Donnerstag, 09. Mai 2024

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Persönliches Leid und Überlebensglück

Ralph Giordano ist ein omnipräsenter Mann: Keine Talkshow, in der er noch nicht gesessen hat, keine wichtige Debatte um den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit ohne seine Wortmeldung. In den 70ern und 80ern war er als Fernsehreporter rund um die Welt unterwegs, sein Roman "Die Bertinis" mit stark autobiografischen Zügen wurde ein großer Erfolg. Nun legt der 84-Jährige seine Autobiografie vor.

Moderation: Marcus Heumann | 14.05.2007
    Schon der Titel, "Erinnerungen eines Davongekommenen", evoziert Giordanos zentrales Lebensthema: Sein Glück, das 3. Reich überlebt zu haben, übersetzt Giordano in die Verantwortung, mit dieser Vergangenheit kritisch umzugehen. Aber vor den Schrecken setzt er die Idylle. Geradezu rührend lässt Giordano seine Vorfahren wiederauferstehen, nimmt zärtlich alte Bilder in die Hand und streicht sie mit seinen Worten liebevoll glatt. Ralph Giordano, Sohn eines italienischen Vaters und einer deutsch-jüdischen Mutter, wächst behütet in Hamburg auf. Und wer möchte ihm die Verklärung verübeln, die ihm die schönste Mutter, die wunderbarsten Großeltern, den prächtigsten Schrebergarten, das beste Wetter bei den Elbausflügen bescherte? Es sind satte, pralle Bilder voller Phantasie, die den Leser mit sich reißen.

    ... sozusagen der Ursprung meines Glaubens, dass die Welt gut sei und dass sie es gut mit mir meinte. Das Leben - ein Paradies. Als würde es nie ein Ende nehmen.

    Dann kam dieser furchtbare Augenblick, wo mein bester Freund im Sommer 1935 sagt: "Ralle, mit dir spielen wir nicht mehr, du bist Jude!" Das war wie eine Hinrichtung. Da laufen mir heute noch die kalten Scheuer den Rücken runter, wenn ich das erzähle. Das heißt also: Über 70 Jahre ist das her, und es zeigt eigentlich, dass ich aus diesem Schock nicht wirklich herausgekommen bin. Dieses Gefühl, die Furcht vor Freundschafts- oder Liebesverlust, die ist geblieben.


    Die nächsten Tiefschläge, das jähe Ende eines Elbausflugs, die Vertreibung vom Jungfernstieg und der Rauswurf der Großmutter aus ihrem Schrebergarten machen klar, wie schnell viele Deutsche die Unmenschlichkeit zu ihrem Lebensprinzip machten. Giordanos Beschreibung einer Jugend im Dritten Reich, als Sohn einer im nazistischen Rassenwahn als "privilegierte Mischehe" bezeichneten Familie, gerät dicht, ergreifend, eindringlich und sprachgewaltig.

    Was sich da in kurzer Zeit und rascher Folge, Schlag auf Schlag und unabhängig voneinander, offenbarte, war ein Gesinnungswechsel von epidemischer Expansion. Bisher brachliegende, schlummernde Energien sahen sich angesprochen und bestätigt. Hier war etwas freigesetzt, etwas angestochen worden, das in Deutschland lange schon latent in vielen Herzen und Hirnen genistet hatte und nun, staatlicherseits mobilisiert, sanktioniert und gefordert, lauthals und massenhaft hervorkroch - der Appell von oben traf auf seine Entsprechung von unten.

    Inmitten von Niedertracht, Verrat und Bosheit gibt es aber auch immer wieder Zeichen wahrer Menschlichkeit: Menschen, die auch damals spontan und kompromisslos, unter Einsatz ihres eigenen Lebens, halfen. Ihnen setzt Giordano voller Dankbarkeit ein literarisches Denkmal. Mit Kriegsausbruch 1939 gibt es für die Familie Giordano immer weniger Normalität, das NS-Regime schlägt immer heftiger zu, verhaftet und misshandelt den 16-Jährigen, wirft die beiden Brüder schließlich aus der Schule, vertreibt sie aus der Stadt. Für eine kurze Zeit: Zuflucht in der Provinz.

