Der Mittelfinger seiner linken Hand ist merkwürdig verkrüppelt. Der Knochen der Fingerkuppe steht ab. Ilhan, ein hagerer Junge mit misstrauischem Blick, richtet sich auf seinem Teegarten-Hocker auf und reckt den Finger mit einem triumphierenden Lächeln in die Höhe. Dann erzählt er, wie es zu der Behinderung kam:
"Den Finger habe ich mir selber eingeklemmt an einer Schranktür. Denn mit einer knochenlosen Fingerspitze lässt sich besser unbemerkt etwas aus einer Jackentasche herausziehen. Mit zwölf Jahren bin ich allein nach Istanbul und habe dort solche Tricks gelernt. Ich bin dann von Stadt zu Stadt und habe viel geschluckt - Tabletten, Pattex, was aufzutreiben war. Von der Polizei hatten wir nichts zu befürchten. Wenn die uns geschnappt hatten, haben sie uns an der nächsten Ecke wieder laufen lassen."
Ilhan ist heute 21 und, wie er sagt, raus aus dem Geschäft. Er verkauft auf der Straße Bücher. Doch das Problem der Jugendkriminalität in Diyarbakir besteht weiter Nach Angaben der Polizeibehörden stieg die Zahl der von Minderjährigen begangenen Straftaten in den vergangenen drei Jahren um beinahe 100 Prozent: Einbrüche, Autodiebstähle, Raub. Die jugendlichen Delinquenten beschränken sich längst nicht mehr nur auf Diyarbakir: Sie reisen auf eigene Faust oder von Banden geschickt in die westlichen Metropolen Istanbul oder Izmir auf Raubzug. Die Täter sind die Kinder der kurdischen Bürgerkriegsflüchtlinge - Entwurzelte, deren Eltern vor den Kämpfen zwischen der PKK und der türkischen Armee in die Stadt geflohen waren. Tausende leben auf der Straße. Sozialarbeiter wie Irfan Polat kümmern sich um die gestrandeten Kinder von Diyarbakir. Er hat beobachtet, dass die Familien in der Stadt plötzlich nicht mehr funktionieren können:
"Die meisten der jungen Straftäter leben gar nicht auf der Straße, die wohnen weiter bei ihren Familien. Aber diese Familien haben meist sehr viele Kinder und sind nicht in der Lage, sich zu kümmern. In den Dörfern sind die Männer stark, sind eine Autorität. Sie können, auch wenn sie arm sind, sich dort selbst versorgen. Aber in der Stadt sind sie plötzlich arbeitslos, abhängig von anderen, und die Kinder werden auf einmal zur Last."
Schon vor drei Jahren kündigte die türkische Regierung einen nationalen Aktionsplan gegen Kinderarmut, Drogenmissbrauch und Kriminalität an. In einem Papier aus dem Ministerpräsidentenamt hieß es damals, dass insbesondere die Zahl der Straßenkinder in Großstädten "zu einem signifikanten Problem" gewachsen sei, gegen das dringend etwas getan werde müsse. Doch geschehen ist bislang so gut wie nichts. In Diyarbakir gibt es ein paar Nichtregierungsorganisationen und städtische Kinderheime, doch sie können dem Problem nicht Herr werden, solange das Pro-Kopf-Einkommen in den Kurdengebieten dreimal niedriger ist als in der Westtürkei.
Es ist elf Uhr abends, zwei 14-Jährige durchwühlen den auf die Strasse gestellten Müll nach Getränkedosen. Die Fundstücke werfen sie in einen riesigen Sisalsack, der auf eine Arte Sackkarre gespannt ist. Ihre viel zu weiten Hosen haben die beiden mit Gürteln an ihren dünnen Hüften gebunden. Nein, Straßenkinder seien sie nicht, sagen sie, sie hätten ein Zuhause:
"Wir gehen doch tagsüber in die Schule! Abends arbeiten wir halt. Mein Vater ist behindert, der kann nicht arbeiten. Und wir sind zehn Geschwister."
"Ich arbeite an einer Karriere als Profisportler. Ich spiele Feldhockey und bin sogar in die türkische Jugendnationalmannschaft berufen worden, aber ich konnte nicht hingehen, weil ich ja arbeiten musste."
Dann packen die beiden zusammen und ziehen weiter in die mondhelle Nacht von Diyarbakir, die wie jede Nacht den Kindern der Stadt gehört.
