Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Pferdekopfgeigen und gelbe Steppenblumen

Die Globalisierung macht auch an den Grenzen von einem der ärmsten Länder der Welt nicht halt: der Mongolei. Doch auch wenn inzwischen Shopping-Malls und Wolkenkratzer Teile des Landes prägen - in dem zentralasiatischen Gebirgsland pflegt man weiterhin die traditionelle Musik der Nomaden.

Von Ulrich Land | 17.02.2013
    Dieses leere, dieses unglaublich leere Land. In strahlender Morgensonne. Die doch auch nicht verhindert, dass man gezwungen ist, diesen Moloch zur Kenntnis zu nehmen, der sich da Richtung Nordosten erstreckt: Ulan-Bator, Stadt der Städte in der Mongolei. Eilends wendet man den Blick wieder aufs freie Feld, die Steppe, das Hinterland des Flugfelds. Da ist die Welt noch in Ordnung. Oder? Was sind das für durchsichtig flatternde, zappelnde Gebilde? Scharen von Plastiktüten und PET-Flaschen, die der Wind vor sich her durchs Gras treibt.

    Über die Haupteinfallstraße nach Ulan-Bator selbst.

    Winzige Häuser wechseln sich ab mit mehr oder weniger schmucken Bungalows unter Dächern, die an Pagoden erinnern. Daneben Mietskasernen vis-à-vis eines Industriegebiets mit brüchigen Zufahrtsstraßen, auf denen bodenseegroße Pfützen hinter jedem LKW schäumend wieder in die Schlaglöcher zurückschwappen. Und ein Bretterbüdchen umspülen, das CDs feilbietet. Grelle Schlager neben mongolischer Nomadenmusik, Bollywood-DVDs neben Brahms' deutschem Requiem, Dizzy Gillespie neben Schnulzen in bonbonfarbenem Cover.

    Im Zentrum Ulan-Bators zwischen alten und neuen Häusern, auf den Magistralen und in den Seitenstraßen ein nie verstummendes Hupkonzert. Und überall Musik. In Clubs, Discos, iPads: das Übliche: Rap, Pop, Drum 'n' Bass und was das zeitgenössische Herz begehrt. Wenn man sich indes etwas umtut in der Stadt, findet man auch andere Musik: in Konzerthallen, Museen, mitunter aber auch auf Stadtplätzen und in Klöstern.

    Eine Tempelanlage, direkt im Stadtzentrum.

    Vis-à-vis ein Hochhaus in Gestalt einer zu lang geratenen Haifischflosse aus blauem Glas. Und ein betonfinstres Skyscraper-Skelett, das seine Gräten aus verbogenen Armierungseisen in ewiger Bauvollendungserwartung in den Himmel reckt.

    Das Mongolian National Song and Dance Ensemble.

    Obwohl also die traditionelle Musik auch in der Hauptstadt zu hören ist, zieht sie einen mit aller Macht hinaus. Exotisch und fremd, wie sie ist: raus in die Ferne!

    Eine Welt aus weichen Wellen. Hügel, riesige Ebenen, geschmeidige Senken. Der Horizont eher ein Übergang als eine klare Kante. Verwischt. Leicht flirrend. Flimmernd in der Sommerhitze. Am Straßenrand hockt ein klobiger Betonbuddha im Schatten eines abgestorbenen Baums, der mit einem wirren, blaugelben Spinnennetz aus ausgefransten Gebetstüchern überzogen ist.

    Raus aus Ulan-Bator.

    Irgendwie unschuldig, die Landschaft hier. Naiv nackt. Wälder sind rar gesät. Nur das Steppengras zieht dem rohen Gestein einen Pullover über. Einen dünnen, fadenscheinigen Pullover.

    "Es gibt hier was, was einem einfach die Birne aufmacht! Dieser Gesang, das ist so krass, wie diese Stimmen in dieser Natur verwurzelt sind","

    sagt Steffen Schorn, weltmusikbegeisterter Saxofonist aus Brühl bei Köln.

    ""Man kennt ja so Obertongesang schon ein bisschen aus der Ferne von CDs, aber man merkt eigentlich hier erst, wie die Akustik in der Steppe oder der Wüste dafür da ist, dass diese Obertöne kilometerweit tragen, und den Grundton hört man gar nicht mehr. Das Gleiche gilt eben auch für diesen Urtyn-duu-Gesang, das hat so ne Kraft und so ne Tiefe, die einen, ja auf einer ganz unbewussten Ebene berührt."

    Khoomei:
    Oberton-Gesang, bei dem neben einem bass-schweren Grundton ein mehrere Oktaven höher liegender, sirrender Zusatzton erzeugt wird.

    Urtyn-duu:
    Sogenannte Longsongs, deren Text aus wenigen, aber extrem lang gezogenen Silben und Wörtern besteht.


