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Philosophie
Bildung schützt vor Bosheit nicht

Das Böse lässt sich nicht mit Fakten und Wissen bekämpfen, sagt die Philosophin Bettina Stangneth. Aber mit Moral. Wertediskussionen hält sie dagegen für überflüssig.

Von Mechthild Klein | 20.01.2017
    Der deutsche Schauspieler, Regisseur und Theaterintendant Gustaf Gründgens als Mephisto in einer Szene von Goethes Faust II in einer von ihm im Jahr 1959 am Deutschen Schauspielhaus Hamburg inszenierten Aufführung.
    Mephisto, Nationalsozialisten, Anhänger des IS - genügend Bildung führt nicht automatisch zu gutem Handeln (picture-alliance / dpa / Herold)
    Das Böse ist allgegenwärtig, in Kriegen, in Gewalt, in Hassmails zum Beispiel. Und was hilft dagegen angeblich? Aufklärung, Nachdenken, Selberdenken. Ein großer Irrtum, sagt die Hamburger Philosophin Bettina Stangneht. Es sei ein Denkfehler, wenn man sich Denken immer nur als gut vorstelle.
    "Wir haben wirklich darauf gehofft, dass Mündigkeit, selber Denken die Zutat ist, die nichts verderben kann. Und was man lernen kann, wenn man sich mit Nationalsozialistischer Philosophie beschäftigt und dem Nationalsozialismus überhaupt, ist, dass dort sehr wohl ein hohes Maß an Intellektualität vorliegt. Wir haben das unterschätzt, dass wir uns damit auseinandersetzen müssen, warum hochintelligente Menschen mit einem Wissen um Vernunft, um Moral und moralische Ansprüche, dennoch das Gegenteil davon tun können, was sie wissen."
    Bettina Stangneth sieht die Bildungsthese linker Theoretiker eher im Reich der Wünsche angesiedelt. Sie glaubt nicht, dass genügend Bildung automatisch zu gutem und fairen Handeln führt.
    "Eine Bibliothek zu Hause verhindert nicht, dass man Massenmörder wird. Geige spielen verhindert nicht, dass man ein böser Mensch wird."
    Adolf Eichmann, der die Ermordung von Millionen Juden in der Zeit des Nationalsozialismus organisierte, spielte Geige. Solche Täter wie Eichmann, die stellt man sich besser nicht als tumben Befehlsempfänger vor.
    "Wir stellen uns einfach einen Verbrecher gern zurückgeblieben vor"
    "Es gibt einfach den Wunsch, sich Sadisten oder Mörder oder Menschen, die sich an der Planung von Mord beteiligen, so vorzustellen, als wären sie ein bisschen dumm, zurückgeblieben, nicht richtig gebildet, aus einem bildungsfernen Elternhaus."
    Diesen Kardinalfehler, den wiederhole man heute wieder, beklagt Stangneth und verweist auf eine Studie der Weltbank über das Bildungsniveau der IS-Kämpfer. Demnach sind in Westeuropa überdurchschnittlich viele Männer, die sich dem IS anschließen höher gebildet als der Durchschnitt.
    "Und das ist etwas, was wir nicht wissen wollen. Diese Studie ist überhaupt nicht rezipiert worden. Wir reden immer noch davon, dass das angeblich Menschen aus bildungsfernen Schichten sind und dass der Islam angeblich einen Bildungsrückstand hat und ähnliches. Wir stellen uns einfach einen Verbrecher gern zurückgeblieben vor, kognitiv, in der Bildung und das ist nicht immer der Fall. Natürlich gibt es Menschen, die Verbrechen begehen, weil sie nicht genug nachdenken."
    Viele Täter machen sich im Nachhinein vor Gericht klein, sie prahlen nicht mit ihren Taten. Das war nach der NS-Herrschaft so und das ist auch bei Tätern so, die den sogenannten "Islamischen Staat" idealisieren. Wie das funktioniert? Die Täter spielen nicht die Tat herunter, sondern ihre Verantwortung.
