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Pflichtlektüre

Was soll man halten von einem Wirtschaftsstandort Deutschland, der keine Steigerungsraten, dafür aber fünf Millionen Arbeitslose produziert? Nichts! sagt die politische Opposition und mahnt Reformen an, die sie selbst einst nicht auf den Weg bringen konnte. Nichts! sagt auch das Feuilleton und schaut gebannt in die Vereinigten Staaten, wo man mit dem Rückenwind von Hauhaltsüberschüssen aufwendige Kriege beginnen konnte. Viel! sagt hingegen Werner Abelshauser in seinem neuen Buch Kulturkampf . Was der Autor Feuilleton wie Politik voraus hat, ist die genaue Kenntnis der Wirtschaftsstrukturen in Europa und Übersee sowie die Gelassenheit des Historikers, der in großen Zeiträumen zu denken gewohnt ist.

Matthias Eckoldt | 11.02.2004
    Auf knapp zweihundert Seiten versteht es der renommierte Wirtschaftshistoriker und Chef des Bielefelder Institutes für Weltgesellschaft die Entwicklungslinien des deutschen und im Spiegel dazu des amerikanischen Modells so eingängig darzustellen, dass man sein Buch jedem, der künftig in die Debatte um Reform, Sozialstaat, Mitbestimmung und Amerikanismus einzugreifen gedenkt, als Pflichtlektüre verordnen möchte. Abelshauser geht in seiner Analyse ans Ende des neunzehnten Jahrhundert zurück und macht dort einen gemeinsamen Startpunkt für die europäische und amerikanische Wirtschaft aus:

    Zum Zeitpunkt des Entstehens der jeweiligen sozialen Systeme der Produktion in den Vereinigten Staaten und Deutschland gab es noch nicht diese besondere Spezialisierung der beiden Volkswirtschaften, sondern das Gemeinsame war, dass man eintrat in ein neues Zeitalter der Wirtschaft, in dem Wissenschaft, Wissensbestände, immaterielle Faktoren, Dienstleistungen, eine größere Rolle im Produktionsprozess spielten. Und sowohl in Deutschland als auch in den USA kamen jene Unternehmen auf, die die Verwissenschaftlichung der Produktion zum Gegenstand hatten, und die – ein weiteres Kennzeichen – eine sehr starke Weltmarktorientierung hatten. Die meisten produzierten die Hälfte ihres Umsatzes für den Weltmarkt. Das war in den USA und Deutschland im späten 19. Jahrhundert gleich.

    Mit dem entscheidenden Wandel des Wirtschaftsleitbildes hin zur Verwissenschaftlichung der Produktion ist auch der institutionelle Rahmen des deutschen Produktionssystems entstanden. Vor über hundert Jahren bildeten sich die vier Eckpfeiler, auf denen die deutsche Wirtschaft im krisengeschüttelten zwanzigsten Jahrhundert sicher stand: Das Branchensystem mit der Wettbewerbsordnung, das Universalbankensystem, das Mitbestimmungsrecht und das Qualifizierungssystem, zu dem bereits seit 1897 die normierte Berufsausbildung gehört.

    Diese deutsche Wirtschaftsordnung bezeichnet Abelshauser als korporativ - körperschaftlich. Mit dieser Qualifizierung weist er darauf hin, dass die Wirtschaft hierzulande seit dem späten neunzehnten Jahrhundert in die Spielregeln einer Zivilgesellschaft eingebettet ist, deren soziales Verantwortungsbewusstsein sich an Errungenschaften wie der gesetzlichen Kranken-, Unfall- und Altersversicherung messen lässt. Die korporative Organisation der Wirtschaft hatte jedoch nicht nur soziale Vorteile. Die deutschen Unternehmen konnten auf hoch spezialisierte Stammbelegschaft, brancheninterne Kooperation und langfristige Finanzierung bauen und bestimmten rasch den Weltmarkt für Qualitätsprodukte. Die AEG und der Siemens-Konzern beispielsweise produzierten 1913 ein Drittel der auf dem Weltmarkt gehandelten Elektroartikel und waren mit Unternehmen wie IG-Farben Thyssen und Krupp für das geflügelte Wort von der deutschen Wertarbeit verantwortlich.

    Die amerikanische Wirtschaft ging einen anderen Weg, den Abelshauser als fordistische Alternative bezeichnet. Der Auto-Hersteller Henry Ford setzte 1913 als erster das Fließband im großen Stil für die Produktion seines T-Modells ein und gab der amerikanischen Wirtschaft den Takt vor, die sich von da an auf die standardisierte Massenproduktion konzentrierte. Das Fließband aber brauchte keine qualifizierten Fachkräfte. Jeder Arbeiter war ersetzbar. Deshalb zeigten sich die amerikanischen Unternehmen weder an Ausbildung noch an einer sozial versorgten Stammbelegschaft interessiert.

