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Philosophie des lohnenden Versuchs

Die Idee der Aufklärung ist zeitlos gut. Denn zu allen Zeiten erliegt der Mensch der Versuchung, sich eben nicht seines eigenen Verstandes zu bedienen. Der Autor Manfred Geier hat sich schon vor sechs Jahren mit einer Biografie zu Immanuel Kant zu Wort gemeldet. Jetzt legt er nach und stellt einige weitere helle Köpfe vor.

Von Günter Müchler | 16.01.2012
    Letztes Jahr war Philip Blohm mit seinen "Bösen Philosophen" bei uns sehr erfolgreich. Jetzt legt Manfred Geier nach. Während Blohm uns klug und unterhaltsam in den Pariser Salon des Baron d'Holbach einführte, spannt Geier den Bogen weiter. In seinem Buch "Aufklärung. Das europäische Projekt" begegnen wir beim Gang durch die Säulenhalle der "lumières" den englischen Empiristen ebenso wie den französischen Enzyklopädisten und den großen deutschen Aufklärern. Der Autor will zeigen, dass die Aufklärung kein philosophischer Ladenhüter ist.

    Es geht uns nicht um ein Lehrbuch, sondern um dramatische Geschichten von Menschen und Büchern, die uns zum Nachdenken und Mitmachen im Geist der Aufklärung einladen.

    Dazu werden sieben Lebens- und Werkgeschichten erzählt. Die erste ist John Locke gewidmet, dem frühen Künder der Toleranz, eine weitere Voltaire. Etwas überraschend taucht Rousseau in der Galerie auf, dagegen mit vollem Recht Moses Mendelssohn und natürlich Immanuel Kant, dem Geier besonders zuneigt.

    Mit Wilhelm von Humboldt hätte man nicht unbedingt gerechnet, noch weniger mit Olympe de Gouges. Sie verdanken ihre Anwesenheit in der Säulenhalle vermutlich dem Umstand, dass sie mit ihrem Streben nach Bildungsreform beziehungsweise nach Frauenrechten auf die zeitnahe Agenda verweisen und so zum "Mitmachen" im Sinne des Autors animieren.

    Zu Vorbildern werden die Aufklärer durch den Mut, mit dem sie sich den von der Obrigkeit verhängten Denkverboten entgegenstemmten. Geier zitiert Diderot:

    Der Gute ist einer Begeisterung fähig, die der Böse nicht kennt.

    Bemerkenswert ist auch der nach innen gerichtete Mut der Aufklärer. Es ist anstrengend, den eigenen Kopf zu gebrauchen, viel anstrengender, als es sich in Gängelei und Konformismus bequem zu machen.

    Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt.

    Dieser berühmte Wahlspruch der Aufklärung, den der 60-jährige Kant seinem Publikum vorlegte, war alles andere als eine Einladung zum Leben in der Hängematte. Sie richtet sich an Menschen, die bereit sind, viel von sich zu verlangen.

    Solch ein Mensch war Moses Mendelssohn. Der kleine jüdische Junge, der am Rosenthaler Tor von Berlin Einlass begehrt mit der Begründung, er wolle lernen, der die Kraft seines Geistes nicht darauf verwendet, sich für die Unbill, die sein Volk erleidet, zu rächen, vielmehr Toleranz lehrt, der es zu höchstem Ansehen bringt, obschon er, allen Anfechtungen zum Trotz, seiner Religion treu bleibt, war ein Held.

    Mendelssohn verweigert sich der Frivolität, die andere Aufklärer zu ihrem Markenzeichen gemacht hatten. Er schlägt, wie Geier darlegt, auch das Aufputschmittel der Fortschrittsgläubigkeit aus.

    Für ihn gibt es keinen Fortschritt vom Unvollkommenen zum Vollendeten, von einer dunklen Vergangenheit ins reine Licht der Zukunft, vor allem nicht in moralischer und religiöser Hinsicht.

    Die Geschichte gibt seiner Skepsis Recht. Die französischen Jakobiner, in deren Katechismus Toleranz eine Leerstelle ist, köpfen die Aufklärer, die der Revolution den Weg freigekämpft haben. Unter dem Fallbeil endet Malherbes, der als königlicher Zensor den aufrührerischen Philosophen ein guter Stern gewesen war.

    Geköpft wird auch die mutige Olympe de Gouges. Der von Kant verkündete Ewige Frieden bleibt aus, stattdessen verschlingen sich Revolution und Konterrevolution in einem 20-jährigen Krieg. Dass erst das "System Metternich" Europa ein Zeitalter des Friedens beschert, ist eine kalte Dusche auf den Fortschrittsglauben.

    Aber, und das legt Geier überzeugend dar, all diese Rückschläge, von denen des schrecklichen 20. Jahrhunderts ganz zu schweigen, haben die Aufklärung nicht dementieren können. Sie war nie ein geschlossenes System. Immer unvollendet, immer Aufgabe, bietet die Aufklärung sich heute nach Meinung des Autors als wehrhafte Rüstung gegen die modernen Fundamentalismen an.

    Sie ist eine Philosophie des lohnenden Versuchs, des "und trotzdem". Als Erbe des europäischen Geistes kann sie identitätsstiftend für das heutige Europa sein, zu dessen Bau ihre Ideen beigetragen haben. In seinem lesenswerten Buch charakterisiert Geier die Vereinigten Staaten von Europa als Großexperiment, das Kants Gedanken zum Völkerbund schrittweise folge.

    Sind Europäer Kantianer? Jedenfalls haben sie gute Gründe, es sein zu wollen; und zentrale philosophische Grundgedanken Kants sind bereits so weit ins allgemeine Bewusstsein der meisten Europäer eingegangen, dass sie für selbstverständlich gelten und nicht mehr mit Kants Namen verbunden werden. Man kann Kantianer sein, ohne es wissen zu müssen.

    Manfred Geier: "Aufklärung. Das europäische Projekt".
    Rowohlt Verlag, 416 Seiten, 24,95 Euro. ISBN: 978-3-498-02518-2