Donnerstag, 02. Mai 2024

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Petrarca. Fragmente eines Selbstentwurfs.

Ist es das Leben, oder ist es das Werk Petrarcas, was den Konstanzer Romanisten Karlheinz Stierle zur Herstellung eines Kentaurs aus biographischem Essay über den italienischen Dichter und einer daran angebundenen Auswahl neuübersetzter Gedichte veranlaßte? Das Buch, das sich zu etwa gleichen Teilen dem Leben und dem Werk Petrarcas widmet, mag als eine Art Lehrbuch gedacht sein, das das schwindende Wissen über diesen Poeten der frühen Renaissance bei einem breiteren Lesepublikum auffrischen soll. Diesen Zweck erreicht es durch eine lesenswerte und vor allem gut lesbare Einleitung.

Hannelore Schlaffer | 08.04.1999
    Den Umfang der Person des italienischen Diplomaten, Gelehrten und Dichters umreißt der Essay so knapp wie möglich, so sicher wie es nötig ist, um Petrarcas Stellung im Kontext seiner Zeit zu skizzieren, so aktualisierend, wie es für einen Wissenschaftler gerade noch erlaubt ist, damit die ferne Zeit und die fremde Biographie auch dem Laien verständlich werde. In Petrarcas Idee, die Antike wiederzubeleben, erkennt Stierle den Beginn der Moderne, in Petrarca selbst, einer vielseitigen Begabung mit ruehlosem Geist, den ersten Intellektuellen der Neuzeit.

    Petrarca sammelte alte Handschriften und antike Münzen; mit einer solch exquisiten Freundschaftsgabe konnte er Kaiser Karl IV. überraschen. In Frankreich aufgewachsen, war er dennoch so sehr Italiener, daß ihm der Aufstieg Paris' zur Metropole der Gelehrsamkeit stets ein Ärgernis blieb. Der scholastischen Wissenschaftsgläubigkeit begegnete er mit Lobesreden auf die große römische Vergangenheit. Er hat, wie sich erst lange nach seinem Tod zeigen sollte, nicht nur Italien, sondern der ganzen Welt mit seinem "Canzoniere", einer Liebesgeschichte in 366 Gedichten, ein bis in die Gegenwart wirkendes Kompendium der Sprache der Liebe geliefert, doch holte ihn der Nachruhm geradezu wider Willen ein; denn eigentlich wollte er berühmt werden in der Sprache und im Stil der Antike. Das Epos war seit alters und deshalb auch für ihn die ehrenwerteste Gattung; deshalb verfaßte er das Heldengedicht "Africa", das die Geschichte Scipio Africanus' erzählt, der Hannibal besiegt und Rom gerettet hat. Die Begeisterung für Rom veranlaßt den sonst so besonnen planenden Staatsmann sogar zur Freundschaft mit Cola di Rienzo, der eine Regierung nach dem Vorbild der römischen Republik errichten wollte und sich 1347 zum Tribun ernannte.

    Um sich in Rom zum poeta laureatus krönen zu lassen, zog Petrarca alle Register seines diplomatischen Geschicks. Über ganz Europa reichten die Beziehungen dieses reiselustigen Universalgenies. Stierle ist von den Strategien und Taktiken des dichtenden Politikers so angetan, daß er gern darauf verzichtet, Eitelkeiten an ihm zu rügen. Die Sympathie des stillen Gelehrten gewinnt der Weltmann gegen alle Anzweiflungen allemal zurück, da er ebensosehr die Einsamkeit liebte, wie er die Welt suchte. Immer wieder und für lange Zeit zog sich Petrarca vom Trubel des Geschäfts auf entlegene Güter zurück.

    Der ernsteste Inhalt seines Lebens aber scheint für Petrarca die Dokumentation eben dieses Lebens selbst gewesen zu sein, denn "es gibt keinen anderen Menschen der Weltgeschichte vor Petrarca, über den wir so viel wüßten wie aufgrund seiner Selbstdarstellung über ihn". Diesem bewegten Leben gab Petrarca ein Zentrum in Laura, der Geliebten, die er in seinem "Canzoniere" besingt. Die Selbststilisierung zeigt sich bereits in der Datierung der Stadien dieser Liebe. Die erste Begegnung soll, so behauptet Petrarca in einem Dokument, das heute im Vatikan liegt, 1327 an einem Karfreitag stattgefunden haben, und auch der Tod der Laura 1348 sei auf diesen trauervollen Feiertag gefallen. Petrarca hätte gern auch seine Dichterkrönung auf den 6. April gelegt, jenes Datum, an dem er die Geliebte zum ersten Mal sah, wären diesmal nicht die Umstände stärker gewesen als sein gestalterischer Wille.

