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Peter Merseburger: Willy Brandt. 1913-1992. Visionär und Realist.

"Visionär und Realist" - so hat Peter Merseburger seine voluminöse Biografie über Willy Brandt untertitelt. Auf insgesamt mehr als 900 Seiten versucht der ehemals prominente Fernsehjournalist dieses vermeintliche Gegensatzpaar im politischen und privaten Leben des vor zehn Jahren gestorbenen ehemaligen Bundeskanzlers und SPD-Ehrenvorsitzenden zu belegen. Und, dies sei schon vorweg gesagt, das ist dem Autor geradezu brillant gelungen, der mit diesem Buch die bisher umfassendste und beeindruckendste Brandt-Biografie vorgelegt hat.

Rainer Burchardt | 26.08.2002
    Es gelingt Merseburger stets, eine mit Brandt sympathisierende Distanz zu wahren, wenngleich er sich dem Subjekt seines Werkes wie noch kein Autor vor ihm genähert hat. Bisweilen übertreibt er es ein wenig mit Detailschilderungen, wie etwa bis ins kleinste verästelte Intrigen gegen Willy Brandt unter Genossen im norwegischen Exil. Gleichwohl ist gerade die Schilderung dieses Lebensabschnittes des stets hierzulande von der politischen Rechten in den Verdacht eines vaterlandslosen Gesellen gerückten Willy Brandt besonders beeindruckend.

    Diesem Willy Brandt wird wahrlich nichts geschenkt. Als junger Emigrant muss er sich in der norwegischen Fremde durchsetzen; als Illegaler geht er für ein halbes Jahr nach Berlin, um eine Widerstandsgruppe zu reorganisieren - beides wird ihn in einer Bundesrepublik, in der in den Reihen der Rechten bis tief in die siebziger Jahre noch deutschnationaler Geist wabert, üblen Verdächtigungen und Verleumdungen aussetzen. Seine Karriere in der nach dem Krieg zunächst ganz von Kurt Schumacher geprägten Sozialdemokratie ist beschwerlich und folgt nicht immer einer geraden Linie. Brandts Aufstieg ist der eines aus Fehlern Lernenden, er steckt voller Rückschläge und Niederlagen, aber vollzieht sich beharrlich - wenn auch im "Kriechgang einer Schnecke", wie Günter Grass im Jahre des großen Triumphs von Willy Brandt 1972 einmal anmerken wird.

    Stilistisch exzellent und mit tiefschürfender Quellennutzung schildert Merseburger auch Brandts erste Relativierung von Marxismus in der sowjetischen Realpolitik schon im Exil. Trotz seiner Distanzierung von der Sozialdemokratie während seiner Lübecker politischen Sturm- und Drangzeiten wurde der Visionär spätestens angesichts des Hitler-Stalin-Paktes mit pragmatischen und für ihn Ideen-verratenden stalinistischen Realpolitik auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. In Norwegen hatte Brandt vornehmlich als Journalist und Berichterstatter sich der sozialistischen Arbeiterpartei SAP angeschlossen.

    Wenn Brandt sich in seinen ersten SAP-Jahren auch sicher als Marxist verstanden hat, ist er doch im Laufe der norwegischen Jahre vom Marxismus abgerückt. Er formte sein eigenes Bild von der Entwicklung des sozialistischen Denkens, in dem Marx und Engels zwar einen wichtigen Platz hatten - doch "alles andere erdrückend waren sie nicht". (...) Brandt wird später sagen, er sei stolz auf seine skandinavischen Lehr- und Wanderjahre. Aus Schweden bleibt ihm die Erfahrung einer Sozialdemokratie, die "drastischer noch als die norwegische" undogmatisch und freiheitlich ist, volkstümlich, machtbewusst und - dogmenfrei. Ihn beeindruckt, dass die schwedischen Genossen schon früh die Bauern als Verbündete gewinnen wollten und deshalb deren Eigentum nie in Frage stellten. Früher als andere, betont er, hätten die schwedischen Reformer erkannt, das sozialistische Glück auf Erden hänge nicht primär von der Verstaatlichung ab. Vor allem aber, das wird er als Außenminister an den Schweden rühmen, sei Gerechtigkeit in Schweden besser als anderswo in praktische Politik umgesetzt worden. Gerechtigkeit, "Rättvissa", sei das Maß und das Schlüsselwort, das überall im Norden Europas in den Gesprächen auftaucht, "wo es um Missbrauch der Macht oder Missachtung der Persönlichkeit geht, wo Hochmut und Ungleichheit Antworten herausfordern!"