    Tsogd Saikhan, Urtyn-duu-Sängerin, indigoblaues Festtagskleid, durchgedrückter Rücken, stolzes Gesicht. Und eine unglaublich klare, weittragende Stimme, die hier draußen das ganze Tal überbrückt:

    "Longsong ist in mongolischer Steppe geboren. Und wenn jemand nicht Text versteht, aber trotzdem er oder sie kann weinen und sehen, wie breit mongolische Steppe, wie blau der mongolische Himmel. Also zum Beispiel, wenn kein Regen kommt in der Steppe, in der Gobi, dann Longsongsingers singen für den Himmel, dann kommt der Regen. Und auch für die Kinder ist gute Kraft, für die Pflanzen und für die Steine, für die Gebirge. Guter Spirit hört diese Longsongs, und dann macht die Leute glücklich. Unsere Longsong kommt direkt zum Herz!"

    Bernhard Wulff, Percussion-Professor in Freiburg und Gründervater des Roaring-Hooves-Festivals, bei dem alljährlich in der Mongolei Vertreter zeitgenössischer Musik aus westlich geprägten Ländern mit mongolischen Musikern aufspielen:

    "Ein Gesang, mit dem man versucht, irgendwie seine Identität in der Einsamkeit zu definieren. Man muss es schaffen, mit dem blauen Himmel zu singen."

    Amarbajasgalant. Im Norden der Mongolei. Ein altes buddhistisches Kloster. Gebettet in die ausgedehnte Steppe eines breiten Tals. Rechts und links davon wälzen sich die Hügelwellen nach hinten weg. An einigen ihrer Hänge: Stupas, kleine Reliquientempel. Und schräg gegenüber ein Schamanenberg mit heiliger Quelle. Wo Klangschalen, Maultrommeln und der kehlige Gesang der Nomaden mit dem Wiehern der mongolischen Pferde um die akustische "Lufthoheit"in der Stille der Steppe buhlen. Wo Sandtrommeln und Pferdekopfgeigen sich aufeinander eingrooven und mit dem Wind spielen.

    Bernhard Wulff: "Die mongolische Musik hat etwas ungemein Kraftvolles. Und erinnert auch daran, dass es um Elemente in der Musik geht, die Inspirationen aus Granitblöcken holt. Sie ist selbstverständlich nicht so artifiziell, sie kennt keinen Kontrapunkt, sie kennt in ihrem Ursprung eigentlich nur eine Einstimmigkeit."

    Steffen Schorn: "Wir hatten ja auch mal so einen Urtyn-duu-Workshop, wo Abby die Sängerin gefragt hat, wie bestimmte Stimmschläge oder bestimmte Vibrati oder Glissandi gemacht werden, und die Urtyn-duu-Sängerin wusste überhaupt gar nicht, was die meint. Also das ist ein völlig unintellektueller Zugang, das muss einfach so sein, und fertig."

    Naadam, das traditionelle Sommerfest der Nomaden. Pferdewettrennen der zehnjährigen Kids. Ringkämpfe, Bogenschießen und Zielen mit Knochenscheiben.

    Nomadin: "Sie ist Nomadin von dieser Region, und sie hat acht Kinder, alle haben Talent. Sie können Khoomei-Oberton singen und tanzen, und auch zeigen eigene Kultur."

    Allenthalben Quasseln und Lachen und Quasseln. Die Urtyn-duu-Sängerin versucht, gegen die Lärmkulisse anzusingen. Offenbar haben die Nomaden ein durchgreifendes Mitteilungsbedürfnis. Ausgehungert nach langen, einsamen Wintermonaten und jetzt wenigstens für diese paar Stunden der Schweigsamkeit der Steppe entronnen.

    Steffen Schorn: "Die Familien, die da kommen mit Mann und Maus und machen da Picknick und telefonieren auch währenddessen, und irgendwie wird zwischendurch einfach gelabert, aber es ist einfach so, dass man respektieren muss, dass es keine Konzerttradition gibt."

    Sonnenuntergang über der Steppe. Der Himmel durchstreift eine unglaubliche Fülle von Violett- und Orangetönen. Türmt ein paar Wolkenbrocken auf, die sich mit apricotfarbenen Lichträndern vom allmählich dunkler werdenden Himmel absetzen. Finsternis fällt von oben darüber her; eine halbe Stunde, dann hat sie den Kampf gewonnen. Für eine Nacht.

    Zwischenstopp: Noch mal Ulan-Bator.

    Wieder die Verbindungsstraße zwischen Flughafen und City. Rechts und links ganze Staffeln von riesigen Werbetafeln auf langen Stelzen. Offenbar aus den ersten Jahren nach dem Ende des Sozialismus. Diese Insignien des Kapitalismus befinden sich heute in ruinösem Zustand. Einer nach dem andern knicken ihre Ständer ein. Als einzige Instandhaltungsmaßnahme wurden in den letzten Jahren hin und wieder neue Werbefolien drüber gezogen.

