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Peter Steinbach: Der 20. Juli 1944. Gesichter des Widerstands

Sie hören Nachrichten des Drahtlosen Dienstes. Mordanschlag gegen den Führer!

Von Rainer Burchardt |
    Der Führer unverletzt. Auf den Führer wurde heute ein Sprengstoffanschlag verübt. Der Führer selbst hat außer leichten Verbrennungen und Prellungen keine Verletzungen erlitten.

    Als diese Nachricht vom gescheiterten Attentat auf Hitler am Abend des 20. Juli 1944 über alle Reichssender ging, stockte den Hörern an den Volksempfängern wohl aus ganz unterschiedlichen Gründen der Atem. Die noch immer an den Endsieg glaubten, sahen beim Überleben des Führers einmal mehr die von der NS-Propaganda unablässig strapazierte "Vorsehung" am Werk. Die weitsichtigeren "Volksgenossen" hingegen mögen geahnt haben, dass das Scheitern des Anschlages gleichbedeutend war mit der Verlängerung eines längst verlorenen Krieges und damit mit Millionen weiterer sinnloser ziviler wie militärischer Opfer.
    Guten Abend zu unserer heutigen Ausgabe der "Politischen Literatur", die diesmal ausschließlich Neuerscheinungen zum Thema "20. Juli 1944" gewidmet ist. Am Mikrofon begrüßt Sie Marcus Heumann.

    Sowohl mehrere mit großem Publikumsinteresse bedachte Fernsehdokumentationen wie auch die Vielzahl an neuen Buchtiteln zum 60. Jahrestag des Hitler-Attentats belegen, dass den Widerständlern um Stauffenberg wie dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus an sich heute in der öffentlichen Debatte endlich der verdiente Stellenwert eingeräumt wird. Das war nicht immer so: Jahrzehntelang galten die Verschwörer in breiten Teilen der bundesdeutschen Gesellschaft schlicht als Vaterlandsverräter, über die man nicht gerne sprach - wie in der altnazi-durchsetzten Adenauer-Republik überhaupt ungern über das Dritte Reich gesprochen wurde. Heute hingegen erlauben zahlreiche neu veröffentlichte Biographien wie auch Gesamtdarstellungen dem interessierten Leser, sich ein detailliertes Bild über den Lebensweg und die politisch-moralischen Haltungen der Verschwörer zu machen, die divergenter nicht sein könnten. "Gesichter des Widerstands" lautet denn auch der Untertitel der ersten Neuerscheinung zum 20. Juli, mit der wir Sie heute bekannt machen möchten. Eine Rezension von Rainer Burchardt:

    Eine ganz kleine Clique ehrgeiziger, gewissenloser und zugleich unvernünftiger, verbrecherisch dummer Offiziere hat ein Komplott geschmiedet, um mich zu beseitigen. Die Bombe, die von dem Obersten Graf von Stauffenberg gelegt wurde, krepierte zwei Meter an meiner rechten Seite. Sie hat eine Reihe von mir sehr teuren Mitarbeitern sehr schwer verletzt, einer ist gestorben. Ich selbst bin völlig unverletzt , nur ganz kleine Hautabschürfungen, Prellungen und Verbrennungen. Ich fasse das als eine Bestätigung des Auftrags der Vorsehung auf, mein Lebensziel weiter zu verfolgen, so wie ich es bisher getan habe.

    Nein, es war keineswegs eine kleine Clique ehrgeiziger gewissenloser und zugleich verbrecherisch dummer Offiziere, die das Attentat vom 20. Juli 1944 auf Adolf Hitler geplant und versucht hatten. Was der so genannte Führer des deutschen Volkes in den Abendstunden dieses historischen Tages vor allem beabsichtigte, war erstens, dem Volk sein Überleben dieses Anschlags zu beweisen, und zweitens, diese groß angelegte und lange vorbereitete Tat maßgeblicher Militärs, aber auch der bürgerlichen Elite als einen kriminellen Akt von Verbrechern zu denunzieren. Hitler und sein Umfeld konnten gewiss sein, dass auch diese propagandistische Reaktion ihren Zweck nicht verfehlte. Schon am nächsten Tag sendete der Reichsrundfunk offenbar gestellte und bestellte Reaktionen einfacher Leute, die die große Sorge und Erleichterung der Bevölkerung dokumentieren sollten.

