Kommentar zur Pflege
Lauterbach schlägt zwar Alarm, vertagt aber Reformpläne

Zu wenig Pflegekräfte, immer mehr Bedürftige: Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) warnt vor einem „explosionsartigen“ Anstieg neuer Pflegebedürftiger. Das aber sei sachlich falsch, meint Birgid Becker.

Von Birgid Becker | 28.05.2024
Eine Pflegeheimbewohnerin wird von einer Pflegerin mit dem Rollstuhl einen Gang entlanggeschoben.
Die Kosten für die Pflege werden weiter ansteigen (picture alliance / dpa / Marijan Murat)
Hat er sich in den Zahlen verirrt oder wollte er Alarm schlagen? Der Bundesgesundheitsminister gibt Rätsel auf. Karl Lauterbach hat in einem Zeitungsinterview den Eindruck erweckt, dass es im vergangenen Jahr einen ungewöhnlichen, einen fast schon schockierenden Anstieg bei den Zahlen neu hinzukommender Pflegebedürftiger gegeben habe.
„Explosionsartig“ hat er diesen Anstieg genannt – vielleicht nicht die glücklichste Wortwahl im Zusammenhang mit gebrechlichen Menschen – „explosionsartig“, weil der Anstieg um mehr als das Siebenfache über den Annahmen gelegen haben soll.

Anstieg bei neu hinzugekommenen Pflegebedürftigen

So dargestellt, ist das sachlich aber falsch. Angaben von Lauterbachs eigenem Ministerium und Angaben der gesetzlichen Pflegekassen zufolge, gab es einen Anstieg bei den neu hinzugekommenen Pflegebedürftigen, der um etwa zehn Prozent über den Annahmen lag. Immer noch hoch, immer noch erklärungsbedürftig. Gab es einen Nachholeffekt aus den Corona-Jahren? Man weiß es nicht, aber „explosionsartig“ ist das nicht.

Hat Karl Lauterbach sich also in den Zahlen verirrt? Oder hat er besonders laut, explosionsartig laut geradezu, Aufmerksamkeit schaffen wollen. Es brennt bei den Pflegekassen. Irrtum oder Alarm? Auch das kann man nicht vollends wissen, aber dass der als detailversessen und studienverschlingend bekannte Karl Lauterbach den Durchblick in der Statistik verliert, das darf man bezweifeln. Also, kein Irrtum, sondern Alarm.

Kosten für Pflege werden wohl wieder steigen

Ging es Lauterbach darum, mit einer äußerst gedehnten Darstellung der Pflegezugangs-Statistik zu untermauern, wie prekär die Lage in der gesetzlichen Pflegeversicherung ist? Wenn ja, wie unnötig wäre das denn?
Die Boomer gehen in Rente, werden alt und gebrechlich – und viele Pflegekräfte gleich mit. Bis zu einer halben Million wird fehlen in den kommenden zehn Jahren. Schon jetzt können wegen des Personalmangels Pflegebetten nicht belegt werden. Die Kosten in den Heimen sind trotz verbesserter Zuschüsse so gestiegen, dass immer mehr Bewohner von Pflegeheimen zu Sozialhilfe-Fällen werden. Die Beitragssätze zur Pflegeversicherung, die bereits im vergangenen Jahr erhöht wurden, werden im kommenden Jahr wohl wieder steigen.

Das ist die Lage. Bestürzend genug. Da braucht es keinen Zusatzalarm, keine überdehnte Statistik. Und wenn Karl Lauterbach nun sagt, dass es keine Reform der Pflegeversicherung geben wird in dieser Legislaturperiode? Ja, die Zahl der politischen Baustellen ist groß, die Schuldenbremse drückt, die Ampel-Koalition ist in einem wenig beschlussfähigen Zustand – aber dass diese überaus notwendige Reform der Pflegeversicherung ausfällt, das kann Karl Lauterbach erst einmal nur einem anlasten: sich selbst.
Er hat keinen Entwurf vorgelegt und wird das in dieser Legislaturperiode wohl auch nicht mehr schaffen. Weder Irrtum noch Alarm können davon ablenken.