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"Philosophie im Hirnscan "
Manuskript: Teil 1: Des Menschen freier Wille

Der angeblich freie Wille des Menschen ist eine Illusion, lautet ein Credo von Hirnforschern. Nicht der menschliche Geist, sondern das Gehirn steuere die Entscheidungen. Philosophen haben gekontert und Experimente kritisiert, auf denen die Illusionsthese ruht. Das wollten wiederum die Neurowissenschaftler nicht auf sich sitzen lassen.

Von Martin Hubert | 18.04.2014
    Eine Menschenmenge (Aufnahme mit gedrehter Kamera während der Belichtung).
    Was macht die Besonderheit des Menschen aus? (picture alliance / dpa / Frank Rumpenhorst)
    "Es bleibt einzig der Wille oder die Wahlfreiheit, die ich an mir so groß erfahre, dass ich keine Idee einer größeren zu fassen vermag, So dass sie es vorzüglich ist, durch die ich erkenne, dass ich gleichfalls ein Abbild und ein Gleichnis Gottes bin."
    (René Descartes, Philosoph der beginnendem Aufklärung, 1641)
    "Über keine Idee weiß man es so allgemein, dass sie unbestimmt, vieldeutig und der größten Missverständnisse fähig ist als über die Idee der Freiheit."
    (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Philosoph der späten Aufklärung, 1817)
    "Keiner kann anders als er ist. Wir sollten aufhören, von Freiheit zu reden."
    (Wolf Singer, Hirnforscher, 2004)
    Philosophie im Hirnscan. Teil 1: Des Menschen freier Wille. Ein Feature von Martin Hubert
    Die Idee, dass der Mensch einen freien Willen besitzt, ist so alt wie erhaben. Sie erklärt den Menschen zu einem vernunftbegabten Wesen, das sich über das gleichgültig ablaufende Naturgeschehen erheben kann, zu einer rationalen Person, die autonom abschätzt, welche Folgen sein Handeln hat. Damit wäre der Mensch verantwortlich für das, was er tut. Ein unverzichtbarer Gedanke, meint der Philosoph Michael Pauen von der Berliner Humboldt-Universität:
    "Weil Willensfreiheit, die Annahme von Willensfreiheit , die Annahme von Verantwortung eben in unserem Alltag eine so entscheidende Rolle spielt bei der Kindererziehung, aber natürlich vor allem auch in unserem Rechtssystem, aber auch in ganz normaler alltäglicher Kooperation. Und wenn wir Leute ins Gefängnis stecken würden oder gerade nicht ins Gefängnis stecken würden aufgrund einer Annahme, von der wir wissen, dass sie illusionär ist oder dass sie falsch ist, dann würden wir die gesamte Grundlage unseres Rechtssystems und unseres Systems der Zuschreibung von Verantwortung untergraben. Das können wir auf keinen Fall machen."
    Schon bei der Frage, wie stark sich der menschliche Wille über die Natur erheben kann, waren sich die alten Philosophen keineswegs einig. Die radikale Version des freien Willens vertrat etwa Immanuel Kant - die Idee eines absolut freien Willens: der Mensch bestimmt völlig ungebunden das Gesetz seines Handelns.
    Es gab aber auch die pragmatische Version - die Idee eines bedingt freien Willens. Der Mensch könne zwar frei entscheiden, aber nur unter den Bedingungen seiner Umwelt und seiner Lebensgeschichte.
    Der freie Wille - eine Illusion?
    Vor einigen Jahren begannen dann auch noch Hirnforscher sich in diese uralte Debatte einzumischen. Gerhard Roth etwa , emeritierter Neurowissenschaftler von der Universität Bremen, provozierte mit der These, dass der freie Wille insgesamt eine Illusion sei.