    Ich besuche die Frauenstation eines Krankenhauses. In den nachdenklichen Gesichtern der Patientinnen spiegelt sich noch die Erschütterung, die der Anschlag auf den Führer auch hier hervorgerufen hat. - Als wir gestern Abend vom Attentat auf den Führer hörten, waren wir zunächst starr vor Schrecken. Zum Bewusstsein kam uns nach einer kurzen Weile aber doch der erlösende Gedanke: Er lebt. Ihm ist nichts geschehen. Nur der eine Gedanke blieb bei uns: Das ist ein großes Wunder. Das machte uns alle so glücklich zu wissen, dass die göttliche Vorsehung ihn uns erhalten hatte, unseren Führer.

    Mit seinem Buch "Der 20 Juli 1944" hat der Leiter der Gedenkstätte "Deutscher Widerstand" in Berlin, Peter Steinbach, ein aus den vielen Veröffentlichungen zum deutschen Widerstand während der NS-Diktatur herausragendes Buch vorgelegt. Der Historiker, der an der Universität Karlsruhe Neuere Geschichte lehrt, belegt mit vielen Beispielen, dass es praktisch mit der Machtübernahme Hitlers und gipfelnd im verfehlten Anschlag von 1944 eine sich immer stärker entwickelnde Widerstandsbewegung in Deutschland gegeben hat. Dass dabei die zunächst innen- und dann außenpolitischen Erfolge Hitlers diese Entwicklung immer mehr erschwerten, wird vor allem im Essay über "Primat der Politik und zivilisiertes Militär" deutlich. Steinbach weist nach, dass Gegner des Nationalsozialismus sich praktisch in allen gesellschaftlichen Gruppen gefunden haben, in der Arbeiterbewegung über den Liberalismus bis hin zum politischen Katholizismus, in Gewerkschaften und Kirchen allemal, wo Fragen des Rechts auf Widerstand diskutiert werden.

    "Wer hält stand?" Die Frage wurde von Dietrich Bonhoeffer gestellt und ist von ebenso aktueller wie prinzipieller Bedeutung. Denn sie zielt nicht nur auf das Verhalten des Individuums, sondern versucht auch, die Grenzen und Ziele menschenwürdiger Ordnung zu bestimmen. Wer nach dem Widerstandsrecht fragt, will die Qualitäten eines Gemeinwesens so bestimmen, dass die Verletzung seiner Normen die Auflehnung nach sich ziehen kann.

    Anhand von ausführlichen Biographien über führende Köpfe des 20. Juli, wie Helmut James Graf von Moltke, Wilhelm Leuschner, Adam von Trotz zu Solz, um nur einige zu nennen, auch die Studenten der Weißen Rose werden gewürdigt und gewertet, breitet Steinbach das ganze Spektrum des sich entwickelnden Widerstandes aus. Auch ethisch moralische Bedenken, die den Kreisauer Kreis intensiv beschäftigten, werden analysiert. Dabei wird klar, welch große Bedeutung der von ihnen abgeforderte Eid auf den Führer persönlich für die Ehre der Soldaten hatte.

    Steinbach räumt auch mit der immer wieder zu hörenden Annahme auf, die Widerständler hätten ein völlig anderes Deutschland gewollt. Viele von ihnen, wie z.B. auch Stauffenberg, waren anfänglich Anhänger des Systems gewesen, und die Zielrichtung des Führermordes galt keineswegs der Einführung eines demokratischen Deutschland. Vielmehr sollte, wie es Heinrich Gördeler in einer provisorischen Regierungserklärung ausgearbeitet hatte, der Majestät des Rechts zum Durchbruch verholfen werden. Viele der am Umsturzversuch beteiligten Militärs und Zivilisten dachten und handelten patriotisch bis deutsch-national. Sie wollten vor allem mit der Beseitigung des Führers ein schnelles Kriegsende herbeiführen, aus dem Deutschland, wenn auch nicht als Sieger, so doch als geachteter Verlierer hervorgehen könnte.

    Es war ein langer Weg, bis die Deutschen den Widerstand gegen den Nationalsozialismus nicht nur in seinem Charakter anerkannten. Sicherlich schoss man in den Deutungen zunächst über das Ziel hinaus, als man behauptete, Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 hätten die freiheitlich-demokratische Grundordnung verwirklichen wollen, sie seien gleichsam die "Unserigen". Kritik an dieser Vereinnahmung richtete sich aber nicht so sehr gegen diejenigen, die sich in die Tradition des Widerstands stellen wollten, als vielmehr gegen die Regimegegner selbst, denen immer wieder angelastet wurde, dass sie sich nicht entschieden zu den Grundwerten der Demokratie, des parlamentarischen Verfassungsstaates und einer europäischen Friedensordnung ohne deutsche Hegemonialmacht in der Mitte Europas bekannt hätten.