    Skyscraper, Shopping-Malls und Opernhaus, Kinos, Clubs und philharmonisches Orchester. Auch an den Grenzen der Mongolei, einem der ärmsten Länder der Erde, macht die Globalisierung nicht Halt. Und auch ihre Kehrseite nicht: Klimawandel, ausufernde Mülldeponien, dramatische Luftverschmutzung in der Stadt. Und die immer weiter auseinanderklaffende Schere zwischen Arm und Reich.

    Von der anderen Seite der lang gestreckten Suburbs leuchten Plattenbauten herüber. Und das riesige Kohlekraftwerk sowjetischer Bauart mitten im Wohngebiet. Ohne Rauchgasreinigung versteht sich. Umzingelt von den pechschwarzen Abgasgirlanden des nicht abreißenden Stroms schlecht gewarteter LKW. Textil-, Leder- und Chemiebetriebe überantworten der maßlos überforderten Kanalisation opulente Mengen giftiger Abwässer. Der Fluss Tuul führt bei Ulan-Bator mehr als das Zehnfache der zulässigen Schadstoffe mit sich.

    Anhalten in einem der sogenannten Jurten-Distrikte am Rande Ulan-Bators.

    Eine staubige Straßenkreuzung. Die ausgetretenen Treppenstufen eines Zeitungsladens geben für eine Handvoll Kinder die Bühne ab. Als Kulisse: baufällige Häuser mit unglaublich bunten Dächern. Knallblau, quietschgelb, feuerrot. Und mit Zäunen aus vernagelten Brettern, rostigen Motorhauben, dürrem Astwerk.

    Hunde streunen zwischen den Palisadenwänden herum, ein paar struppige Pferde und knochige Rinder knabbern an mageren Grasbüscheln. Ein selbstverständliches Nebeneinander von Frauen in traditionellen Kleidern und solchen, die sich ausgesprochen westlich kleiden und ihr Markenbewusstsein an den Füßen tragen. Und seien es auch Label-Raubkopien aus China.

    Neben fast jeder dieser Steinhütten steht eine Jurte. Rund ein Drittel der Stadtbevölkerung, heißt es, lebt in Zelten.

    Mindestens aber dient die Jurte als Erinnerung. Erinnerung an andere Zeiten, an das Leben draußen in der Freiheit der unendlichen Steppe. Für die meisten hier nostalgische Reminiszenz an erst kurz zurückliegende und doch meilenweit entfernte Kapitel der Familiengeschichte.
    Diese umzäunten Jurte-Haus-Ensembles ballen sich zu Stadtteilen zusammen, die den Charme sibirischer Schachbrettweiler in knurriger Kältesteppe versprühen. Indes keineswegs nur Wohnstatt für Underdogs. Nicht grade wenig Mittelständler sind ebenfalls hier zu Haus und treten allmorgendlich den endlosen Linienbustrip zu den Bürohäusern im Zentrum an.

    Steffen Schorn:"Bei der mongolischen Musik ist es so, dass auch hier die Tradition ein bisschen künstlich hochgehalten wird. Das ist ja jetzt bei diesen aktuellen Entwicklungen in der Mongolei mit diesen ganzen Bodenschätzen, dieser neuen Wirtschaftskraft von den jungen Managertypen, die jetzt da in Ulan-Bator mit Rechner und Handy rumrennen, schon eine Gefahr, dass das verschütt geht."

    Das nicht zu übersehende Stadt-Landgefälle spiegelt sich auch musikalisch wieder. In Ulan-Bator wird die traditionelle Musik in Konzertsälen zu Gehör gebracht und an der Universität gelehrt. Draußen auf dem Land aber findet sie ohne jeden akademischen Überbau einfach statt.

    Das Steppenland fünf Busstunden südwestlich von Ulan-Bator. Hier und da in der endlosen Weite eine kleine Ansammlung von Jurten. Nomaden-Clans, die seit Jahrhunderten, wenn nicht Jahrtausenden mit ihren Ziegen und Schafen, Pferden und Kamelen die kargen Weidegründe abwandern.

    Gesichter wie Landschaften. Die Kinder mit Wangen wie das weich geschwungene Hügelland. Die leuchtenden schwarzen Augen immer unterwegs, registrieren alles, was aus dem Ebenmaß der Ebene ragt. Die Alten mit tief eingekerbten Furchen. Ihre Augen haben schon alles gesehen.