    Radio London hat eben angekündigt, dass Berlin bis Jahresende jede Nacht angegriffen wird, jede Nacht. Was dann geschah, werde ich nie vergessen. Mein Bruder und ich verließen das Dorf, rannten, bis wir außer Hörweite waren, und schickten dann unseren brüllenden Jubel nach oben, unter wilden Sprüngen, fuchtelnd, gestikulierend, mit gestammeltem Dank an die Besatzung da oben, die unter Lebensgefahr ihren Teil zu unserer Befreiung beitrugen. "Kill them!" schrien wir, "Kill them all!", ehe wir langsam und widerwillig, am ganzen Körper geschüttelt, in den Ort zurückkehrten. Und das, obwohl wir doch erst vor kurzem selbst dem Inferno des Luftkriegs ausgesetzt waren, in genauer Kenntnis seiner Höllen, den Brandgeruch noch in der Nase und den Druck berstender Sprengbomben in den Ohren.

    Es sollte noch schlimmer kommen: Anfang 1945 griff die Gestapo in Hamburg auch gegen die "Mischehen" durch, nachdem die "Volljuden" schon ein Jahr zuvor restlos deportiert worden waren. "Es war der Anfang vom Ende.", schreibt Giordano. Im Februar 1945 dann das Langbefürchtete: der Deportationsbefehl für die Mutter. Ihr Sohn hatte ein Versteck vorbereitet und für Verpflegung gesorgt, von Freunden, die so selbstverständlich helfen, dass sie so deplatziert wie Engel in der Hölle gewirkt haben müssen. Das Paradies war eine Hölle: ein kaltes Kellerloch, vier mal vier Meter, voller Wasser und Ratten. Ein viertel Jahr lebte die fünfköpfige Familie Giordano in der ständigen Gefahr, entdeckt und damit auch ermordet zu werden.

    Wir waren entdeckt, die Gestapo in der ehemaligen Waschküche. Mit einem Sprung war ich hinter meiner Mutter und entsicherte die Pistole. Meine Mutter legte mit der Rechten ihren Nacken frei. Es war eine Situation da, die früh vorgedacht war: "Mutter darf nicht in die Hände der Gestapo fallen." Nun war es soweit und ich bereit, abzudrücken. Da hört der Lärm auf, ganz plötzlich. Niemand hatte uns entdeckt. Die wieder gesicherte Pistole umkrampft, war ich förmlich überschwemmt von einer Frage, die mich seither nicht mehr losgelassen hat: "Was, wenn ich abgedrückt, wenn ich geschossen hätte?" Sie wird mich bis an mein Lebensende verfolgen.

    "Unter welchem Druck müssen 15-, 16-, 17-Jährige stehen, die sich Gedanken machen, den geliebtesten Menschen, die eigene Mutter, umzubringen, um ihr ein schlimmeres Schicksal zu ersparen? Das ist ja etwas Unausdenkbares. Ich habe mit meiner Mutter darüber nie gesprochen, obwohl wir beide danach oft genug dicht davor waren."

    Die Schilderung des Lebens in der Nazizeit, die, gemeinsam mit der Kindheit, fast die Hälfte des Buches ausmacht, ist dem Autor großartig gelungen, hier hat ein Gegenstand eine würdige Sprache gefunden, ein Destillat aus dem persönlichen Leid und Überlebens-Glück. Auch der folgende Abschnitt, über Giordanos Verirrungen in die DDR und die Kommunistische Partei, ist packend und überzeugend erzählt. Die Kommunisten, so glaubte er nach dem Krieg, müssten seine Freunde sein, da sie ja die Feinde seiner Feinde waren. Mit Abstand, Witz und Ironie schaut er heute auf sich selbst zurück, staunend, wie blind man kurz nach dem Untergang einer totalitären Diktatur einem anderen Führer Nibelungentreue schwören kann. Geradezu genüsslich zelebriert er den Abschied, den Widerruf, den Ausbruch aus dem Gedankengefängnis nicht nur des Stalinismus, sondern des Kommunismus: "... einer Hoffnung, die von ihrer Geburt an verloren war."

    "Die Anhänger der "Internationale der Einäugigen", die sind eben auch einäugig! Mit ihren zwei Fraktionen: Die einen sind auf dem rechten Auge blind, die anderen sind auf dem linken Auge blind. Und ich gehörte elf Jahre lang dieser "Internationale der Einäugigen", der linken Fraktion an, war auf einem Auge blind, bin dann sehend geworden durch einen langen, schmerzvollen Prozess; aber das Entscheidende dabei ist eine Erkenntnis: Die Humanitas ist unteilbar! Überall, wo Menschenrechte verletzt werden, überall, muss dagegen angegangen werden! Und wenn man einer Partei oder Organisation angehört, die das verbietet aus ideologischen Gründen, dann ist man auf dem falschen Dampfer!"

    Aber die junge Bundesrepublik hat es dem Überlebenden des Holocaust auch nicht leicht gemacht. Denn schon bald deutete sich das an, was Giordano die "zweite Schuld" nennt, die "Verdrängung und Verleugnung der ersten unter Hitler". Sein Leben lang hat er dagegen angekämpft.