    Merseburger spart auch keineswegs die Analyse der vielfältigen Verdächtigungen aus, denen Brandt im Exil ausgesetzt war. Der später häufig gehörte Vorwurf "Vaterlandsverräter" ist angesichts seiner Agitation gegen das Hitler-Regime geradezu ein Ehrentitel. Tatsächlich aber bewegt sich Brandt, wie es in dem Buch heißt, auf einem sehr schmalen Grat zwischen politisch international geprägtem Journalismus und Spionage. Das gilt vor allem für seine umfangreiche Tätigkeit als Journalist, Autor und Berichterstatter, auch für ausländische Blätter und Behörden. Dennoch, das wird in dieser Biografie noch einmal deutlich dargestellt, ein Agent ist Willy Brandt nie gewesen.

    Wie anders wäre es auch zu erklären, dass er sehr bald zunächst von der norwegischen Regierung als Attaché nach Berlin entsandt, sehr schnell wieder Fuß findet in der deutschen Politik, sich dabei äußerst geschickt bei den führenden Sozialdemokraten wie Kurt Schumacher und Erich Ollenhauer empfiehlt. Gerade danach in seiner Tätigkeit als Berliner Bürgermeister, so Merseburger, kommt Brandt vor allem sein im Exil erworbenes internationalistisches Denken zugute. In den Tagen des Mauerbaus versteht Brandt es, nach innen wie nach außen der Vertrauen erweckende Fels in der Brandung der politischen Krise zu sein.

    Nie war Brandt eindrucksvoller, großartig besteht er in diesen Tagen die schwierige Bewährungsprobe, einerseits der Wut und Verzweiflung der Berliner Ausdruck zu verleihen, andererseits die Empörung so zu kanalisieren, dass die Menschenmenge im Zaum gehalten, vom Sturm auf die Stacheldrahthindernisse abgehalten wird, der ja nur mit einem Blutbad und einer Verschärfung der internationalen Krise enden könnte. Anklage erhebt er gegen "die Spalter Deutschlands, die Bedrücker Ost-Berlins und die Bedroher West-Berlin"; er spricht von der "Sperrwand eines Konzentrationslagers", die quer durch die Stadt gezogen wird; von "einer Clique, die sich Regierung nennt", die kalte Betonpfähle mitten ins Herz der deutschen Einheit rammt, die den lebendigen Organismus der Stadt zerstört und versucht, "ihre eigene Bevölkerung einzusperren". Wenn er die "Mächte der Finsternis" geißelt, die nicht siegen dürfen, wenn er daran erinnert, dass es noch nie in der Geschichte gelungen sei, Menschen "auf die Dauer in Sklaverei" zu halten, macht er Anleihen beim Pathos eines Ernst Reuter aus der frühen Blockadezeit.

    Merseburger legt überzeugend dar, dass auch das von Adenauer gestützte Brandt-Image eines international denkenden Patrioten Grundstein für dessen unaufhaltbare Karriere in den 60er Jahren ist, die ihn 1969 schließlich, wenn auch mit einem koalitionspolitischen Kuhhandel, bis ins Kanzleramt führt. Der sonst so zögerliche Brandt, Merseburger nennt ihn einmal "Cunctator", Zauderer also, schmiedet Ende September 1969 mit dem Freien Demokraten Walter Scheel, auch gegen den ausdrücklichen Willen Herbert Wehners, die sozialliberale Koalition.

    Die Wahlnacht vom 28. September bestätigt, was Kenner ihm schon immer bescheinigt haben: Am besten kämpft Brandt, wenn in seinem Rücken nur noch die Wand steht, wenn er zu Härte gezwungen wird und der konfliktscheue Mann gar nicht anders kann, als sich zu wehren und zum Angriff überzugehen. Egon Bahr wird ihm Tage später schreiben, er habe das Gefühl, als ob er "trotz der fast zehn Jahre Zusammenarbeit noch einen oft vergeblich ersehnten Willy Brandt kennen lerne". Der Mann des Sowohl-als-auch setzt diesmal alles auf eine Karte, der große Cunctator zögert und zaudert nicht, entschlossen greift er nach dem berühmten Zipfel, als der Mantel der Geschichte an ihm vorüberrauscht.