    "Es ist eine Illusion in dem Sinne, dass das Gefühl, ich bin das, mein Bewusstsein, denkendes Ich ist das, das hat die Tat gemacht, das ist eine Illusion. Es ist eben ein einfaches oder ein komplexes Abwägen von Motiven und das hat mit Freiheit nichts zu tun. Ein Motiv wird irgendwann doch überwiegen und dann hat eben ein Motiv gewonnen und man könnte sogar komplexe Maschinen bauen, die dann so etwas für mich tun. Solche Maschinen gibt es ja, die dann eben 20 Motivationsfaktoren gegeneinander gewichten. Das ist im Gehirn alles noch ein bisschen komplizierter, aber nicht im Prinzip."
    Das Gehirn. Ein gigantisches Labyrinth von Milliarden Nervenzellen, die elektrische Signale untereinander austauschen. Es gliedert sich in verschiedene Netzwerke. Manche Netzwerke nehmen Sinnesreize auf, andere initiieren und steuern, was der Mensch tut. Wieder andere sind für Erinnerungen oder Gefühle zuständig, für Denken, Planen, Prognostizieren. Die Netzwerke stimmen sich gegenseitig ab, unterwerfen sich Kontrollinstanzen, generieren Handlungen.
    "Ich kann ja selbst nicht frei bestimmen, welche Ideen mir kommen, während ich abwäge, sondern die kommen mir."
    Der Mensch, meint Gerhard Roth, glaube zwar, dass sein Ich es sei, das denkt. Aber die meisten Prozesse im Gehirn liefen unbewusst und automatisch ab.
    "Ich sagen Ihnen, wenn Sie vor einer schwierigen Entscheidung stehen, überlegen Sie sich, was sie tun werden. Und welche Überlegungen ihnen dann kommen, ist nachweisbar nicht ihrem Willen unterworfen, sondern dem einen kommen gute Gedanken, dem anderen kommen keine guten Gedanken. Und das machen andere Teile des Gehirns für sie, nämlich der Hippocampus, die das Gedächtnis kontrollieren. Und dem einen fallen eben viele Alternativen ein, dem anderen fallen wenig Alternativen ein und das kann man nicht steuern, sonst wäre ja jeder Mensch, den man auffordert, lass Deinen Verstand walten, gleichermaßen klug."
    Genauso sieht es auch Wolf Singer, emeritierter Neurowissenschaftler am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt am Main. Nicht der bewusste Geist arbeitet autonom, sondern das Gehirn:
    "Es ist ein komplexes, nicht lineares System und das hat die wunderbare Eigenschaft, dass es sich selbst organisieren kann, selbst initiativ sein kann, in die Zukunft hinein nicht festgelegt. Das kann morgen etwas völlig Unerwartetes machen, was niemand heute hätte voraussagen können. Und außerdem ist es da noch einmal eingebettet in eine sehr reiche Umwelt, die es ständig mit neuen Reizen versorgt, die bewirkt, dass es sich verändert und sich morgens anders verhält als heute."
    Der bewusste Wille - nichts als eine Illusion? Auf den ersten Blick widerspricht diese Auffassung dem freien Willen völlig - letztlich will ihn aber auch der Hirnforscher Gerhard Roth nicht ganz aufgeben.
    "Das ist ja der Witz der Sache. Das Gehirn erzeugt ja diese Illusion, dieses Gefühl der willentlichen Täterschaft nicht zufällig, sondern im Dienste einer sehr komplexen Handlungsplanung. Es wird eben dieser virtuelle Akteur eingerichtet, der da scheinbar handelt und plant. Und das ist auch offenbar richtig so. Das heißt, wenn es eine Illusion ist - ist vielleicht ein unglückliches Wort - dann ist es eine notwendige Illusion."
    Der freie Wille ist eine Illusion, die das menschliche Gehirn aus gutem Grund erzeugt. Das ist die Kernaussage, mit der einige Hirnforscher das traditionelle Verständnis des freien Willens herausfordern. Manche von ihnen warnen aber auch davor, allzu starke Hypothesen aus der bisherigen Hirnforschung abzuleiten. Zum Beispiel John-Dylan-Haynes, der Direktor des Berlin Center for Advanced Neuroimagin.