    "Wir leben hier in einem Land, wo den größten geschichtsbekannten Verbrechen mit Millionen und Abermillionen Opfern, die hinter den Fronten umgebracht worden sind wie Insekten, das größte Wiedereingliederungswerk für Täter gefolgt ist, das es je gegeben hat. Sie sind nicht nur straffrei davongekommen, sondern sie konnten ihre Karrieren auch unbeschadet fortsetzen. Grauenhafterweise! Wer wagt denn zu bestreiten die Generalthese von mir: Hitler ist militärisch geschlagen, aber geistig oder besser ungeistig ist er nicht geschlagen! Das konstatieren zu müssen im Jahre 2007 ist eine schreckliche Bilanz!"

    Und trotzdem hat ihm diese Bundesrepublik, an die er sich "angenagelt" fühlt, alle Freiheiten gegeben, die er als Autor und Fernsehjournalist brauchte. Niemals hätte er Zensur erlebt, auch nicht, wenn die Wellen nach Ausstrahlung seiner Filme hochschlugen, wie zum Beispiel nach den Filmen über die deutsche Kolonialgeschichte oder über den Völkermord an den Armeniern. 25 Jahre Fernsehen waren für Giordano 25 Jahre Glück und Freiheit. In der üppigen Beschreibung der Fernsehjahre wird noch einmal eine Zeit lebendig, in der das Fernsehen eine Weltkarte vor sich ausgebreitet sah, die nur aus weißen Flecken bestand: Noch nichts war todgefilmt worden, kein Ort, in dem sich die Fernsehteams drängelten. Es waren die Jahre der großen neuentdeckten Themen: Gewalt, Hunger, Gerechtigkeit. Hier verfällt Giordano noch einmal in die blumige Sprache der frühen Fernsehreportagen, als die Männer - und ausschließlich Männer - hinter den Kameras dem staunenden Volk daheim gönnerisch die Exotik der Ferne buchstabierten. Seine Erzählung verliert an Stringenz und Objektivität, und die präzise, eindringliche Beschreibung weicht mitunter geschwätziger Eitelkeit. 1982, als sich Giordanos aus dem Gestapokeller mitgebrachte Klaustrophobie so weit verschlimmert hatte, dass er in kein Flugzeug mehr steigen konnte, begann das, was er den "kreativen Kreisel" nennt. Bücher über Israel, Ostpreußen, Irland, Sizilien, über die zweite Schuld der Verdrängung, über die falschen Traditionen der Bundeswehr.

    "Erinnerungen eines Davongekommenen" ist mein 19. Buch. Also lauter Teilabschnitte meines Lebens sind bereits in Buchform herausgekommen. Das heißt, "Erinnerungen eines Davongekommenen" sind alle meine Bücher in einem."

    Und das ist Segen und Fluch zugleich: So flüssig Giordano in der ersten Buchhälfte schreibt, so zerfasert das letzte Drittel in eine Aufzählung und Umschreibung seiner vielfältigen Buchprojekte, in eingestreute Anekdoten und Schnurren. Manche Sätze und Passagen wiederholen sich zudem innerhalb des Buches fast wortwörtlich; hier hätte ein strafferes Lektorat gut getan.

    In den letzten Abschnitten referiert er dann Themen, die ihm aktuell wichtig sind: Atheismus, Religion und der militante Islam; er plädiert für ein Europa, einen Westen, der sich seiner Werte bewusst ist und die Freiheit nicht einer falsch verstandenen Toleranz opfert. Allesamt vernünftige Überlegungen, passend für einen Essay - nur in einer Autobiographie wirken sie etwas befremdlich und deplatziert. Verblüffend und ermutigend jedoch ist sein Resümee: 5 Lebensjahrzehnte habe er in Angst, Schmerz oder Trauer verbracht - Giordano ist zweimal verwitwet -, aber es bleibt ihm immer das Staunen und die diebische Freude, das Dritte Reich überlebt zu haben. "Ich bin ein Glückskind." schreibt er. Das Buch ist auch die Geschichte einer Geisterbeschwörung: die Geister der Vergangenheit, die Giordano loswerden will, mit denen er kämpft und denen er sich immer wieder aussetzt. Der Leser leidet und freut sich mit ihm - und was kann ein Autor mehr erwarten?

    Henry Bernhard war das, über Ralph Giordanos "Erinnerungen eines Davongekommenen". Veröffentlicht bei Kiepenheuer und Witsch in Köln, 420 Seiten zum Preis von 22 Euro und 90 Cent.