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Peru
Die entlegene Inka-Stätte Choquequirao

Alte Inka-Stätten ziehen viele Touristen nach Peru. Wem das Highlight Machu Picchu zu überlaufen ist, der kann tagelang durch den Urwald zur ebenso beeindruckenden Ruinenstadt Choquequirao wandern. Mit der Ruhe dort dürfte es aber bald vorbei sein.

Von Sebastian Erb | 03.01.2016
    Und wie sollen wir da bitte rüber? Wir stehen am Río Apurímac, in einem der tiefsten Canyons der Welt. Auf der anderen Seite des Flusses führt der Weg in Serpentinen wieder hinauf, steil hinauf, in Richtung Choquequirao, der Stadt der Inkas. Der Apurímac ist ein reißender Strom, ein Quellfluss des Amazonas, Schaum tanzt auf der schlammigen Brühe. Und es gibt hier keine Brücke.
    Die alte Brücke wurde vor Jahren bei einem Hochwasser zerstört, erzählt man uns. Die neue ist noch nicht fertig gebaut. Aber es gibt eine Zwischenlösung: eine Seilbahn. Wobei Seilbahn etwas hochtrabend daherkommt. Es handelt sich um eine Metallkiste mit Holzboden, per Rolle an einem Stahlseil aufgehängt, das über den Fluss gespannt ist. Ob das bloß hält? Den Rucksack einladen, einsteigen und los geht's.
    Eine rasante Fahrt beginnt – bis zur Flussmitte. Dann muss man sich an einem dünnen Tau langsam emporziehen. Es wackelt und geht ziemlich in die Arme.
    Choquequirao, die "Wiege des Goldes", wie die Inka-Ruine übersetzt heißt, lässt sich nur zu Fuß erreichen. Die Wanderung dauert insgesamt vier Tage, 32 Kilometer hin, 32 wieder zurück, fast 6000 Höhenmeter sind es im Auf- und Abstieg durch die Bergwelt der peruanischen Anden. Die Wanderung ist eine Alternative für alle, denen Machu Picchu zu überlaufen ist. Tausende Touristen besuchen die legendäre Inkastadt amTag, der Treck dorthin ist monatelang im Voraus ausgebucht.
    Auf der anderen Seite des Apurímac. Wir schleppen uns den staubigen Pfad hinauf. Von unten war das Ziel schon zu sehen, ein leuchtend grüner Fleck gut 600 Meter höher, der wie ein Balkon thront über dem kargen Hang. Es sah alles so nah aus, wir konnten Bananenstauden erkennen und Maispflanzen. Aber jetzt will das Ziel einfach nicht näher kommen, die Sonne brennt; und der Rucksack wird immer schwerer.
    Zwei Stunden dauert der Aufstieg noch, sagt ein Mann, der uns entgegen kommt. Es ist einer der Momente, in denen wir auch gerne ein oder zwei Maultiere hätten fürs Gepäck. So sind hier die meisten unterwegs.
    Als wir endlich im Weiler Santa Rosa ankommen, ist es schon dunkel. Der Platzwart begrüßt uns und zeigt uns, wo wir das Zelt aufbauen können. Schnell schlafen wir ein.
    Der nächste Morgen. Auf unserem Gaskocher kochen wir Kaffee. Don Julián setzt sich zu uns, der Wart des Zeltplatzes. Er ist Anfang 30, ein kleiner Mann mit einem runden, freundlichen Gesicht. Er wohnt hier in einem Häuschen mit Solarzelle auf dem Dach. Weil er Probleme mit den Beinen hat, kommt er auch selten weg. Uns will er erzählen, wie seine Vorfahren Choquequirao entdeckten. Um das Jahr 1880 sei das gewesen.
    "Meine Vorfahren kamen auf der Suche nach neuem fruchtbarem Land hierher. Sie fuhren auf einem Floß auf dem Apurímac, denn es gab keine Wege durch den unberührten Urwald. Sie rodeten den Wald mit Feuer. Aber sie verloren die Kontrolle über das Feuer und mussten sich deshalb in einer Höhle verstecken. Drei Monate lang. Irgendwann hatten sie nichts mehr zu essen, außer ihrer eigenen Exkremente."
    Die Geschichte gebe immer der Großvater an seinen Lieblingsenkel weiter, sagt Don Julián. Es lässt sich nicht so richtig sagen, was davon Realität ist und was Fiktion.
    "Mehr tot als lebendig landeten sie dann hier an diesem Ort, den sie Santa Rosa nannten, nach der heiligen Jungfrau. Sie holten ihre Frauen und Kinder nach. Sie beschlossen, die Gegend zu erkunden. Und als sie sich dann den Berg hoch kämpften, entdeckten sie Mauern, eine Ruine: Choquequirao."