    "Erst jetzt verstehen wir langsam, wie Willensprozesse im Gehirn codiert sind. Und bevor wir so viel spekulieren, sollten wir vielleicht erst einmal ein bisschen anständige Forschung machen."
    "Das ist ihre Willensfreiheit.Sie besteht darin, dass der Mensch sein eigenes Werk ist, im Lichte der Erkenntnis. Ich hingegen sage: Er ist sein eigenes Werk vor aller Erkenntnis, und diese kommt bloß hinzu, es zu beleuchten. Bei jenen will er, was er erkennt, bei mir erkennt er, was er will."
    (Arthur Schopenhauer, "Die Welt als Wille und Vorstellung", 1819)
    Vor über 20 Jahren machte der amerikanischen Neurowissenschaftler Benjamin Libet eine gleichermaßen berühmte wie berüchtigte Entdeckung. Er fand im Gehirn ein sogenanntes "Bereitschaftspotenzial", eine Aktivitätswelle, die anzeigt, wann dort bestimmte Handbewegungen eingeleitet werden. Diese Hirnaktivität ging der bewussten Entscheidung von Libets Versuchspersonen fast eine halbe Sekunde voraus.
    Sollte das Gehirn tatsächlich unbewusst entschieden haben, bevor das Bewusstsein ins Spiel kam? Es gab viel Kritik an der Methode von Libet, bemängelt wurde vor allem die Alltagsferne des Experiments. Die Fragestellung hält John Dylan Haynes in Berlin jedoch auch heute noch für richtungsweisend.
    "Inwiefern glaube ich, dass ich frei bin, wenn ein Großteil der Arbeit, die in meinem Geiste passiert, unbewusst ist und von unbewussten Lernprozessen realisiert wird? Für mich stellt sich einfach die Frage nach bewusst oder unbewusst. Wie läuft die Mechanik im Gehirn ab, also welche Kaskade von einzelnen Verarbeitungsschritten können wir im Gehirn sehen und wann tritt das Bewusstsein hinzu?"
    In mehreren Experimenten versuchte Haynes diesen Etappen neuronaler Willensbildung auf die Spur zu kommen.
    "Wir können also nicht nur sehen, dass eine Entscheidung ansteht, sondern wir können sogar genau sehen, welche verschiedenen Antwortalternativen jemand wählen wird."
    Haynes kann aus Hirnmustern circa zehn Sekunden vor einer Aktion ablesen, ob Versuchspersonen eine linke oder eine rechte Taste drücken werden. Und mit fast 70-prozentiger Wahrscheinlichkeit kann er vier Sekunden vorher voraussagen, ob jemand zwei Zahlen addieren oder subtrahieren wird. Kürzlich fand Haynes auch heraus, dass seine Versuchspersonen diese unbewussten Prozesse ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr bewusst beeinflussen konnten. Wieder lieferten ihm Hirnmuster die Vorlage. Damit konnte er vorhersagen, dass Versuchspersonen in einigen Sekunden einen Knopf drücken würden. Obwohl sie dazu angehalten wurden, konnten sie die Aktion unmittelbar vor dem Ende dieser Zeitspanne nicht mehr stoppen. Es gab einen point of no return.
    "Das spricht für einen Determinismus auf einer ganz kurzen Zeitskala, diese Zeitskala ist ungefähr eine halbe Sekunde."
    Eine halbe Sekunde vor dem Ende der Vorbereitungsphase einer Aktion lässt diese sich offenbar nicht mehr beeinflussen. Nur vorher bliebe Zeit dafür, sie bewusst zu kontrollieren. Tatsächlich fand Haynes in diesem Zeitraum Hinweise darauf, dass das Bewusstsein ins Spiel kommt.
    "Wir haben dann gesehen, dass die Hirnaktivität vor der Entscheidung immer stabiler und stabiler wird. Und das heißt, dass möglicherweise damit auch erklärt wird, warum das Bewusstsein dann plötzlich auf einmal beteiligt wird an der Entscheidung. Weil sich das Gehirn quasi, man könnte sagen, auf eine Lösung des Problems einschießt."