    Longsong-Sängerin: "Der Longsong hat sehr, sehr schöne Art Text, dann Kinder werden von das lernen, weil alten Zeit wir haben kein Buch! Wir lernen viele Sachen von Longsongs. Viele Geschichten von alten Zeiten. Und viele Leute weint und so, total relaxed, das ist auch Meditation für die Leute. So wenn man singt Longsong: kein Depressionen! Deswegen alle Nomaden sind zufrieden."

    Irgendwie unschuldig, die Landschaft hier. Nackt. Kaum Wälder. Nur dürres Gras, Sand, Gestein. Vereinzelt ein paar gelbe Steppenblumen.

    "Es gibt fast keine Schatten, weil es gibt nichts, um Schatten zu machen (lacht), es gibt fast keine Bäume, alles ist platt. Eine sehr zauberhafte Landschaft, ist fast wie ein anderer Planet; und dieses Licht, diese Farben und der Horizont sieht immer ganz weit aus. Hypnotisch und surreal. Wie von ein Traum. Man hat das Gefühl von Ewigkeit."

    Stephanie Griffin, Bratschistin aus New York, die die Mongolei besucht, um das Land der archaisch anmutenden zweisaitigen Geigen kennenzulernen, die man senkrecht zwischen die Knie klemmt.

    "Ich höre die Landschaft in der Musik. Ist auch hypnotisch, in diese Musik es wechselt nicht so schnell. Wir haben schon mitgesungen, ohne diese Wörter zu kennen (lacht). Auch der Rhythmus der Pferde. Und für mongolische Kultur ist Pferd König. Es gibt ein Instrument, Morin Chuur, Pferdekopfgeige. Sieht wie ein Pferd aus, und wie mein Bogen es ist von Pferdenhaare."

    Ein rechteckiger Resonanzkörper mit langem, emporgerecktem Hals. Dieser ist mit den besagten zwei Saiten aus Pferdeschweifhaar bespannt und läuft in einen geschnitzten Pferdekopf aus. Auf den Bogen, der sodann die Saiten zum Schwingen bringt, geht die Bezeichnung Geige zurück.

    Stephanie Griffin: "Es gibt manche Stücke, die diesen Galopp-Rhythmus haben, auch wie ein Iiiüiih, iiiüiih, ich könnte auch mit Bratsche vielleicht tun (lacht)."

    Hundert Kilometer weiter südlich: die Gobi. Eine Million Quadratkilometer Wüste.

    Hier an ihrem Nordrand streicht sie aus in langen Dünenstreifen, die sich wie Zungen ins Hügelland vorschieben. Endlose Sandebenen mit dünn gesäten Grasbüscheln, die gen Süden immer schütterer werden. Immer wieder aufgebrochen von Felsgruppen, die wie Nackenpanzer riesiger Urtiere den festgebackenen Sand durchstoßen.

    Steffen Schorn: "Du spürst die Präsenz der Natur. Ich kann das jetzt nicht gut beschreiben, weil es einfach platt klingt, aber es ist tatsächlich so. Dass da was ist, was in den Frequenzen deines Klanges widerhallt als Resonanz auf die Gegend einfach hier."

    Sobald man auf eine der Dünen hinaufklettert und den Blick gen Süden schweifen lässt, überwältigt einen die beklemmende Ahnung einer Welt, die sich da vor einem auftut. Wo die Dünenfinger immer weiter ausgreifen, ihren Sand zu endlosen Flächen zusammenlaufen lassen. Ocker, gelb, braun sind die Farben, die hier regieren. Und normalerweise der gnadenlos wolkenlose Himmel. Jetzt aber balgen sich pechschwarze Wolken über der Wüste, lassen windzerfetzte, anthrazitfarbene Regenfahnen hinabhängen, türmen sich überm Randgebirge zu halsbrecherisch gestapelten Wollsäcken auf.

    Steffen Schorn: "Klingt ein bisschen na ja, exotisch, romantisch: Ich fahre jetzt in die Mongolei, und auf einmal ist alles ganz toll, trallala, - trotzdem: Du stößt irgendwie zu so einem inneren Kern vor. Also du entdeckst das, was so im Alltag verschüttet ist, wo man nur noch funktioniert; und das ist hier nach wenigen Tagen schon so was von offen, das ist fantastisch."

    Ein schwarzes Gewitter steht am Himmel. Aber es traut sich nicht loszuschmettern. Beschäftigt sich noch ein bisschen mit Wolken zusammen- und auseinanderschieben, mit hin und wieder ein paar zerfranste Sonnenstrahlen durchsickern lassen. Doch irgendwann dann nehmen sich die Wettergötter und ihre Sprengmeister ein Herz und lassen's krachen. So richtig krachen. Aber nicht hier. Ganz woanders. Die Wetter sind längst weitergezogen, und man sieht sie im Süden ihre Blitzzacken in den Horizont schlagen. Während die Trommeln der Schamanen die Resonanz liefern.