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Philosophie als praktische Tätigkeit

"Philosphie als Kulturpolitik" ist der letzte Essayband des jüngst verstorbenen amerikanischen Philosophen Richard Rorty. Das Buch ist wohl auch als Manifest gemeint - und manchen gilt es gleichsam als sein Testament. Rorty macht in dem für ihn typischen gelassenen Duktus gleich am Anfang klar: Ihm gehe es nie um eine abstrakte Wahrheit, sondern um den praktischen Stellenwert einer Wahrheit.

Von Eike Gebhardt | 20.08.2008
    "Ich bevorzuge Philosophien, die historistisch genug sind, um sich selbst als Teilnehmer an einem Gespräch und nicht als Vertreter eines quasi naturwissenschaftlichen Fachs zu begreifen."

    Kürzer lässt sich die Essenz der Philosophie des wohl zu Recht bekanntesten US-Philosophen Richard Rorty nicht auf den Begriff - oder wenigstens eine handliche Formel - bringen. Der brillante und unorthodoxe Denker, der sich wenig um die Zugehörigkeit zu seiner akademischen Zunft scherte und schließlich sogar einen Lehrstuhl für Literatur bevorzugte, ließ sich schon gar nicht von einer der amtierenden Schulen und Mode-Strömungen vereinnahmen.

    Irritierend unbefangen nannte er sich einen "romantischen Utilitaristen". Dieser nämlich wird, laut Rorty, Zitat: "an der Idee festhalten, dass es verschiedenartige, einander widerstreitende, aber gleich wertvolle Formen des menschlichen Lebens gibt." Diese Diagnose war freilich unter den akademischen Philosophen praktisch folgenlos geblieben - vielleicht gerade weil sie einen Sprengsatz barg: Die Folgerung nämlich,

    dass die Kulturpolitik an die Stelle der Ontologie treten sollte, und ferner, ob sie das sollte oder nicht, ihrerseits eine Sache der Kulturpolitik ist.
    Denn dass ein Interesse verdrängt werde, gehöre zu diesem Interesse selber, hatte Jürgen Habermas einst gespottet - und ausdrücklich Erkenntnisinteressen damit gemeint. So war der Titel, "Philosphie als Kulturpolitik", dieses letzten Essaybandes des jüngst verstorbenen Rorty wohl auch als Manifest gemeint - und manchen gilt er gleichsam als sein Testament.

    So vieles ihn auch vom geschätzten Kollegen Habermas trennte - vor allem dessen Glauben an einen universellen Metakonsens hinter aller kommunikativen Kompetenz -: Habermas' Ansatz über interessengeleitete Erkenntnis übernimmt Rorty genüsslich, zumal mit Rückgriff auf Nietzsche, der wohl als erster die - angeblich wertfreie - Suche nach absoluter Wahrheit als religiösen Wahn erkannte und die Mentalität, Ideologie und Interessenlage hinter allen Erkenntnismethoden beschrieb.

    Der im Umgang sanfte, in der Sache aber polemikfreudige Rorty ließ sich gern auf Thesen seiner Gegner ein - deren stillschweigenden Erkenntnismotive er freilich immer wieder hinterfragte. Schließlich lässt sich historische Tiefen- oder Breitenwirkung einer Philosophie - das dürfte dasselbe sein - nur durch praktische Auswirkungen belegen. Denn:

    [Es] "geht ... der Philosophie nicht darum, herauszufinden, wie irgendetwas "eigentlich" beschaffen ist, sondern uns beim Erwachsenwerden zu helfen und dazu beizutragen, dass wir glücklicher, freier und flexibler werden. Die Entwicklung unserer Begriffe und die zunehmende Fülle unseres Begriffsrepertoires machen den kulturellen Fortschritt aus.
    Rortys typisch gelassener, grundsätzlich unpolemischer Duktus ist schiere Camouflage im Krieg gegen die akademische Philosophie. Den wichtigsten Unterschied stellt Rorty gleich am Anfang klar: Ihm gehe es nie um eine abstrakte Wahrheit, sozusagen die Wahrheit überhaupt - was immer das sein mag - sondern um den praktischen Stellenwert einer Wahrheit; darin ist er ganz Pragmatist, ganz wie es einer der Gründerväter dieser Philosophie, Charles Sanders Peirce, einst salopp formuliert hatte: What a thing means is simply what habit it involves:Der Sinngehalt - fraglos ein präziserer Begriff als "Wahrheit" - ergibt sich aus dem Gebrauch.