    Das hieße: Entscheidungen werden durch unbewusste Hirnprozesse vorbereitet. Sobald deutlich wird, in welche Richtung die Entscheidung geht, erhält aber auch das Bewusstsein die Chance, einzugreifen. Die Frage ist dann: Wie stark ist der bewusste Wille dabei wiederum auf Hirnaktivität angewiesen?
    "Die Philosophen pflegen vom Willen zu reden, wie als ob er die bekannteste Sache von der Welt sei. Aber es dünkt mich immer wieder: Wollen scheint mir vor allem etwas Kompliziertes."
    (Friedrich Nietzsche, Philosoph und Aufklärungskritiker, 1886)
    Dreidimensionale, aus MRT-Daten computergenerierte Aufsicht auf das Gehirn
    Kann das Gehirn unbewusst entscheiden, bevor das Bewusstsein ins Spiel kommt? (LLNL)
    Am University College in London versucht auch Patrick Haggard zu verstehen, wie Handlungen kontrolliert werden, die bereits eingeleitet sind. Dabei geht er jedoch anders vor als John-Dylan Haynes. Haggard bezieht sich auf Situationen, die jeder aus eigener Erfahrung kennt: Man ist wütend und steht kurz davor, etwas Unvernünftiges zu tun – und tut es dann doch nicht. Haggard sucht nach den frühesten Signalen im Gehirn, die mit solchen Hemmprozessen zusammenhängen.
    "Wir baten Versuchspersonen, sich mit ihrer rechten Hand darauf vorzubereiten, einen Knopf zu drücken. Manchmal sollten sie das zügig zu Ende bringen, manchmal sollten sie die Aktion aber auch im letztmöglichen Augenblick abbrechen. Wir instruierten die Versuchspersonen dabei nicht, wann und ob sie einen linken oder rechten Knopf drücken sollten. Wir überließen ihnen sogar die Entscheidung, ob sie es überhaupt tun wollten."
    Nach Alltagsmaßstäben ziemlich viel Entscheidungsfreiheit. Dabei scannte Patrick Haggards Team die Hirnaktivität der Versuchspersonen. Er fand dabei wie Benjamin Libet ein frühes Bereitschaftspotenzial, das anzeigte, dass die Handlung im Gehirn schon vor der bewussten Entscheidung eingeleitet wurde. Und zwar sowohl, wenn die Versuchspersonen die Bewegung schnell durchführten als auch wenn sie sie abbrachen. Allerdings entdeckte Patrick Haggard in der oberen Mitte des Vorderhirns noch ein anderes frühes Signal.
    "Eine Hirnregion namens Dorsomedialer Frontaler Cortex war besonders stark aktiv, wenn die Versuchsperson eine vorbereitete Handlung wieder abbrach, viel stärker als wenn sie sie zu Ende führte. Sie gehört nicht zu den klassischen Regionen, in denen Willenshandlungen normalerweise eingeleitet werden. Sie ist auch nicht die Quelle des Bereitschaftspotenzials. Wir glauben daher, dass diese Region daran beteiligt ist zu überprüfen, ob wir eine Handlung wirklich ausführen wollen. Wir können sie dann noch stoppen, bevor es zu spät ist."
    Ein kurzes Signal aus dem Dorsomedialen Frontalen Cortex, Haggard nennt seinen Fund das "Veto-Signal". Ist das vielleicht der "freie Wille"? Die Berliner Psychologin Simone Kühne fand das Signal auch, als Versuchspersonen Ekelgefühle beim Anblick einer Spinne gezielt unterdrückten. Eine weitere Forschergruppe registrierte es bei Rauchern, die damit kämpften, vom Nikotin loszukommen. Es scheint also auch bei Willensentscheidungen eine Rolle zu spielen, die komplexer, alltagsnäher und persönlicher sind als eine Knopfdruck- oder Addieraufgabe. Patrick Haggard traut sich daher, aus diesen Ergebnissen ein Modell abzuleiten, wie bewusste Willensentscheidungen im Gehirn ablaufen könnten.