    "Das ist nicht nur ein Problem von Richtern in Prozessen, die entscheiden müssen, ob es sowas wie mildernde Umstände gibt. Sondern das ist insgesamt unsere Haltung, die Dinge verstehen zu wollen. Da tut jemand etwas, was wir überhaupt nicht verstehen können, also er mordet. Jeder weiß: 'Du sollst nicht töten' ist die Grundlage jeder Zivilisation. Und das stört uns zunächst mal. Das stört uns wie ein Fleck auf dem Teppich. Das wollen wir weg haben. Und eine Möglichkeit es weg zu haben, ist es zu verstehen, zu integrieren in unsere Sicht der Welt. Es soll nicht mehr stören. Und wir versuchen uns dann das Böse zu erklären und merken nicht, dass wir es damit wegerklären."
    "Moral gilt für alle Menschen oder für niemanden"
    Akademische Bildung immunisiert nicht gegen Gewalt und Vernichtungsideologien. Unter den Nationalsozialisten waren die Wissenschaften durchtränkt mit der Nazi-Ideologie. Ein denkerisches Gegenmittel gibt es nach Stangneths Ansicht aber doch: Immanuel Kant. Der hatte belegt, es könne keine zwei-Klassen-Gesetze in der Philosophie geben, allgemeine Gesetze sind für alle gültig. Aber die Nazis haben eine Gruppenmoral formuliert, die andere ausschließt. Sie sahen sich als sogenannten "Arier" oder "Herrenmenschen", die entscheiden, wer dazu gehört und wer nicht. Alles andere wurde als jüdisch ausgegrenzt. Wer nicht zu dieser "Herrenrasse" zählte, so heißt der Nazi-Terminus, mit dem konnte man machen, was man wollte. Solchen Exklusions-Ideologien setzt Stangneth Kants Philosophie entgegen:
    "Moral gilt für alle Menschen oder für niemanden. Nicht nur für Angehörige einer Religion, nicht nur für Gläubige einer Religion oder für Menschen, die eine bestimmte Religion kennen. Sondern Moral gilt für alle oder für niemanden. Das ist der Anspruch, ansonsten müssen wir den moralischen Anspruch aufgeben. Denn wenn wir es nicht schaffen, vom guten und bösen Handeln zu sprechen und damit immer alle Menschen zu meinen, die von gestern, die von heute und die von morgen, verlieren wir unsere moralische Urteilskraft. Und wir verlieren vor allem die schützende Funktion, die Moral hat. Man gerät sonst in ein Innen und Außen. Und dieses Innen und Außen, Freund und Feind, der Wissende und der Unwissende führt zur - sagen wir es vorsichtig - unfairen Behandlung des anderen, bevor einem das ganz klar ist."
    Was taugt in der Welt zur Orientierung? Die Moral wäre eine Möglichkeit, sagt Stangneth. Nicht aber die Wertediskussion. Weil es viele Werte gibt, die miteinander konkurrieren, auch wenn es um die Werte des menschlichen Zusammenlebens steht, die da heißen, Familie, Wohlstand, Gleichberechtigung, Recht auf Bildung, Recht auf freie Berufswahl, Frauenrechte, Ehre und so weiter.
    "Werte sind ein Irrgarten"
    "Also ich habe 25 Werte, die man jetzt auf eine bestimmte Handlungssituation anwenden kann, ich entscheide mich jetzt für einen. Und dann kann die Moral sagen, ist die Entscheidung okay oder nicht. Die Moral sagt nicht, die anderen Entscheidungen wären nicht okay gewesen. Sondern es ist nur ein Krisenprogramm, um herauszufinden, ist das jetzt gerechtfertigt oder nicht. Und das hat mit Werten nichts zu tun. Werte sind ein Irrgarten."
    Richtig Handeln heißt aber auch, nicht zu resignieren vor großen Aufgaben. Das moralische Gesetz fordert jeden auf, "das zu tun, was man tun kann, und zu helfen, wo es geht." Warum? Weil es "jede noch so verschworene Gemeinschaft wieder in das auflöst, was wir zur Rechenschaft ziehen können und müssen, nämlich die einzelnen Menschen."