    In Wirklichkeit ist es aber so, dass metaphilosophische Fragen - also Fragen über den Nutzen der Philosophie und die beste Form ihrer Ausübung - nicht von Fragen über das Wesen der Erkenntnis, der Wahrheit und der Bedeutung zu trennen sind.
    Einfacher gesagt: Philosophie ist eine eminent praktische Tätigkeit - und als solche eben politisch: Wenn man die Folgen ihrer Einsichten nicht verdrängt, zeigt sich rasch, dass ihr einzig neutrales Ziel, sozusagen ihr Erkenntnisinteresse, schlicht die Erweiterung des menschlichen Optionsspektrums ist:

    Die Entwicklung unserer Begriffe und die zunehmende Fülle unseres Begriffsrepertoires machen den kulturellen Fortschritt aus.

    Und der werde nicht durch die quasi religiöse Suche nach einer - angeblich hinter allen Erscheinungen liegenden - Wahrheit ausgelöst, ja nicht einmal gefördert; Wahrheit, scheint Rorty zu suggerieren, ist eine Sackgasse - sie wäre im Wortsinn "end-gültig" für unsere Sinnsuche. Und damit auch das Ende jeden Fortschritts.

    Gewissermaßen unfreiwillig hatte Thomas Kuhn dieses Dilemma anhand der immer wieder aufflackernden Methodenkontroversen in seinem Klassiker über "die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen" beschrieben; allerdings auf angeblich anomale Situationen beschränkt, in denen momentan keiner der konkurrierenden Ansätze ausschließliche Autorität beanspruchen könne; in diesem Fall könnten sich die Wissenschaftler nicht mehr auf irgendwie transzendent abgesicherte Geltungsansprüche berufen, sondern müssten Gründe für die Geltung ihres bevorzugten oder vermeintlich alleinseligmachenden Methode finden. Und diese Geltungsansprüche müssen verhandelt und schließlich von anderen anerkannt werden - und für diese Verhandlungsform gebe es wiederum nur eine Methode: Das Gespräch.

    Wo Autoritäten nicht mehr für uns, genauer: an unserer Statt, entscheiden, da müssen wir Überzeugungsarbeit leisten. Die Philosophie, die sich so gern - auch heute noch - als Grundlagenwissenschaft sieht, als einzige Instanz, die unsere Erkenntnisprämissen thematisiert - könne gar nicht anders als unaufhörlich im Dialog Geltungsansprüche über das richtige oder plausible beziehungsweise überzeugende Wirklichkeitsbild verhandeln, wenn sie nicht in quasi-religiöse Akzeptanz fragloser Geltung zurückfallen will.

    So erscheint Rorty das Gespräch als einzig legitimes Medium der Wahrheitsfindung, genauer wohl: Wahrheitsgestaltung, der jeweils gerade geltenden, aber unaufhörlich verhandlungsbedürftigen "vérité à faire", wie die frühe Kritische Theorie diese Gratwanderung zwischen Orientierungsbedürfnis und der kulturellen Kontingenz der amtierenden Wahrheiten nannte.

    Das Gespräch sei in diesem Sinne kein bloßes analytisches Werkzeug, so wie die Naturwissenschaften weithin ihre Methodologie begreifen. Denn um zu entscheiden, ob eine Methode ihrem Gegenstand angemessen ist, müssten wir eigentlich diesen Gegenstand schon kennen - den wir doch mit Hilfe der methodischen Analyse überhaupt erst begreifen wollen. Es ist jener hermeneutische Zirkel, der sich erst im Gespräch durchbrechen, genauer: Wie eine Spirale auf eine immer höhere Einsichtsstufe schrauben lasse.
    Und da "es verschiedenartige, einander widerstreitende, aber gleich wertvolle Formen des menschlichen Lebens gibt, ... beruht ... der Wert der Philosophie als solcher ... auf ihrem Verhältnis zum übrigen Gespräch der Menschheit.

    Diese Synthese aus erkenntnistheoretischer Selbstreflexion und praktischen humanitären Motiven - heute ziemlich utopisch - ist kein romantischer Multikulturalismus, sondern eben - so Rortys denkwürdiger Begriff - "romantischer Utilitarismus", einfacher gesagt: konkreter Kosmopolitismus. Die kulturelle Relativität der eigenen Begriffssprache nicht mitzureflektieren, sie als unproblematische und angeblich neutrale Werkzeuge einzusetzen, schien ihm naiv:

    Meiner Ansicht nach ist es besser, nicht zu behaupten, der liberale Westen habe mehr Ahnung von Vernunft und Gerechtigkeit.

    In anderen Worten: Ehrliche Philosophie könnte gar nicht anders als unser Selbstverständnis revolutionieren, mit allen sozialen Folgen: So sind den die funkelnden Polemiken, ganz wie der Titel suggeriert, tatsächlich ein politisches Programm.

    Richard Rorty: "Philosophie als Kulturpolitik", Suhrkamp 2008, 357 Seiten. 28,80 Euro.