    "Es gibt eine Art Veto, aber das ist ein "Gehirn-Veto". Es handelt sich um einen Hirnprozess, nicht um den Einfluss einer übernatürlichen Seele. Wir besitzen einfach ein weiteres System innerhalb des Gehirns, das unsere Handlungen bewertet, überwacht und anpasst. Philosophisch betrachtet ist es nichts völlig anderes als das System, mit dem wir zum Beispiel die Bewegungen unseres Arms überwachen und kontrollieren, wenn wir einen Ball auffangen wollen."
    Kontrolle und Hemmung wären demnach elementar ins Gehirn eingebaut. Der Neuropsychiater und Philosoph Henrik Walter von der Charité Berlin betrachtet Patrick Haggards Suche nach dem Gehirn-Veto allerdings mit gemischten Gefühlen.
    "Es ist interessant insgesamt, aber es löst das Grundproblem natürlich überhaupt nicht, weil die Frage ist, wo kommt denn jetzt der Befehl für das Veto her und wie bewusst oder frei ist der - also sozusagen eine interessante Differenzierung, aber es ist genauso Sackgasse und Irrweg wie die gesamte andere Libetforschung."
    Patrick Haggard kennt das Argument und berücksichtigt es.
    "Es ist ein natürlich ein Trugschluss, zu glauben, man könne im Gehirn einfach die Kette von Ereignissen immer weiter zurück bis auf eine erste Ursache verfolgen, sozusagen eine unverursachte Ursache. Denn das hieße ja, es gäbe im Gehirn eine Art Geist in der Maschine, der urplötzlich etwas in Gang setzt. Ich denke, wir sollten nicht die Metapher einer Ursachenkette nehmen, um Willenshandlungen zu beschreiben, sondern die eines Kreises oder einer reflexiven Schleife. Denn die Handlungen, die wir ausführen wollen, hängen immer auch von dem ab, was wir vorher getan haben. Eine Willenshandlung wird nicht einfach durch einen Reiz ausgelöst, sondern bezieht sich immer auch auf Handlungen in ähnlichen Situationen. Und aus diesen haben wir entweder gelernt "Hat gut funktioniert!" oder "Völlige Katastrophe! Lieber nicht mehr machen!".
    Diskussionen um die Willensfreiheit drehen sich oft um die Frage, ob der bewusste menschliche Geist eine Handlung völlig selbstständig in Gang setzen kann. Für Patrick Haggard ist das nicht das entscheidende Kriterium. Es geht ihm darum, inwieweit sich der Mensch insgesamt mithilfe seines Gehirns kontrollieren, Entscheidungen beurteilen und Alternativen durchspielen kann - bewusst wie unbewusst. Beides zusammen macht eine Person und ihren Willen aus.
    "Ich sage nun: ein jedes Wesen, das nicht anders als unter der Idee der Freiheit handeln kann, ist eben darum, in praktischer Rücksicht, wirklich frei. Nun behaupte ich: dass wir jedem vernünftigen Wesen, das einen Willen hat, notwendig auch die Idee der Freiheit leihen müssen, unter der es allein handle."
    (Immanuel Kant, "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten", 1785)
    "Der Geist, der sich als frei weiß, ist zunächst überhaupt der vernünftige Wille. Aber diese Freiheit ist sich zur Gegenständlichkeit zu entwickeln bestimmt, zur rechtlichen, sittlichen und religiösen wie wissenschaftlichen Wirklichkeit."
    (Gottfried Wilhelm Friedrich Hegel, "Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften", 1817)
    "Warum denken Menschen, dass sie frei sind? Ob sie es jetzt faktisch sind oder nicht, würde ich erst einmal als sekundär betrachten, aber ein Großteil der Menschen nimmt an, dass sie frei sind, und sind sehr überzeugt davon. Wenn man ihnen das versuchte zu nehmen, fangen sie an zu kämpfen. Also offensichtlich ist das etwas, was uns bewegt, und das finde ich erst einmal interessant."
