dem großen Fritz Wunderlich auf CD gibt, in einer 1960 entstandenen Produktion des Hessischen Rundfunks unter Dean Dixon. Bei Salonen ist es der Engländer Andrew Staples – mit ziemlich mäßiger französischer Diktion zwar, was aber bei der erwähnten Sprachbehandlung Strawinskys nicht allzu schlimm ins Gewicht fällt.
    Musik: Igor Strawinsky, "Tu viens pour dominer" aus "Perséphone"
    Andrew Staples als Eumolphe, mit Esa-Pekka Salonen und dem Orchester der Finnischen Nationaloper. Salonen ist ein ausgewiesener Strawinsky-Spezialist: Seine spektakuläre Aufnahme des Sacre du printemps mit dem Los Angeles Philharmonic von 2006 und das daraus hervorgegangene Multimedia-Projekt Re-Rite stehen ebenso dafür ein wie sein kongeniales Dirigat in der Verfilmung der Oper The Rake’s Progress, die 1995 für das schwedische Fernsehen entstand. Tatsächlich hat seine Aufnahme der Perséphone in ihren übereinander liegenden Schichten von Gesang, Orchester und Rezitationstext viel Ähnlichkeit mit Strawinskys 18 Jahre später komponiertem Bühnenwerk, dessen dezidierter Neoklassizismus in der Perséphone noch seine Verwurzelung im 19. Jahrhundert verrät. Wenn Chor und Kinderchor im dritten Teil die Rückkehr Persephones begrüßen, entfaltet die Musik ihre ganze Schönheit. Es singen der Chor und der Kinderchor der Finnischen Nationaloper, deren Orchester wieder von Esa-Pekka Salonen dirigiert wird.
    Musik: Igor Strawinsky, "Venez à nous" aus "Perséphone"
    Ein weiterer Ausschnitt aus Perséphone von Igor Strawinsky. Sicher, das Stück ist in seinem Genre-Mix nicht ganz leicht zu realisieren – schon gar nicht szenisch. Andererseits war Perséphone für Strawinsky ein Schlüsselwerk, dem er sogar eigens einen ästhetischen Essay vorausschickte. "Schluss mit orchestralen Effekten!", heißt es darin; dass die Musik jenseits solcher Effekte ihren ganz eigenen Reiz und Zauber hat, zeigt diese neue Aufnahme exemplarisch. Hier sind noch einmal Andrew Staples (Tenor) mit Chor, Kinderchor und Orchester der Finnischen Nationaloper unter Esa-Pekka Salonen mit dem Schluss des Werkes.
    Musik: Igor Strawinsky, "Ainsi vers l’ombre souterraine" aus "Perséphone"
    Igor Strawinsky: Perséphone
    Pauline Cheviller, Sprechrolle
    Andrew Staples, Eumolphe
    Chor, Kinderchor und das Orchester der Finnischen Nationaloper
    Esa-Pekka Salonen, Leitung
    Pentatone