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Pew-Studie
Ein kultureller Ost-West-Unterschied

Eine neue Studie des amerikanischen Pew-Instituts zeigt große Unterschiede in den religiösen Einstellungen zwischen West- und Osteuropa. Die Vorstellungen von Christen gehen vor allem in der Haltung gegenüber Muslimen, Juden und Homosexuellen auseinander.

Von Friedbert Meurer | 05.11.2018
    Wladimir Putin und der Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche Kyrill
    In Osteuropa hat die Religion seit dem Ende der Sowjetunion eine hohe Bedeutung für die nationale Identität (picture alliance / dpa / Foto: Sergey Guneev)
    Durch Europa verläuft weiter eine Grenze, nach Erkenntnissen der Meinungsforscher ist sie ziemlich genau dort zu finden, wo früher einmal der eiserne Vorhang war. Aber es ist keine Grenze mit Stacheldraht und Mauer mehr, sondern eine unsichtbare Grenze. West- und Osteuropäer trennen fast 30 Jahre nach der politischen Teilung Europas nun kulturell Welten. Scott Gardner hat Daten von über 50 000 befragten Personen aus 34 europäischen Staaten gesammelt und ausgewertet. Das Fazit lautet: Die Unterschiede nehmen ihren Ausgang in der Rolle, die Religion in den jeweiligen Ländern spielt.
    Gardner sagt: "Erwachsene in Mittel- und Osteuropa halten häufiger als in Westeuropa Religion für wichtig. Zum Beispiel sagen 53 Prozent der Armenier, dass Religion für ihr Leben sehr wichtig sei. In Belgien empfinden das gerade einmal 11 Prozent der Erwachsenen so. Unsere Daten verraten uns außerdem, dass Religion eine zentrale Rolle für die nationale Identität bildet. Europa ist geteilter Auffassung darüber, welche Rolle Religion für das nationale Selbstverständnis spielt."
    Wer Georgier ist, muss orthodoxer Christ sein
    Über 80 Prozent der Erwachsenen in Georgien vertreten z.B. die Ansicht, ein echter Georgier sei nur der, der ein orthodoxer Christ ist. Die Frage wurde auch an Deutsche und Briten gerichtet. Dort aber ist nur ein Drittel der Ansicht, dass, wer deutsch oder britisch sein will, sich als christlich definieren muss. Und noch etwas hat die Studie des US-amerikanischen Meinungsforschungsinstituts "Pew Research Center" ergeben: in Mittel- und Osteuropa bekennen sich heute in erheblichem Maß selbst Menschen zur Religion, die gar nicht einmal religiös erzogen wurden. In Westeuropa ist das völlig anders. Meinungsforscher Scott Gardner:
    "Wir wissen dank Daten, die wir 1991 gesammelt haben, dass der Anteil der orthodoxen Christen in den letzten 25 Jahren erheblich zugenommen hat. In Russland und in der Ukraine hat sich die Zahl etwa verdoppelt. Auf der anderen Seite gilt: Zwei Drittel der Niederländer wurden religiös erzogen, aber nur 40 Prozent sagen heute noch von sich, sie seien Christen. In Osteuropa dagegen bekennen sich heute also mehr Erwachsene als Christen, als sie überhaupt erzogen wurden."
    In vielen mittel- und osteuropäischen Ländern wurden die Kirchen vor 1990 unterdrückt. Der Staat war danach moralisch diskreditiert, die Menschen suchten Orientierung in der christlichen Religion. Gleichzeitig sind die westlichen Staaten Europas säkularer geworden. Dort haben die Bedeutung der Religion und der Einflussbereich der katholischen und evangelischen Kirchen deutlich abgenommen. Das prägt Einstellungen und Haltungen maßgeblich mit: Drei Viertel der Deutschen, Briten, Franzosen und Spanier sind für die gleichgeschlechtliche Ehe. Die Zustimmung in Lettland liegt dagegen bei nur 16 Prozent, in Ungarn etwas mehr bei 27 und in Polen bei 32 Prozent.