    Steinbach gelingt es zudem nachzuweisen, dass selbst nach dem misslungenen Bombenattentat und dem darauf folgenden Durcheinander und der Unübersichtlichkeit der Befehlsstrukturen eine Chance auf Erfolg bestand, denn in Berlin und vor allem im Militärzentrum Bendlerstraße herrschte Chaos. Der detailliert von den Widerständlern ausgearbeitete Befehlsstrukturplan bis hin in alle deutschen Militärbezirke reichend, hätte in Kraft gesetzt werden können. Erst nachdem Goebbels und Himmler sich von Hitlers Überleben überzeugt hatten und die Gegenmaschinerie in Kraft setzten, wurden alle Umsturzplanungen durchkreuzt. Am Abend wurden Stauffenberg und seine Mithelfer verhaftet, kurz nach Mitternacht dann erschossen.

    In den darauf folgenden Tagen schlug das System zurück. Es wurden Sonderkommissionen gebildet mit etwa 400 Angehörigen, die in allen Widerstandsnestern fahndeten und die Protagonisten verhafteten und dem Volksgerichtshof zuführten. Auch vor Sippenhaft wurde nicht zurückgeschreckt. Die im August folgenden Schauprozesse vor dem Volksgerichtshof und dessen oberstem Richter, Roland Freisler, sollten ein für allemal Widerstandgedanken im Keim ersticken. Die Attentäter selbst nahmen in der Regel das Scheitern und ihre Todesurteile mit bewundernswerter Gelassenheit und aufrechter Gesinnung hin. Ja, sie wagten sogar, dem cholerischen Freisler zu widersprechen, wie etwa Ulrich Wilhelm Graf Schwerin von Schwanenfeld.

    Herr Präsident, was ich an politischen Erfahrungen persönlich gemacht habe, hat für mich mancherlei Schwierigkeiten in der Folge gehabt, weil ich ja sehr lange für das Deutschtum in Polen gearbeitet habe und aus dieser Zeit heraus ein vielfaches Hin und Her in der Einstellung gegenüber den Polen praktisch erlebt habe. Das ist eine ...
    - Ein Hin und Her, das Sie dem Nationalsozialismus zur Last legen?
    - Ich denke an die vielen Morde.
    - Morde? Sie sind ja ein schäbiger Lump. Zerbrechen Sie unter der Gemeinheit? Ja oder nein? Zerbrechen Sie darunter?
    - Herr Präsident ...
    - Ja oder nein , eine klare Antwort!
    - Nein.
    - Nein! Sie können auch nicht mehr zerbrechen. Denn Sie sind ja nur noch ein Häufchen Elend, das vor sich keine Achtung mehr hat.


    Auch Steinbach prangert noch einmal an, dass nicht ein einziger Richter des Volksgerichtshofs nach 1945 von einem deutschen Gericht zur Verantwortung gezogen wurde. Jahrzehntelang galten diese Unrechtsurteile auch noch in der Bundesrepublik. Erst spät wurde die Majestät des Rechts in dieser Frage auch hierzulande wieder hergestellt. In den neun Monaten nach dem Attentat starben im Krieg mehr Menschen als in den fünf Jahren zuvor. Noch einmal war es Hitler gelungen, mit seinem Bezug auf die angebliche Vorsehung seine dahinbröckelnde Macht zu sichern. Dazu schreibt Steinbach im Schlusskapitel:

    Das Regime festigte seine Stellung: Himmler etwa, der einen Tag nach dem Anschlag zum Befehlshaber des Ersatzheeres ernannt wurde, gelangte auf den absoluten Höhepunkt seiner Macht. Hitler selbst war nach allem, was wir über die Stimmung der Deutschen in dieser Zeit wissen, niemals zuvor in so hohem Maße von den Deutschen verehrt worden wie nach dem Attentat. In den Tagen des Juli und August 1944 galt er mehr denn je als Begünstigter einer "Vorsehung".

    Rainer Burchardt über Peter Steinbach: "Der 20. Juli 1944. Gesichter des Widerstands". Erschienen im Siedler Verlag Berlin, 352 Seiten zum Preis von 24 Euro