Dienstag, 16. April 2024

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Philosophie im Kinder- und Jugendbuch
Denkansätze für Kinder schaffen

Philosophie soll Freiräume fürs Denken eröffnen - ganz im Geist der Antike. Beim Philosophieren geht es keineswegs zuallererst um Wissen, sondern im Kant'schen Sinn um kreatives Denken und eigenständiges Urteilen. Wir stellen Highlights für junge Leser vor - wunderbar poetisch und federleicht erzählt.

Von Angela Gutzeit | 30.05.2015
    Zwei junge Leseratten zum Welttag des Buches
    Kinder sind durchaus in der Lage, weitreichende philosophische Schlüsse zu ziehen. (picture alliance / dpa / Roland Weihrauch)
    Einer berühmten Anekdote zufolge geriet der britische Philosoph Bertrand Arthur William Russel mit seinem genialen Schüler und späteren Meister Ludwig Wittgenstein in Streit über die Existenz eines Nashorns in seinem Büro. Der Österreicher, der um 1911 zum Studium nach Cambridge gekommen war, soll steif und fest behauptet haben, man könne nicht sagen, dass kein Nashorn im Zimmer sei.
    "Wittgensteins Nashorn"
    Es sei zwar im Moment nicht zu sehen, aber das sei noch lange kein absoluter Beweis gegen die Existenz des Tieres im Raum. Diese legendär gewordene Kontroverse ist Dreh- und Angelpunkt der philosophischen Erzählung "Wittgensteins Nashorn" in der Reihe "Platon & Co." des Diaphanes Verlages. Wittgensteins Denken, das sich mit Logik und Sprache beschäftigte, kreiste unter anderem um die Fragen: "Was macht einen Satz in der Wirklichkeit wahr oder falsch? Und wie erlangen wir in der Realität über das Wahre oder Falsche Gewissheit?
    Kann man die Nicht-Existenz eines Dinges beweisen? Womit sich gleich die Frage anschließt: Wie ebnet man den Weg zu Wittgensteins höchst schwieriger und komplexer Sprachphilosophie für Kinder und Jugendliche, denn die Reihe "Platon & Co." ist für diese Zielgruppe gedacht. Die Antwort lautet: Mit Witz, Intelligenz und geschickter medialer Verschränkung von Wort und Bild. Hören wir einen Ausschnitt:
    "Schluss damit, Herr Wittgenstein! Jetzt passen Sie mal auf. Sie hören bei mir Logik und Mathematik. Ihre Arbeiten schienen mir bisher von einer gewissen Reife zu zeugen. Aber jetzt vertun wir unsere Zeit mit Kindereien. In diesem Raum befindet sich kein Nashorn. Das sehen Sie doch!"
    "Herr Professor Russel, ich meine es ernst. Wie kann man behaupten, dass etwas nicht existiert, und sicher sein, dass diese Behauptung wahr ist? Ich kann sagen: "In diesem Raum befindet sich ein großer Gelehrter". Das ist absolut richtig - abgesehen von Ihrer Körpergröße, mit Verlaub. Aber wenn ich sage: "Es gibt hier kein Gespenst, keinen Schatz, kein Nashorn", dann kann ich das überhaupt nicht wissen. Ich kann es bloß nicht sehen!"
    "Sie gehen mir auf den Geist, Wittgenstein. Hören Sie auf, mitten in der Universität von Cambridge nach einem Hornvieh zu suchen. (...) Ich will Sie bis nächste Woche nicht mehr sehen und empfehle Ihnen dringend, ins Grüne zu fahren."
    Die Autorin Francoise Armengaud, die in Paris Sprachphilosophie und Ästhetik lehrte und Bilderbücher und Gedichte für Kinder schreibt, führt auf den folgenden Seiten durch Wittgensteins Leben, streut Zitate ein aus seinem Notizbuch, aus Briefen und seiner berühmten Schrift "Tractatus Logico-Philosophicus". Armengauds philosophisch-biografische Erzählung geht eine wunderbare Verbindung ein mit den farbigen Zeichnungen der englischen Illustratorin Annabelle Buxton. In den klar strukturierten, holzschnittartig und auf das Wesentliche reduzierten Bildern ist auf amüsante Weise fast immer das Nashorn dabei - als Denkfigur und Problem einer - Zitat Wittgenstein - "negativen Tatsache"!
    "Laotse oder der Weg des Drachen"
    "Laotse oder der Weg des Drachen" von Miriam Henke und Jérome Meyer-Bisch ist noch ein weiteres Highlight in dieser Reihe - wunderbar poetisch und federleicht erzählt. Miriam Henke hat chinesische Literatur studiert und ist als Übersetzerin und Autorin in Paris tätig. Der philosophische Brunnen, aus dem sie schöpft, ist das "Tao te King", das heilige Buch vom Weg und Wesen der Dinge - oder auch das Buch der Tugend genannt - des chinesischen Philosophen Laotse. Im 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung soll er gelebt haben. Aber sicher ist noch nicht einmal, dass Laotse überhaupt existiert hat. Das ihm zugeschriebene Tao te King, eine Sammlung weiser Sprüche, ist eines der bedeutendsten und meistübersetzten Bücher der Weltliteratur.
    Aus dem Geist dieses Buches lässt Miriam Henke einen Laotse entstehen, der für den Gewinn der Erkenntnis die Leere sucht und sich auf Wanderschaft begibt, wobei der Weg sein Ziel ist. Eingerahmt von wunderschönen Tuschezeichnungen des französischen Illustrators Jérome Meyer-Bisch schickt Henke ihren Laotse in die Kontroverse mit einem anderen berühmten chinesischen Philosophen, mit Konfuzius, der als Gegenbild zu Laotse, die Position desjenigen einnimmt, der den weltlichen Dingen verhaftet ist, in Laotses Denken aber schließlich die größere Weisheit erkennt.