    Simone Kühn vom Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Sie hat sich Experimente ausgedacht, die klären sollen, wie sich die Idee des freien Willens auf das Gehirn auswirkt
    Das Rattern eines Magnetresonanztomgraphen im Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Versuchspersonen liegen in der Röhre und sollen entweder eine linke oder eine rechte Taste drücken. Wenn sie dies ohne Anweisung aus eigenem Impuls tun, registriert der Hirnscanner erhöhte Aktivität in der Mitte des Gehirns. Die Forscher nennen diese Region die Rostrale Cinguläre Zone. Hier trägt das Gehirn offenbar den Konflikt aus zwischen "Drücke ich rechts?" oder "Drücke ich links?". Das geschieht so lange, bis sich eine der beiden Alternativen durchsetzt. Jetzt aber fragt Simone Kühn die Versuchspersonen: Bei welchem Tastendruck haben Sie sich wirklich voll und ganz frei gefühlt?
    Das verblüffende Resultat: Während die Versuchspersonen beurteilen, ob sie sich frei fühlen, wird ein neues Hirnareal aktiv, das hinter der Rostralen Cingulären Zone liegt. Es ist umso stärker aktiv, je unfreier sie sich fühlen. Das Problem:
    "Wir haben nicht so eine gute Idee, was das Areal sonst so macht."
    Das neue Areal ist in der wissenschaftlichen Literatur bisher kaum beschrieben. In Simone Kühns Pionierstudie unterscheidet es sich aber klar von dem Areal, in dem Entscheidungen durchgespielt werden. Freie Willenshandlungen wären demnach in doppelter Weise im Gehirn verankert. Als Prozess, der anzeigt, dass man aus eigenen Motiven über etwas nachdenkt. Und als Gefühl, dabei manchmal wirklich frei und selbstbestimmt zu sein.
    Ein zweites Experiment im Berliner Max-Planck-Institut. Eine Gruppe von Versuchspersonen liest einen wissenschaftlichen Text, der leugnet, dass es den freien Willen gibt. Eine andere Gruppe liest einen Text, der überhaupt nichts mit der Willensproblematik zu tun hat. Danach sollen alle Versuchsteilnehmer zu einem selbst gewählten Zeitpunkt den Finger heben. Das Team um Simone Kühn misst dabei das Signal, das ihre Entscheidung im Gehirn unbewusst einleitet, das klassische Bereitschaftspotenzial.
    Das überraschende Ergebnis dieses Experiments: Bei Versuchspersonen, die gelesen haben, dass es keinen freien Willen gibt, ist das Bereitschaftspotenzial schwächer.
    "Das heißt: Bei so einer einfachen Manipulation von dem, was Leute gerade glauben - sie glauben uns erst einmal: "Okay, das ist ein wissenschaftlicher Text, ich mache hier eine Studie mit, die werden schon Recht haben, es gibt keinen freien Willen". Und das verändert das Bereitschaftspotenzial, was wir sehen. Das heißt, das ist für mich Evidenz dafür, dass der Glaube daran, dass wir einen freien Willen haben, unheimlich viel macht."
    Henrik Walter von der Charite Berlin findet es zwar problematisch, die Menschen nach ihrem Gefühl für den freien Willen zu fragen. Denn Gefühle können schließlich täuschen. Doch auch er interessiert sich stark für diese Art von Experimenten.
    "Da gibt es interessante Experimente, die gezeigt haben, dass Leute, deren Überzeugungen man eher in Richtung Determinismus verschiebt, eher unmoralisch handeln."
    "Daher wird es der subtilsten Philosophie ebenso unmöglich wie der gemeinsten Menschenvernunft, die Freiheit wegzuvernünfteln. Denn sie kann so wenig den Begriff der Natur als den der Freiheit aufgeben."