    Abwehr gegen den Islam
    In europäischen Ländern, in denen Religion noch wichtig ist, grenzt man sich auch der Studie zufolge stärker gegen andere Religionen ab, vor allem gegen den Islam. Professor Scott Gardner:
    "Westeuropäer akzeptieren im Allgemeinen eher religiöse Minderheiten, zum Beispiel Muslime oder Juden. Erwachsene in Mittel- und Osteuropa sehen das anders. Ungefähr drei Viertel der Spanier würden einen Muslim in ihrer Familie akzeptieren, aber nur ein Drittel der Polen wäre dazu bereit. Die Unterschiede zwischen den beiden Teilen Europas zeigen, dass es in zentralen Fragen nur wenig Gemeinsamkeiten gibt."
    Abschied nehmen muss man wohl von der Annahme, dass Abtreibung in Osteuropa mehr akzeptiert wäre als in Westeuropa. Zu kommunistischen Zeiten war Abtreibung durchaus vielerorts legal, den gesellschaftlichen Konsens dafür gibt es jedoch heute im Westen. Im Osten ist das Bild gemischt.
    Scott Gardner: "Da gibt es einerseits eine klare Trennlinie zwischen den beiden Regionen Europas. Westeuropäer sind einheitlich dafür, dass Abtreibung gesetzlich erlaubt sein soll. In Mittel- und Osteuropa aber muss man differenzieren. 76 Prozent der Deutschen sind für ein Recht auf Abtreibung, 70 Prozent der Ungarn, aber nur 36 Prozent der Russen."
    Nein zur Ehe für Alle
    In Tschechien, der Slowakei, Estland und Bulgarien ist die Bereitschaft hoch, Abtreibung zu tolerieren. Weiter östlich, in Russland und der Ukraine mit der Dominanz der orthodoxen Kirche sieht das anders aus. In Sachen Ehe ist der Befund ähnlich. Es sind gerade die christlich-orthodox geprägten Länder, die die Ehe unter Männern oder Frauen strikt ablehnen, zum Beispiel zu 90 Prozent in Russland. Die Bulgaren sind ein Sonderfall, sie sind in Abtreibungsfragen liberal, lehnen aber vehement zu fast 80 Prozent die gleichgeschlechtliche Ehe ab.
    Eine Regenbogenflagge wird in Berlin beim Christopher Street Day (CSD) vor dem Brandenburger Tor gehalten.
    In Westeuropa sind die Menschen gegenüber gleichgeschlechtlichen Eheschließungen offener (picture alliance / dpa - Britta Pedersen)
    Die Forscher des Pew Research Centers machen nur wenig Hoffnung, dass die Kluft im Lauf der Zeit abnehmen könnte. Die jüngere Generation in Mittel- und Osteuropa ist nämlich den Daten zufolge nicht liberaler eingestellt als die Älteren. Welche Einstellung also jemand hat, ist weniger eine Frage des Alters, sondern der regionalen Herkunft.
    "68 Prozent der jungen Erwachsenen in Bulgarien lehnen die gleichgeschlechtliche Ehe ab. So denken in Deutschland nur ganze 15 Prozent der Jungen. Es gibt in den Werteeinstellungen zwischen Jüngeren und Älteren in Mittel- und Osteuropa nur minimale Unterschiede. Das legt die Vermutung nahe, dass die Kluft zwischen West und Ost in den Einstellungen in sozialen Fragen andauern wird."
    Im Westen wird seit einigen Jahren mit Sorge beobachtet, wie sich die mittelosteuropäischen Staaten gesellschaftlich und politisch entwickeln. Brüssel droht Polen und Ungarn mit Klagen und mahnt sie zur Rechtsstaatlichkeit an. Christen in Westeuropa werden den Befund auch anders interpretieren. Eine Mehrheit der Katholiken und Protestanten ist in Deutschland zum Beispiel der Ansicht, dass Homosexualität und gleichgeschlechtliche Partnerschaften nicht im Widerspruch zum Christentum stehen. Einige evangelische Landeskirchen trauen homosexuelle Paare. Weiter östlich gilt das als westliche Dekadenz.
    Die jetzt veröffentlichte Studie kann aber zum Verständnis beitragen, warum und wie sehr die beiden Teile Europas sich kulturell fremd geworden sind. Politisch ist der Kontinent seit fast 30 Jahren nicht mehr gespalten, kulturell dagegen vielleicht mehr denn je.