    Auch wenn der Biograf Merseburger durchaus die Brandt'sche Ostpolitik prinzipiell gutheißt, so verzichtet er keineswegs darauf, die Wagnisse und Unwägbarkeiten, die damit verbunden sind, zu relativieren. Insbesondere das Risiko, die enge Westbindung Deutschlands aufs Spiel zu setzen, wird mit nachdenklichen und teilweise ablehnenden Stimmen, vor allem aus den USA, belegt. Doch die spannenden Jahre der Brandt'schen Kanzlerschaft von 1969 bis 1974 sind mit außenpolitischer Fortune, deutschlandpolitischem Forschritt und innenpolitischer Reformpolitik bis kurz vor dem Rücktritt gesegnet. Besonders spannend und bis ins Detail ausgeleuchtet schildert Merseburger die teilweise bis heute rätselhaften Umstände der Demission Willy Brandts, die nicht zuletzt von Herbert Wehner und den deutschen Geheimdienstchefs betrieben wurde:

    Doch "mit der Gabe, hart - hart gegen Menschen - zu sein", so Brandt über sich selbst, war er "nun einmal nicht gesegnet". Als Herbert Wehner ihn Mitte Oktober ausgerechnet von Moskau aus geradezu wütend attackierte, die Handhabung der Ostpolitik durch den Kanzler rügte, ihn öffentlich als "entrückt" und "abgeschlafft" schalt und behauptete, der Regierung fehle ein Kopf, hätte Willy Brandt ihn stellen, zum Rücktritt vom Fraktionsvorsitz samt öffentlicher Entschuldigung zwingen müssen. Weil er, konfrontationsscheu wie eh und je, dies unterließ, beschleunigte er den Verfall der eigenen Autorität. Nicht zufällig datieren viele seiner Mitarbeiter oder Freunde den Anfang vom Ende seiner Kanzlerschaft auf den Tag, an dem er Wehner nicht schroff in seine Schranken verwies. Hans-Dietrich Genscher rief damals Walter Scheel an und forderte, der Kanzler müsse die SPD-Fraktion jetzt vor die Wahl stellen: Wehner oder Brandt. Wenn Brandt seine Demontage weiter hinnehme, drohe die Autorität des Regierungschefs noch mehr zu zerfallen. "Jetzt ist Brandt noch stark genug", so Genscher zu Scheel, "bald nicht mehr!"

    Die dann folgende Zeit als nur noch Parteivorsitzender wird in dieser Biografie als das erfolgreiche Wirken eines Elderstatesman gewürdigt, der vor allem in den Tagen des Mauerfalls, obschon da nicht mehr Vorsitzender, noch einmal in eine letzte politische Euphorie gerät. Sein Wort, dass jetzt zusammenwachse, was zusammengehöre, ist untrennbar mit der deutschen Einheit verbunden, die Willy Brandt entgegen anders lautender Behauptungen nie aus den Augen verloren hatte.

    Es stimmt, dass Brandt mit einer langen Phase deutscher Zweistaatlichkeit gerechnet hat, weil ihm unvorstellbar schien, dass Moskau auf den westlichen Eckpfeiler des Warschauer Pakts verzichten würde. Es stimmt weiter, dass er versuchte, die Grenzen für diese lange Phase der Zweistaatlichkeit durchlässiger zu machen und ihnen - soweit wie möglich - den schmerzenden Charakter des Trennenden zu nehmen. Und natürlich hat er das Wort von der "Wiedervereinigung als Lebenslüge der zweiten deutschen Republik" gebraucht, was prompt gegen ihn verwendet wurde - als habe er damit persönlich jede Hoffnung auf die deutsche Einheit fahren lassen. Aber die Vokabel "Lebenslüge", die Egon Bahr erstmals in den Entwurf einer Brandt-Rede schrieb, ist nicht als Absage an das Streben der Deutschen nach Einheit gedacht, sondern klar auf eine phrasenhafte Wiedervereinigungsrhetorik bezogen, die im Gegensatz zur politischen Praxis steht.

    Die letzten Lebensjahre sind für Brandt dann doch von Enttäuschungen gekennzeichnet. Er versteht seine Partei und damit vor allem seine sogenannten Enkel nicht so recht, die seinen Enthusiasmus für eine vorbehaltlose Vereinigungspolitik nicht teilen. Der Visionär ist erneut von der Realpolitik eingeholt worden und muss geschehen lassen, dass er nicht mehr gefragt ist.

    "Man hat sich bemüht", so sagte Brandt selbst einmal, sei sein Lebensmotto gewesen. Der Visionär hat letztlich Recht behalten, der Realpolitiker habe immer wieder Rückschläge bis zu seinem Sturz hinnehmen müssen.

    Mit dieser Biografie hat Peter Merseburger das erste umfassende Standardwerk über das Lebenswerk dieses großen deutschen Sozialdemokraten, dessen Leben eine Metapher für das Deutschland des zwanzigsten Jahrhunderts ist, vorgelegt.