    Diesem Versuch, dem Leben durch Festtage, ominöse Begegnungen und mythische Wiederholungen Kontur und Sinn zu geben, widerspricht jedoch der fragmentarische Charakter der Werke Petrarcas. Das Epos im antiken Stil brach Petrarca ab, weil der Gönner, dem es gewidmet war, starb, die "Familiares", Briefe an Freunde und Mäzene, sind schon vom Genre her eine offene Form, der "Canzoniere" schließlich begleitete Petrarca ein Leben lang, die Gedichte wurden immer wieder verändert - von manchen gibt es über 20 Fassungen -, und doch wurde die Sammlung nie ganz vollendet und in keine endgültige Ordnung gebracht. Zudem schrieb Petrarca die Liebesgedichte in seiner italienischen Muttersprache, die sich damals, trotz Dante und Boccaccio, gegen das Latein noch nicht als literarische Hochsprache durchgesetzt hatte. Petrarca nennt daher seine Gedichtsammlung "Fragmente in der Volkssprache", zählt sie also den Nebenwerken zu.

    Stierles Auswahl aus dem Volumen der 366 Kanzonen, Sonette und Madrigale ist schmal und nach einem belehrenden Gesichtspunkt thematisch geordnet. Die Zäsur von Lauras Tod teilt das Werk in Gedichte an Laura in vita und an Laura in morte ein. Daneben aber erscheint Petrarca, als dessen berühmtestes Erlebnis die Besteigung des Mont Ventoux von der Nachwelt erinnert wird, als der Entdecker der Landschaft und, in den Abteilungen "Unruhiges Denken" und "Einsame Gänge", als kontemplativer Spaziergänger und Vorläufer Rousseaus. Eine solche Ordnung ist für den, der eine erste Bekanntschaft mit dem Dichter machen will, unzweifelhaft dienlich.

    Strenge kritische Maßstäbe fordert Stierles Übersetzung der Gedichte heraus, nicht etwa, weil die Übertragung Petrarcas in eine andere Sprache ohnehin eine schiere Unmöglichkeit ist, sondern des Stolzes wegen, mit dem der Romanist seine Leistung ankündigt. Wer so herablassend über Konkurrenten urteilt, muß sich selbst einer scharfen Prüfung stellen. Die vielfach und mit Recht von der Kritik gerühmte, vollständige Ausgabe der Gedichte von Geraldine Gabor und Ernst-Jürgen Dreyer (Stroemfeld/Roter Stern 1989) bezeichnet Stierle als den "Höhepunkt" der "unsäglichen deutschen Übersetzungen" und "im ganzen eine Verfälschung von Petrarcas Dichtung". Er muß nun selbst den Beweis antreten, daß er in der Lage ist, das "gefühlvolle poetische Ungefähr" nicht nur dieser, sondern auch so manch anderer Übersetzung zu meiden und daß er die Rationalität des Petrarcaschen "pensare" beizubehalten vermag ohne klanglos zu werden.

    Stierle erleichtert sich im Unterschied zu Gabor und Dreyer die Aufgabe, indem er zwar Versmaß und Reimschema des italienischen Elfsilbers berücksichtigt, aber nicht exakt einhält. Dieser verlangt einen Auftakt des Gedichts mit einer unbetonten Silbe sowie einen weiblichen, also zweisilbigen Endreim. Die lyrische Qualität, die sanfte Melancholie von Petrarcas Ton hängt wesentlich von dieser melodischen Vorgabe ab, die den Versen eine fast orientalische Monotonie gibt. Stierle aber wählt nur allzu gern männliche Reime, die im Deutschen leicht zu finden sind, und läßt ganze Quartette so enden: "Kind/Geisterhand/ Strand/Wind" und "Last/Mitternacht/Macht/ haßt". Die reimfreie Übersetzung seines verstorbenen Kollegen Hugo Friedrich läßt Stierle gelten, ohne dessen Charakterisierung Petrarcas in den "Epochen der italienischen Lyrik" zu folgen. Friedrich hat das Ziel von Petrarcas Überarbeitung der Gedichte mit dem wenig schönen Wort "Druckminderung" bezeichnet, eine Taktik, die die Sonette von einer zur andern Fassung volkssprachlicher und beiläufiger klingen lassen sollte. Freilich sieht Friedrich "präbarocke" Ansätze bei Petrarca, diese aber verstärkt Stierle, um den "Druck", die Emphase erst recht zum barocken Pathos zu forcieren. Wo bei Petrarca (im 48. Sonnett) die Sonne den blind macht, der den Blick auf sie heftet (e ‘l sole abbaglia chi ben fiso ‘l guarda), macht Stierle daraus eine Sonne die "blind macht wie mit tausend Dornen". Wenn das lyrische Ich nicht weiß, was es will (ch‘i’ medesmo non so quel ch'io mi voglio), heißt es bei Stierle: "daß ohne Stern mein Wollen". Diese Substantivierung widerspricht der geradezu umgangssprachlichen Lässigkeit der Verse. Ausdrucksstarke und glanzvolle Wörter wie Stern, Dornen, Glut, Feuer, Eis, Pein gehören zwar zu Petrarcas Wortschatz, doch nutzt sie Stierle, um damit Effekt zumachen.

    Gottlob bleiben alte Übersetzungen, da keine vollkommen sein kann, durch den neuesten Versuch, der immer der beste sein will, erhalten. Stierles Illusion, einen deutschen Petrarca zu liefern, ist einer unter vielen, der Erfolg wird nur selbstbewußter behauptet.