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Perspektive Europa

Man wolle keine Nabelschau betreiben, sondern das Blickfeld erweitern - so hat man bei der Berliner Akademie der Künste das Ziel der Konferenz "Perspektive Europa" formuliert. Eingeladen waren unter anderem die Literaturnobelpreisträger Imre Kertész und Wole Soyinka, die Schriftstellerkollegen György Konrad und Ilija Trojanow sowie Filmemacher Wim Wenders und Schauspieler Mario Adorf. Dabei sollte darüber diskutiert werden, für welche Werte das Europa des 21. Jahrhunderts stehen soll. Außerdem erhoffte man sich vom mexikanischen Autor Carlos Fuentes und seiner algerischen Kollegin Assia Djebar einen Blick von außen. Und schließlich wollte man auch nach der Bedeutung der Kultur für das Europa der Zukunft fragen.

Von Arno Orzessek |
    " Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass das wirklich Novum des 20. Jahrhunderts der totalitäre Staat und Auschwitz waren."

    Als Literaturnobelpreisträger Imre Kertész am Pariser Platz ans Pult trat, erschien es noch einmal in voller Größe: das Europa der monströsen Ideologien und monströsen Morde, das sich und seine Legitimation zerstört hat.

    Aber natürlich, der Holocaust-Überlebende Kertész weiß selbst am besten, dass Auschwitz der Nullpunkt aller Perspektiven ist. Er sieht Europa heute im Zustand eines vielfachen Danach - und für Osteuropa heißt das vor allem: nach dem Kommunismus.

    Aus Kertész' Sicht haben die Osteuropäer die Freiheit ohne eigenes Zutun erlangt. Alle Aufstände unter den Chiffren 'DDR '53', 'Ungarn '56' usw. seien folgenlos geblieben - "Schulen der Bitterkeit". Und nach ''89' habe Westeuropa nur arrogantes Schulterklopfen übrig gehabt. Imre Kertész:

    " Mit dem Erhalt der Freiheit wurde daher nicht so sehr der Geist der Erneuerung freigesetzt, als vielmehr der der schlechten Vergangenheit des Ressentiments, des Wiederaufreißens uralter nationaler Wunden, manchenorts in Form von Mord und Genozid ausartende nationalistische Raserei, anderenorts als verhaltener, hinter der Maske der Demokratie verborgener Nationalismus."

    Bezeichnenderweise färbte die Kertészsche Düsterkeit nicht im Geringsten auf die jüngere Generation von Mittel- und Osteuropäern ab. Sie feierte gleich beides: Das Kuddelmuddel unter dem Titel Europa und dessen Peripherie.

    Der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk etwa findet Deutschland nicht uninteressant, aber Albanien und Rumänien viel interessanter. Und der polyglotte Weltenbummler und intellektuelle Alleskönner Ilja Trojanow geht aus guten Gründen noch weiter.

    " Es gibt in den Randregionen die Auswahlmöglichkeit des Polygamisten... Wir sehen, dass England an einem Rand nicht so klar europäisch definiert ist, wir sehen, dass die Grenze Richtung Osten sehr sehr unklar ist... Europa wird verhandelt in Weißrussland, in der Ukraine, an der Grenze zwischen Bulgarien und der Türkei, in Alexandria, in Libanon. Das sind sozusagen die Orte, wo wir, wenn wird dort genau hingucken, eine Ahnung bekommen, was Europa gewesen ist und was es sein könnte."

    Man wünschte sich, Brüsseler Funktionäre hörten mit. Für Identität - den ewigen Fetisch aller Europa-Konferenzen - interessierte sich kaum jemand. Ex-Akademie-Präsident György Konrád bewitzelte sogar die Identität und ihre Narren.

    Unter Künstlern solcher Wendigkeit sind Begriffe der Veränderung natürlich viel opportuner als Begriffe des Festen. Hat nicht Europa, als es noch genau wusste, was es war, alle Welt kolonisiert? Dabei würde Ilja Trojanow den Trouble, der mit dem fluenten europäischen Projekt einhergeht, keineswegs leugnen - er begrüßt ihn einfach.

    " Konflikte sind notwendig für kulturelle Produktion, Reibungsflächen, Irritationen... Wenn wir einen Katalog für Kulturrechte aufstellen wollen, dann würde ich das Recht auf Missverständnis relativ hoch setzen. Denn Missverständnisse sind produktiv. Das Problem dieser multikulturellen Diskussionen in unserer Gesellschaft ist ja, dass eine Kindergartenharmonie herbeigewünscht wird."

    Der "Blick von außen", durch den sich die von Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier angeregte Veranstaltung besonders auszeichnen wollte - er blieb diffus. Die von Sandra Maischberger unglücklich moderierte Außen-Runde - immerhin besetzt mit Kapazitäten wie dem nigerianischen Nobelpreisträger Wolé Soyinka und der gefeierten, aus Algerien stammenden Schriftstellerin Assia Djebar - hatte den geringsten Erkenntniswert, beim höchsten Faktor Schwammigkeit.

    Aber da war noch Carlos Fuentes. Für den charismatischen mexikanischen Politiker und Schriftsteller gehört Süd-Amerika vermittels der Geschichte zum Besten, was Europa der Welt zu bieten hat. Und für einen Fuentes, der als realistischer Visionär auftritt, ist Zuversicht sowieso immer die richtige Haltung:

    " Heute realisiert sich das neue Europa - und ich unterstreiche: das neue Europa - mit Jacques Derridas Einsicht, dass Europa auch das ist, was in seinem Namen versprochen wurde, das Beste von Europa in der Geschichte und als Möglichkeit, nicht als Last."