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Philippe Herreweghe
Frühe Sinfonien von Schubert

So mancher Komponist vergisst seine eigenen Sinfonien - oder ignoriert sie wie Franz Schubert: drei Frühwerke, geschrieben allesamt noch als Teenager. Musik auf der Nahtstelle zweier Epochen, der ausgehenden Wiener Klassik und der jungen deutschen Romantik. Der belgische Dirigent Philippe Herreweghe hat Schuberts Sinfonien Nummer 1, 3 und 4 eingespielt.

Von Raoul Mörchen | 26.12.2015
    Der österreichische Musiker und Komponist Franz Schubert.
    Der österreichische Musiker und Komponist Franz Schubert. (picture-alliance / dpa / Votava)
    Sinfonie Nr.1, I. Adagio – Allegro vivace
    Man ist ja gewöhnt an Rekorde in der Musik. Wir kennen die Sieben-, Acht- und Neunjährigen, die schon fröhlich Konzerte spielen und wir kennen aus der Geschichte auch einige komponierende Wunderkinder: Mozart fällt einem zuallererst ein, dann auch Mendelssohn und nach einigem Nachdenken schließlich Schubert. Das Wunderkind Franz Schubert allerdings steht nie so glänzend da, wie es sein Talent eigentlich verdient hätte. Die Zeit seiner Wunder fällt in die Zeit eines Umbruchs. Die Klassik geht, die Romantik kommt. Als sich dieser Umbruch vollzogen hat, klingt, was eben noch frisch und gut war, plötzlich abgestanden und überholt. Die genialischen Jugendwerke Franz Schuberts eingeschlossen. Nicht nur die Nachwelt ist unerbittlich in ihrem Urteil: Schubert selbst ist es auch. Wie sonst ist erklärlich, was er 1824 einem Freund schreibt: Erst zählt Schubert in seinem Brief auf, was er in der letzten Zeit alles komponiert habe, um dann zu schließen: "Überhaupt will ich mir auf diese Art den Weg zur großen Sinfonie bahnen." Da fragt man sich natürlich: wieso "Weg bahnen"? Was ist denn mit den sechs Sinfonien, die Schubert bereits komponiert hat?
    Sinfonie Nr.1, I. Adagio – Allegro vivace
    Tatsächlich: vergleicht man ein Werk wie die erste Sinfonie, das Werk eines 16-Jährigen, mit der "Unvollendeten" oder der großen C-Dur-Sinfonie, dann ist der erste Eindruck, man habe es mit zwei verschiedenen Komponisten zu tun. Hier ein Wiener Klassiker, dem es darum geht, formale Übereinkünfte im Detail zu verfeinern, dort ein Romantiker, bei dem die Abweichung wichtiger wird als die Norm, einer, der strebt nach Originalität und Einzigartigkeit. Doch selbst wenn man bei diesem Urteil bliebe: Das wäre, so meint der belgische Dirigent Philippe Herreweghe, noch lange kein Grund, den frühen, klassischen Schubert nicht ernst zu nehmen. Wobei das "ernst nehmen", positiv gewendet, für einen Pionier der historisch informierten Aufführungspraxis heißt: ihn aus seiner eigenen Zeit heraus verstehen und interpretieren.
    Sinfonie Nr.1, III. Menuetto
    Für diesen wirklich zeitgemäßen Ansatz braucht es nicht unbedingt ein Spezialensemble. Bei seiner jetzt begonnenen Gesamtaufnahme der Schubert-Sinfonien vertraut Herreweghe auf ein Sinfonieorchester mit Allround-Qualitäten, auf das Royal Flemish Philharmonic, die Königliche Philharmonie von Flandern. Seit 1997 ist Herreweghe Musikdirektor des Ensembles aus Antwerpen, und er weiß, wie man mit diesen Musikern, die gestern noch Strawinsky spielten und morgen wieder Mahler, einen authentischen Schubert-Klang hervorbringt, und zwar den Klang eben des frühen, klassischen Schuberts.
    Sinfonie Nr.1, III. Menuetto
    Selbst wenn Schubert seine sechs frühen Sinfonien später ganz pauschal verwarf, als Weg in eine Sackgasse, so spielt sich auf diesem Weg doch eine bemerkenswerte Entwicklung ab. So ungelenk manche Wendung noch in der ersten Sinfonie scheint, so schematisch manche Sequenzierung und die Modulationen in den Durchführungen, so überdeutlich hinter jeder Seite hier noch Joseph Haydn als Vorbild steht, so souverän meistert Schubert schon wenig später die gleiche Aufgabe in den Sinfonien Nummer drei und vier. Die Themen sind prägnanter, bergen mehr Potential, ihre Verarbeitung ist origineller und mit größerem Vorausblick geplant, die Instrumentierung raffinierter. Obwohl allesamt für Amateurorchester geschrieben, als orchestrierte Hausmusik sozusagen, wirbeln sie gehörig Staub auf: sie wollen Tempo und Schwung - und bekommen beides in der sehr frischen, dynamischen, manchmal geradezu explosiven Aufnahme von Herreweghe und den Königlichen Philharmonikern.
    Sinfonie Nr.4, I. Adagio molto – Allegro vivace
    Wer Philippe Herreweghe nur als bedeutenden Bachinterpreten und Anwalt vorbarocker Vokalmusik kennt, als Chef etwa des von ihm gegründeten Collegium Vocale Gent, den wird diese Aufnahme in ihrem so stilsicheren Wiener Tonfall verblüffen – aber ein klein wenig wohl auch enttäuschen: denn die alte Kunst der Klangrede, die Kunst, Motive und Phrasen noch auf kleinstem Raum plastisch auszuformen und wirklich zum Sprechen zu bringen, wird von Herreweghe nicht mit letztem Entschluss ausgereizt. Sobald das Orchester im mittleren und unteren Bereich der Dynamik spielt, verliert es an Schärfe und Eindringlichkeit. Was in der Spitze Kraft hat, Kontur und Vitalität, wird nach unten hin etwas weich und unverbindlich. Und doch ist Herreweghes Aufnahme ein unterm Strich starkes Plädoyer für den frühen Schubert: Allenthalben spürt man die Kraft eines Komponisten im Aufbruch. Dass Schubert dieser Aufbruch auf dem Gebiet der Sinfonie auch später nicht recht gelingen wird, dass die wirklich große Sinfonie, von der er träumt, unvollendet bleibt – das steht auf einem anderen Blatt.
    Sinfonie Nr.4, IV. Allegro
    Franz Schubert, Sinfonie Nr.4, Finale. Philippe Herreweghe und das Royal Flemisch Philharmonic haben Schuberts Sinfonien Nummer 1, 3 und 4 aufgenommen und veröffentlicht auf einer Doppel-CD bei Herreweghes eigenem Label Phi. Die neue Platte wurde Ihnen vorgestellt von Raoul Mörchen.