Programmtipp: "Gesichter Europas" am 14. September ab 11.05 Uhr im Deutschlandfunk "Das Pulverfass der Türkei - Eine Reise durch das fremde Kurdistan"
"Den Finger habe ich mir selber eingeklemmt an einer Schranktür. Denn mit einer knochenlosen Fingerspitze lässt sich besser unbemerkt etwas aus einer Jackentasche herausziehen. Mit zwölf Jahren bin ich allein nach Istanbul und habe dort solche Tricks gelernt. Ich bin dann von Stadt zu Stadt und habe viel geschluckt - Tabletten, Pattex, was aufzutreiben war. Von der Polizei hatten wir nichts zu befürchten. Wenn die uns geschnappt hatten, haben sie uns an der nächsten Ecke wieder laufen lassen."
Ilhan ist heute 21 und, wie er sagt, raus aus dem Geschäft. Er verkauft auf der Straße Bücher. Doch das Problem der Jugendkriminalität in Diyarbakir besteht weiter Nach Angaben der Polizeibehörden stieg die Zahl der von Minderjährigen begangenen Straftaten in den vergangenen drei Jahren um beinahe 100 Prozent: Einbrüche, Autodiebstähle, Raub. Die jugendlichen Delinquenten beschränken sich längst nicht mehr nur auf Diyarbakir: Sie reisen auf eigene Faust oder von Banden geschickt in die westlichen Metropolen Istanbul oder Izmir auf Raubzug. Die Täter sind die Kinder der kurdischen Bürgerkriegsflüchtlinge - Entwurzelte, deren Eltern vor den Kämpfen zwischen der PKK und der türkischen Armee in die Stadt geflohen waren. Tausende leben auf der Straße. Sozialarbeiter wie Irfan Polat kümmern sich um die gestrandeten Kinder von Diyarbakir. Er hat beobachtet, dass die Familien in der Stadt plötzlich nicht mehr funktionieren können:
"Die meisten der jungen Straftäter leben gar nicht auf der Straße, die wohnen weiter bei ihren Familien. Aber diese Familien haben meist sehr viele Kinder und sind nicht in der Lage, sich zu kümmern. In den Dörfern sind die Männer stark, sind eine Autorität. Sie können, auch wenn sie arm sind, sich dort selbst versorgen. Aber in der Stadt sind sie plötzlich arbeitslos, abhängig von anderen, und die Kinder werden auf einmal zur Last."
Schon vor drei Jahren kündigte die türkische Regierung einen nationalen Aktionsplan gegen Kinderarmut, Drogenmissbrauch und Kriminalität an. In einem Papier aus dem Ministerpräsidentenamt hieß es damals, dass insbesondere die Zahl der Straßenkinder in Großstädten "zu einem signifikanten Problem" gewachsen sei, gegen das dringend etwas getan werde müsse. Doch geschehen ist bislang so gut wie nichts. In Diyarbakir gibt es ein paar Nichtregierungsorganisationen und städtische Kinderheime, doch sie können dem Problem nicht Herr werden, solange das Pro-Kopf-Einkommen in den Kurdengebieten dreimal niedriger ist als in der Westtürkei.
Es ist elf Uhr abends, zwei 14-Jährige durchwühlen den auf die Strasse gestellten Müll nach Getränkedosen. Die Fundstücke werfen sie in einen riesigen Sisalsack, der auf eine Arte Sackkarre gespannt ist. Ihre viel zu weiten Hosen haben die beiden mit Gürteln an ihren dünnen Hüften gebunden. Nein, Straßenkinder seien sie nicht, sagen sie, sie hätten ein Zuhause:
"Wir gehen doch tagsüber in die Schule! Abends arbeiten wir halt. Mein Vater ist behindert, der kann nicht arbeiten. Und wir sind zehn Geschwister."
"Ich arbeite an einer Karriere als Profisportler. Ich spiele Feldhockey und bin sogar in die türkische Jugendnationalmannschaft berufen worden, aber ich konnte nicht hingehen, weil ich ja arbeiten musste."
Dann packen die beiden zusammen und ziehen weiter in die mondhelle Nacht von Diyarbakir, die wie jede Nacht den Kindern der Stadt gehört.
Programmtipp: "Gesichter Europas" am 14. September ab 11.05 Uhr im Deutschlandfunk "Das Pulverfass der Türkei - Eine Reise durch das fremde Kurdistan"