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Peter Kurzeck
Ein spektakulärer Name der deutschen Literaturgeschichte

Peter Kurzeck hat ein Zeitenpanorama der Bundesrepublik geschaffen, aber auch Igelbeschreibungen über 60 Seiten hinweg, die die Trauer der Igel über das Asphaltieren ihrer Feldwege darlegen. Deutschlandfunk-Redakteur Denis Scheck würdigt den Verstorbenen.

Denis Scheck im Gespräch mit Karin Fischer | 26.11.2013
    Der schnurrbärtige Peter Kurzeck in einer Aufnahme von 2000.
    Peter Kurzeck (1943-2013) in einer Aufnahme von 2000 (dpa / picture alliance / Arne Dedert)
    Karin Fischer: Peter Kurzeck hat die Dinge und die Menschen zur Sprache gebracht, und er hat damit ein Zeitenpanorama der Bundesrepublik geschaffen. Sein Opus Magnum war das Projekt „Das alte Jahrhundert“, das auf zwölf Bände angelegt war und dessen fünfter Band, „Vorabend“, 2011 erschienen ist. In einer Lesung für den Deutschlandfunk erfährt man vom Land seiner Kindheit: Oberhessen von der Zeit nach dem Krieg bis in die 70er-Jahre. Orte und Momente, die es heute so nicht mehr gibt. Hören Sie Peter Kurzeck:
    O-Ton Peter Kurzeck: “Man muss die ganze Gegend erzählen, die Zeit und dazu die Menschen: Kleinbauern, Handwerker und Gießereiarbeiter, die Oberdorf-Witwen, die alten Leute und ihre Geschichten und die Kinder, als wir alle noch Kinder waren, die alten Kaufläden, Flohmarkt- und Flüchtlingsgeschichten, wie es bei der Arbeit zugeht, Lebensläufe, Vergangenheiten, die Zeit, was die Zeit mit uns macht.“
    Fischer: Das Riesen-Erzählwerk „Das alte Jahrhundert“ muss jetzt unvollendet bleiben, verbindet Peter Kurzeck aber mit Schriftstellern wie Walter Kempowski und dessen „Echolot“ oder, noch deutlich höher gegriffen, mit den Bewusstseinsströmen eines James Joyce oder den Gefühlspanoramen eines Marcel Proust. - Frage an meinen Kollegen Denis Scheck: Was macht Peter Kurzeck mit den Genannten vergleichbar und was unterscheidet ihn?
    Denis Scheck: Ganz einfach die literarische Qualität. Peter Kurzeck, das war ein Donnerschlag, darf man sagen, in der deutschen Gegenwartsliteratur, eine der eindrücklichsten Gestalten, die man sowohl als Leser wie auch als Mensch in dieser Literatur kennenlernen konnte. Ich hatte das Privileg, ihn einige Male zu treffen. Im Grunde ist er sehr gut durch eine kleine Eigentümlichkeit beschrieben. Peter Kurzeck trug lange Zeit keine Uhr, dann aber als Erbstück die Uhr seines Vaters, die goldene Uhr. Aber er trug sie mit verstellter Uhrzeit, und zwar immer wieder neu verstellter Zeit, und er trug sie mit dem Zifferblatt nach innen. Sein Verhältnis zur Zeit, das ist, glaube ich, der Schlüssel zur Poetologie von Peter Kurzeck, und von den Genannten hat er die größten Gemeinsamkeiten daher mit Marcel Proust. Er verstand sein Schreiben als Akt des Widerstands gegen das Verschwinden. Er wollte etwas aufbewahren, sich etwas erschreiben, glaube ich. Er verstand Schreiben als magischen Akt, als Zauberei.
    Fischer: Peter Kurzeck hat viel autobiographisches Material verwendet, seine Erzählungen kreisten um die hessische Heimat, um Frankfurt, salopp gesprochen: er hat aus dem Dorf erzählt, in seinem Fall ganz konkret aus dem Dorf Staufenberg bei Gießen und aus der Stadt Frankfurt. Dort hat er seit 1977 gelebt. Aber wie er das getan hat, das haben wir gerade nur sehr ausschnitthaft gehört. Dazu gehörte ja auch seine besondere Stimme.
    Scheck: Darauf will ich hinaus. Das ist Teil der Magie von Peter Kurzeck. Peter Kurzeck ist ja geboren 1943 in Böhmen, in Tachau, und verlor als Dreijähriger die Heimat. Und sein Akt der Zauberei war, sich das herbeizuschreiben, was er nicht mehr hatte. Peter Kurzeck hat immer wieder – und Leser seiner Texte wissen das ganz genau – darauf abgehoben, dass er eine glückliche Kindheit eigentlich hatte, trotz des Vertriebenenstatus, trotz der Neuankunft in diesem Dorf und natürlich der Schikane, der man als Heimatvertriebener ausgesetzt war in der jungen Bundesrepublik. Er war ein glückliches Kind und er hat sich diese magische Fähigkeit erhalten, uns an den glücksbesonnten Stunden seiner Kindheit teilhaben zu lassen. Er hat den Roman als Zeitmaschine gesehen, nämlich als Maschine, die Zeit stillstehen lassen kann und Zeit dehnen kann, und das ist diese unglaublich, fast incantatorische Fähigkeit gewesen von Peter Kurzeck, einem Erzähler, der im Grunde die Flurbereinigung, die Eingemeindung, den Strukturwandel der Bundesrepublik erzählte in seinen Romanen, der die Verlustgeschichte aufmachte all dessen, was wir verloren haben durch den Fortschritt, durch die Moderne, der aber trotzdem – und das ist die große Kunst – niemals reaktionär rückwärts gewandt war, sondern daraus, aus diesem Material, eben große Kunst machte.
    Fischer: Und er hat sich doch auch viel um die Kleinen gekümmert. War er mehr ein Flaneur, ein Getriebener, oder ein mit der Scholle verbundener genauer Beobachter oder vielleicht auch Anarchist?
    Scheck: Letzteres trifft es ganz sicher, Karin Fischer. Mit ihm war kein Staat zu machen, Gott sei Dank. Er hielt es nicht mit den Mächtigen. Er hielt es aber auch nicht unbedingt mit den Menschen. Mir haben seine Tierbeschreibungen immer am besten gefallen. Da gibt es wunderbare Kapitel, etwa im letzten großen monomentalen Roman „Vorabend“, Schilderungen von Igeln über 60 Seiten hinweg, die die Trauer der Igel beschreiben über das Asphaltieren ihrer Feldwege, andere Tiere kommen da zum Reden. Ich glaube, das allein wird dafür sorgen, dass Peter Kurzeck lange, lange Zeit in der deutschen Literaturgeschichte ein spektakulärer Name bleiben wird.
    Fischer: Herzlichen Dank, Denis Scheck, für diese Würdigung von Peter Kurzeck, der im Alter von 70 Jahren starb.