    Abelshauser bezeichnet die vom Fließband intiierte Wirtschaft in den USA als liberale Marktwirtschaft. Es herrscht die freie, ungezügelte Konkurrenz. Die historische Analyse der fundamentalen Unterschiede zwischen dem deutschen und dem amerikanischen Prinzip machen deutlich, dass der Kulturkampf zwischen zwei etwa zur selben Zeit entstandenen Modellen des Kapitalismus und nicht zwischen einem fortschrittlichen und einem rückschrittlichen Wirtschaftssystem ausgefochten wird:

    Noch vor zehn, zwanzig Jahren war ja dieses deutsche soziale System der Produktion Vorbild auch für die USA. Gerade wegen seiner Langfristigkeit, gerade wegen seiner Stabilität, gerade wegen seiner Rückbindung an alle möglichen Instanzen der Gesellschaft. Aber mit der Arbeitslosigkeit, die in den achtziger Jahren ein kritisches Maß erreicht hat, ist dann dieses System unter Kritik gekommen. Gleichzeitig hat das amerikanische System sehr viel besser abgeschnitten. Das deutsche System steht seit Jahren unter Druck, seine eigenen Prinzipien aufzugeben. Ein Teil der Wirtschaft hat diesem Druck nachgegeben. Die Ergebnisse sind nicht gut. Wenn Sie an die deutschen Großbanken denken, die ihre Stärken aufgegeben haben, versucht haben, in das Investmentbanking einzusteigen, mit doch sehr desillusionierenden Konsequenzen, mit hohen Verlusten und anderen Begleitumständen.

    Erfolgreich sind die deutschen Unternehmen nach wie vor, wenn sie sich auf ihre historisch gewachsenen Stärken besinnen. Abelshauser beweist das mit einer eingängigen Statistik, in der er die Patenterteilungen für deutsche Unternehmen ins Verhältnis zur Durchschnittsverteilung setzt. Resultat: In den Sparten Transport, Werkzeugmaschinen, Umwelttechnik, mechanische Industrie und Motoren kommen bis zu vierzig Prozent mehr Patente aus Deutschland als aus den anderen Industrienationen. In diesen Bereichen, die nach wie vor hochqualitative Maßarbeit verlangen, liegt offensichtlich die Kernkompetenz des auf spezifische Weise gewachsenen deutschen Wirtschaftssystems. Dienstleistungen und niedrigpreisorientierte Massenproduktion hingegen sind nach wie vor die Domäne der amerikanischen Unternehmen, die ihrerseits in der Informationstechnologie und bei Pharmazeutika bis zu vierzig Prozent über dem Durchschnitt der Patentanmeldungen liegen. Legt man die Statistiken für Deutschland und die USA übereinander, wird deutlich, dass sich die beiden Wirtschaftssysteme nahezu idealtypisch ergänzen. Sie haben im zwanzigsten Jahrhundert spezifische Stärken ausgebildet, die nach wie vor auf dem Weltmarkt stark nachgefragt sind.

    Das Buch von Werner Abelshauser ist allerdings weit davon entfernt, das deutsche Wirtschaftssystem heilig zu sprechen. Der Autor mahnt eindringlich Reformen an. Allerdings müssten es die richtigen Reformen sein, für die eben nicht das amerikanische System Vorbild sein könnten. Es darf nicht, so Abelshauser, um die Abschaffung und Neubestimmung der deutschen Wirtschaftsstrukturen gehen, sondern um deren Verschlankung. Dazu gehört die Beseitigung des historisch gewachsenen Wildwuchses im Sozialsystem, die Überwindung von Besitzstandsdenken auf der Ebene der Gewerkschaftsfunktionäre, die Besinnung des Staates auf seine ordnungspolitischen Aufgaben und sein Rückzug aus der Subventionierung unrentabler Industriezweige.

    Am Schluss des Buches vermisst der gründlich von Vorurteilen und Halbwissen in Sachen deutsche Wirtschaft befreite Leser eine qualifizierende Einschätzung der gegenwärtigen Reformanstrengungen in Deutschland aus dem berufenen Munde von Werner Abelshauser. In diesem Punkt aber hält sich der Wirtschaftsexperte leider vornehm zurück und resümiert eher allgemein:

    Für eine Reform, die sich auf eine Entschlackung des deutschen institutionellen Rahmens konzentriert, seine Eigenarten aber erhält und seine Wettbewerbsfähigkeit noch betont, spricht die Realität einer globalen Wirtschaft. Deutsche Wirtschaftspolitik sollte sich daher am Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts nicht in der Imitation von Produktionsregimen erfolgreicher Wettbewerber erschöpfen, sondern die eigenen institutionellen Vorteile kreativ ausbauen.

    Werner Abelshauser
    Kulturkampf
    Kadmos, 232 S., EUR 19,90