    Für eine Weile hätten seine Vorfahren sogar in der Ruine gewohnt. Aber es ging nicht gut. Seltsame Stimmen waren zu hören, Kinder wurden ohne Herz geboren und starben gleich nach der Geburt. Choquequirao – ein verfluchter Ort.
    Anderthalb Stunden hat Don Julián nun schon erzählt. Er humpelt in sein Haus und holt eine schmale durchsichtige Glasflasche. Darin: in Alkohol eingelegte Schlangen. Don Julián nimmt einen Schluck. Wir müssen los.
    Mit der Höhe ändert sich die Vegetation. Es wird feuchter, der Weg durch den Nebelwald ist schlammig. Am Rand schneiden Arbeiter mit Macheten das Gestrüpp. Nach einiger Zeit erreichen wir den Weiler Marampata. Jetzt ist es nicht mehr weit.
    Der Parkwächter scheint gerade erst aufgestanden zu sein. Aus welchem Land wir kommen, will er wissen. Sonst sagt er nicht viel und verlangt nur den Eintritt, 37 Soles pro Person, elf Euro.
    An den steilen bewaldeten Hängen tauchen die ersten steinernen Terrassen auf, angelegt vor mehr als 500 Jahren. Das letzte Stück laufen wir ohne Gepäck. Der Hauptplatz von Choquequirao ist erstaunlich groß. Das Gras leuchtet grün, es sieht aus wie feinster englischer Rasen. Steinmauern alter Gebäude stehen hier, das waren früher Werkstätten. Etwas erhöht steht das Haus des Priesters. Ein Stück den steilen Hang hinab schauen wir uns die aus Steinen zusammengesetzten Lama-Wandbilder an, die es sonst nirgends gibt.
    Erst knapp ein Drittel der Ruine wurde bislang ausgegraben. Vollständig freigelegt wäre das Gelände sogar größer als das von Machu Picchu. Aber die Arbeiten stocken seit Jahren. Bis heute weiß man recht wenig über die Inkastadt. Für den Handel spielte sie wohl eine Rolle, aber auch für religiöse Zeremonien.
    Den ganzen Nachmittag sind wir allein in Choquequirao. Denn bislang wandern nicht einmal 500 Leute im Monat hierher, die meisten in Gruppen. Mit der Ruhe dürfte es aber bald vorbei sein.
    Denn bald schon sollen auch hierhin viele Touristen kommen. Mit einer Seilbahn. Und zwar nicht mit so einer Kiste, die uns über den Río Apurímac brachte, sondern mit einer großen Pendelbahn über das tiefe Tal. Die Fahrt soll direkt an der Fernstraße beginnen und eine Viertelstunde dauern. Auch dieses Inka-Erbe wird dann viel Geld in die Kassen der Tourismusindustrie spülen. Wann genau, das ist aber noch unklar. Ein Gerichtsurteil brachte den ursprünglichen Zeitplan durcheinander.
    Don Julián weiß nicht so recht, was er davon halten soll. Er sei gar nicht grundsätzlich gegen eine Seilbahn, sagt er. Aber sie dürfe nicht ganz oben enden, an diesem mystischen Ort.
    "Der Berg, auf dem Choquequirao thront, ist sehr instabil. Wenn sie die Seilbahnstützen in den Fels rammen, kann der ganze Berg kollabieren und in den Apurímac fallen. Das ist ein Angriff auf ein Kulturerbe. Die Leute denken nur daran, wie sie heute Geld verdienen können. Sie denken nicht an morgen."
    Don Julián profitiert selbst von den Touristen, er bekommt ein paar Soles pro Zelt und er verkauft Limonaden. Aber er hat auch Angst, dass seine Nachbarn hier die Landwirtschaft vernachlässigen, weil sie nur noch Geld im Tourismus machen wollen.
    Auch der Niederländer Jan Willem van Delft arbeitet hier im Tourismus, er hatte den richtigen Riecher.
    "Als ich zum ersten Mal hierher kam, das war im Jahr 2005, da gab es noch keinen Trail, der Treck war noch nicht da. Das hat angefangen in 2006, da hat auch mein Hostel angefangen. Ich hatte also Glück, dass das zusammenfiel. Früher, 2005, sollte man ein Bergsteiger sein, um den Treck laufen zu können. Jetzt wurden die Wege verbreitert, alles ist besser geworden."
    Jan Willem ist war immer wieder in Peru, um mit Freunden Gipfel zu erklimmen. Und dann ließ er sich hier nieder. In seiner Pension übernachten nun viele Wanderer, die sich nach Choquequirao aufmachen. Der bevorstehenden Veränderung durch die Seilbahn blickt er gelassen entgegen.
    "Hier geht viel los, hier wird sich viel ändern. Und die Tour wird immer da sein. Auch wenn die Seilbahn kommt, dann kann man immer hier laufen. Es wird immer schön sein."
    Hoffentlich behält er da recht. Das wird wohl jeder denken, der gerade erschöpft, aber glücklich aus Choquequirao zurückkommt.