    (Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1785)
    Der Streit um den freien Willen wird wohl nie endgültig beigelegt, dafür ist der Begriff zu weit interpretierbar. Nach jahrelangen Debatten zeichnet sich gegenwärtig aber ein Grundkonsens zwischen Natur-und Geisteswissenschaftlern ab. Der Wille ist insofern frei, als Menschen Entscheidungen treffen können, die der Lebens-und Lerngeschichte eines Menschen entsprechen, seiner Persönlichkeit. Der Berliner Philosoph Michael Pauen:
    "Wir sind Personen, die bestimmte Überzeugungen, bestimmte Wünsche haben, wir wissen natürlich nicht immer Bescheid über die Wünsche und über die Überzeugungen, die uns in einzelnen Situationen motivieren oder vielleicht unser Handeln bestimmen. Aber im Großen und Ganzen haben wir doch eine Ahnung davon und wir haben auch eine ungefähre Ahnung davon, wie wir mit bestimmten schwierigen Situationen, in denen entweder die Entscheidungen schwierig sind oder die Durchsetzung von Entscheidungen schwierig ist, wie wir damit umgehen."
    Dass es hier oft bei Ahnungen bleibt, also Motive persönlicher Entscheidungen unbewusst oder unklar bleiben können, ist für den Berliner Philosophen Peter Bieri kein grundsätzliches Argument gegen den freien Willen.
    "Es gibt kein festes Fundament, von dem her wir uns um unseren Willen kümmern. Es ist immer so, dass wir viele Dinge wollen, viele Dinge überlegen und ein fluktuierendes, sich entwickelndes Selbstbild haben. Und die Wiederherstellung unserer Freiheit bestünde dann darin, das Verständnis unseres Willens zu vergrößern. Und das heißt dann nichts anderes, als dass zwei Dinge, nämlich freier Willen und Selbsterkenntnis viel enger miteinander verflochten sind, als wir das manchmal glauben. Also die Freiheit des Willens zu vergrößern, heißt auch, die Selbsterkenntnis zu vergrößern."
    "Meistens leben wir in Konflikten zwischen dem Selbstbild und dem Willen"
    Wer einen freien Willen haben will, muss darüber nachdenken, was ihn prägt und beeinflusst - und zwar immer wieder aufs Neue. Die Hirnforschung kann untersuchen, wann diese Fähigkeit so stark gestört ist, dass jemand nicht für sein Tun verantwortlich gemacht werden kann. Sie kann aber nicht bestreiten, dass es freie Entscheidungen in diesem Sinne gibt. Insofern sitzt jemand, der an seinen freien Willen glaubt, keiner Illusion auf. Er muss sich nur von dem Gedanken lösen, dass er sich jederzeit völlig neu erfinden kann. Henrik Walter:
    "Wenn ich "anders handeln" so definiere - 'Ich kann in sehr vergleichbaren oder ähnlichen Situationen anders handeln' - kann es das geben. Wenn ich 'begründet handeln können' so verstehe 'aufgrund bestimmter Prinzipien' - das gibt es auch. Und wenn ich sozusagen 'aus sich selbst heraus handeln können' so verstehe: das ist 'in Übereinstimmung mit seinen Prinzipien und Überzeugungen' - wenn ich alle drei Dinge so definiere, dann kann es das geben.
    "Es ist keineswegs so, dass wir den größten Teil unseres Lebens, auch wenn wir halbwegs reflektierte Menschen sind, in Willensfreiheit verbringen. Wir leben unser Leben mit sehr vielen inneren Unstimmigkeiten, Spannungen und dergleichen mehr und wir können nicht entscheiden, uns nicht so zu sehen, denn es ist einfach der Fall, dass wir so sind. Und die Erfahrung, dass etwas, was wir wollen, nahtlos zu dem Selbstbild passt, das wir gerne von uns haben, ist wirklich eine Sternstunde, kommt vor - es ist, glaube ich, die Definition von Glück!"
    Teil 2 der vierteiligen Reihe hören Sie an Christi Himmelfahrt: "Die Welt, wie sie scheint."