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Pfeifen als Kommunikationsmittel

Im Zeitalter von Mobilfunkgeräten bevorzugt ein Ort - als einer der letzten weltweit - das Pfeifen als Verständigungsmittel. Einmal im Jahr treffen sich die Pfeifer zu einem Wettstreit, bei dem sie gegeneinander antreten.

Von Gunnar Köhne |
    "Yakup, wo bleibst du?" – Der Tee ist fertig und deine Schwester kommt bald. - Ich schneide Gras. Ich komme bald."

    Wenn Yakup Civelek an den Berghängen über seinem Heimatdorf Kusköy arbeitet, dann hält er mit seiner 80-jährigen Mutter pfeifend Kontakt. Denn die Civeliks beherrschen noch die Pfeifsprache und sie sind nicht die einzigen in Kusköy, das zu deutsch Vogeldorf heißt. Der 500-Einwohner-Weiler an der türkischen Schwarzmeerküste ist nicht nur in der Türkei, sondern weltweit einer der letzten Orte, in der die Menschen noch eine Pfeifsprache beherrschen. Natürlich hat auch in Vogeldorf hat längst das Mobiltelefon Einzug gehalten. Dennoch ist die Pfeifsprache - mal auf einem, mal auf zwei Fingern vorgetragen – heute noch ein wichtiges Verständigungsmittel zwischen den entlegenen Berghöfen. Yakup Civelik und seine Schwester finden, dass diese einst von Almhirten entwickelte Art der Nachrichtenübermittlung gegenüber modernen Kommunikationsmitteln heute noch klare Vorteile besitzt:

    "Wenn zum Beispiel die Polizei oder anderer hoher Besuch ins Dorf kommt, dann erfahren wir das so auf dem schnellsten Weg."

    "Telefonieren kostet – Pfeifen ist umsonst. Meine Schwester wohnt 200 Meter entfernt. Wenn ich wissen will, was sie gerade macht, dann pfeife ich aus dem Fenster. Man kann auch eine Geheimsprache entwickeln, die die Nachbarn nicht verstehen. Unsere geht so. Das bedeutet: Bruder, lass uns ins Tal gehen."

    Dann zeigt die 80-jährige Kadin Civelik, die nie lesen und schreiben gelernt hat, auf ein junges Mädchen in der Teerunde:

    "Wir verstehen die Vogelsprache noch. Aber die Jungen können es nicht mehr, weil sie in der Stadt zu Schule gehen."

    Heute ist im Vogeldorf ein besonderer Tag. Das jährliche Vogelsprachenfestival findet statt.
    Aus der ganzen Region sind die Händler gekommen. Das Fest ist der Höhepunkt des Jahres - sonst ist in dieser entlegenen Bergregion, die vor allem von Tee und Haselnüssen lebt, nicht viel los. Auf der Zuschauertribüne haben die Honoratioren der Gegend Platz genommen, Bürgermeister und wichtige Geschäftsleute. Der Hof der Dorfschule ist heute Konzertplatz. Auf der Bühne spielt eine elektronisch verstärkte Schwarzmeerfidel zum Tanz auf.

    Dann beginnt der Wettstreit, die lokale Presse drängelt sich vor dem Platz hinter der Bühne. Gegenüber auf der anderen Seite des Flusses wartet eine Jury, die das Gepfiffene niederschreibt und bewertet – wenn sie es denn richtig verstanden hat.

    Yakup Civelek ist der Vorjahressieger und ist als zweiter an der Reihe. Er pfeift "Wie geht es Euch? Winkt mal herüber". Der Aufbau der Pfeifsprache ist scheinbar simpel: Jede Silbe - ein Ton. Auf die Weise können auch neue Wörter, ja sogar Fremdwörter gebildet werden. Doch dieses Mal geht Yakup Civelik leer aus. Gewonnen hat am Ende ein Außenseiter. Er hatte einen Satz mit besonders schwierigen Vokabeln gepfiffen.

    Als Civelik wieder an seinem Haus an über dem Haus ankommt, pfeift ein Nachbar herüber: "Yakup, wie ist das Wettpfeifen gelaufen?" "Nicht so gut dieses Mal" pfeift Civelik zurück. "Wann gehen wir mal wieder auf die Hochalm?"

    Dann mischt sich noch von weit her ein weiterer Nachbar in das Gespräch ein. Oder war es dieses Mal bloß ein Vogel? Manchmal ist das schwer zu sagen, in Kusköy, dem Vogelsprachendorf am Schwarzen Meer.