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Pflichtlektüre für DDR-Dissidenten

Der Autor der "Vernehmungsprotokolle", der DDR-Oppositionelle Jürgen Fuchs, geriet selbst ins Visier der Staatssicherheit. Er saß neun Monaten in einem Stasi-Gefängnis und schrieb eine Art Handlungsanweisung - um anderen die eigenen Anfängerfehler in Haft zu ersparen.

Von Lutz Rathenow | 08.02.2010
    "Zeigen Sie Ihren Personalausweis. Steigen Sie aus. Schließen sie die Wagentür. Folgen Sie uns zu diesem Fahrzeug. Steigen sie ein." Die Wagentür wird zugeschlagen und von innen verriegelt. "Wer sind Sie?" "Ministerium für Staatssicherheit."
    So setzt das Buch ein - als Schock. Geschrieben 1977 als Jürgen Fuchs nach neun Monaten Haft das Gefängnis verlassen durfte und die DDR verlassen musste, verbannt bis zu ihrem Ende. Die "Vernehmungsprotokolle" handeln fast nur von diesen neun Monaten in der Stasi-Untersuchungshaft in Hohenschönhausen und sind doch mehr als Protokolle. Jürgen Fuchs verdichtet die Realität der Haft – eine Mischung aus Langeweile, sinnlosen Fragen, erschöpfenden Wiederholungsritualen, Drohungen und Ungewissheit bezüglich des weiteren Fortganges - zu einem spannenden Wechsel von Dialogen und dramatischen inneren Monologen. Der Text, zuerst im "Spiegel" erschienen, wirkte so nachhaltig, weil er mehr noch als Fuchs Erstling "Gedächtnisprotokolle" eben doch auch Literatur war, die von Wallraff inspiriert, als Journalismus daherkam.

    An diesem jungen Dissidenten, der Gleichaltrige mit den Staatsfeinden Biermann und Havemann zusammenbrachte und nach Biermanns Ausbürgerung '76 aus dem Wagen Havemanns heraus verhaftet wurde, bissen sich die Stasi-Leute mit ihren Tricks und Finten, Grobheiten und Subtilitäten in der Haft die Zähne aus. Deshalb nötigten sie ihn, die DDR zu verlassen – freigekauft von der Bundesregierung. Dabei vergaß die Stasi aber nicht zu erwähnen, dass der Arm der Stasi ihn auch im Westen noch erreichen könne, falls nötig. Die Schlusspassagen der "Vernehmungsprotokolle" handeln von dieser Drohung zur Ausreise hin und der keineswegs euphorischen Ankunft im Westen Berlins. Die "Vernehmungsprotokolle" waren 1978 der erste Text, der öffentlich die Freikaufpraxis politischer DDR-Gefangener durch die Bundesregierung problematisierte. Jetzt ist das Buch in einer schön gestalteten Neuausgabe mit assoziationsreichen Kunstfotos von Tim Deussen wieder aufgelegt worden. Für sein Nachwort hat sich Hubertus Knabe, der Leiter der Stasiopfer-Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, die realen Stasi-Akten des Falls Fuchs vorgenommen - also jene Protokolle, die natürlich nach Stasi-Art verzerren und dennoch aufschlussreich sind. Dabei entdeckte er eine erhellende Differenz gegenüber dem literarischen Text:

    Darüber hinaus gab er nur zu, was dem MfS ohnehin bekannt war. Dass er die Schriftstellererklärung unterzeichnet und sie zwei Freunden aus Jena am Telefon vorgelesen habe.
    Jürgen Fuchs belastete sich und andere, bevor er sehr rasch zu einem System von Aussageverweigerungen und Erklärungsabgaben kam, das die Stasi fast hilflos agieren ließ. Die literarische Konstruktion hat eine politische Absicht: Fuchs will dem Leser - und besonders dem DDR-Bürger als Leser – helfen, nicht nur den Psychoterror der Stasi zu analysieren, sondern auch die eigenen Anfangsfehler in Haft zu vermeiden. Und sich später nicht zur ungewollten Westausreise nötigen zu lassen. Für die Oppositionellen unter den Bürgerrechtlern wurden die "Vernehmungsprotokolle" zur Pflichtlektüre: Und bis zum Ende der DDR traf die Staatssicherheit auf Verhaftete, die aus der Lektüre ihre Lehren zogen und einfach nichts oder nichts Sinnvolles aussagten. Daraus zog das MfS seine Schlussfolgerungen und erklärte nach dem Tode Robert Havemanns Jürgen Fuchs zum Staatsfeind Nummer 1.

    Lutz Rathenow besprach Jürgen Fuchs: Vernehmungsprotokolle. Der Preis 14 Euro 90, 176 Seiten, erschienen im Jaron Verlag (ISBN 978-3-89773-607-8).