    Damit bedient Miriam Henke eine urphilosophische Methode, denn das Philosophieren lebt unter anderem vom Denken, Sprechen und Diskutieren in Gegenbildern und Gegensatzpaaren, um Erkenntnis voranzutreiben. - Wie in allen anderen Büchern der Reihe gibt es in "Laotse und der Weg des Drachen" kein Vor- oder Nachwort, keine Erklärungen, kein Glossar. Die Anregung zum Denken soll aus der Erzählung und den Bildern selbst entstehen und nicht durch Wissen gelenkt werden. Auch wenn es sicherlich eines Erwachsenen bedarf, um diese und die anderen "Platon & Co."-Bücher einem Kind nahezubringen, so stimmt Miriam Henke mit diesem Verlagskonzept doch vollkommen überein.
    "Also, ich habe mir gedacht, dass es eben ganz interessant sein kann für die Kinder, die das jetzt lesen, dass man eben nicht gleich von vorn herein so etwas präsentiert. So in der Art ‚Wir erzählen euch jetzt was über alte Philosophen'! Das ist ja im Grunde so wie Schulunterricht. Dass man da jetzt Informationen hat und die könnt ihr jetzt lernen. Sondern dass es jetzt nur Denkansätze gibt und die dann selber, wenn es den Leser interessiert, fortgeführt werden können."
    Alle Philosophen-Porträts in der Reihe "Platon & Co." sind zuerst in einem französischen Verlag erschienen und auch die Autoren und Illustratoren sind fast alle Franzosen. Die Bücher haben nicht mehr als 64 Seiten und sind hervorragend gestaltet. Mit Fug und Recht lässt sich sagen: Sie gehören wohl zum Besten, was es derzeit in diesem Genre der philosophischen Erzählung für Kinder und Jugendliche auf dem Markt gibt.
    "Sokrates-Club"
    Philosophie soll Freiräume für das Denken eröffnen - ganz im antiken Geist. Das meint auch der Münchner Philosoph Julian Nida-Rümelin, der wie Miriam Henke der Ansicht ist, dass es beim Philosophieren keineswegs zuallererst um Wissen gehe, sondern ganz im Kant'schen Sinne um die sokratisch-dialogische Methode des kreativen Denkens und des eigenständigen Urteilens.
    "Die Philosophie ist ja von Anbeginn, also, wenn man mal unseren Kulturkreis nimmt, ist das die griechische Antike - das ist immerhin 2500 Jahre her oder länger, Vorsokratik - war immer auch eine Form, sich aus dem Getriebe herauszunehmen. Also, wir unterschätzen, glaube ich, in den antiken, auch mittelalterlichen philosophischen Texten das Kontemplative, das Meditative, ja? Das Spirituelle auch, die Lebenskunstdimension. Praktisch die gesamte antike Philosophie, wie wir sie heute kennen, versteht sich nicht als irgendwie selbstgenügsame Wissenschaft, die bestimmte wissenschaftliche Fragen erörtert, sondern eher als eine Reflexion über Fragen wie „Wie soll ich leben?", "Was macht Glückseligkeit?" - so wird das meistens übersetzt - eudemonia aus?"
    Nida-Rümelin hatte zusammen mit seiner Frau Nathalie Weidenfeld und seinen zwei Töchtern einen privaten "Sokrates-Club" gegründet und weitere junge Menschen zum Philosophieren hinzu gebeten. "Sokrates-Club", weil Platon Sokrates die Überzeugung zugeschrieben habe, "dass er wie eine Hebamme (...) schon Angelegtes ans Licht holt, Wissen, das im Grunde schon vorhanden ist, bewusst macht", wie es im Vorwort des gleichnamigen Buches heißt.
    Das Buch gibt philosophische Gespräche wieder, die Nida-Rümelin und Weidenfeld mit Schülern und Schülerinnen unter anderem in verschiedenen Grundschulen geführt haben. Dazwischen finden sich erklärende Texte zu den philosophischen Gedanken, die den jeweiligen Gesprächen zugrunde liegen, zum Beispiel "Freiheit und Verantwortung", "Gerechtigkeit", "Moral im Umgang mit Tieren", "Identität", "Glück". Das Buch "Der Sokrates-Club" soll Eltern und Lehrer dazu ermuntern, mit Kindern zu philosophieren. Es zeigt Methoden der philosophischen Gesprächskunst auf und macht deutlich, dass viele Kinder durchaus in der Lage sind, weitreichende philosophische Schlüsse zu ziehen.
    Ein kleiner Ausschnitt aus einem Gespräch über Gerechtigkeit, das in einer Münchner Grundschule stattfand:
    "Wisst ihr eigentlich, was Sklaven sind?"
    "Ja, das waren die, die immer ausgepeitscht wurden und diese schweren Steine schleppen mussten für die Pharaos mit ihren Pyramiden", sagte ein Junge mit schulterlangen blonden Haaren.
    "Sklaven gab es schon in der Antike. Und dann auch noch im 19. Jahrhundert in Amerika, das ist gar nicht so lange her. Sie wurden auf dem Markt verkauft und gehörten dann jemanden. Ist das gerecht?"
    Die Kinder sind sich einig, dass das überhaupt nicht gerecht ist.
    "Aber warum eigentlich? Jemand hat doch für sie bezahlt, also kann man doch sagen, dass sie einem gehören, oder?"
    "Nein", sagt das Mädchen mit den großen blauen Augen. "Ein Mensch kann doch nicht gekauft werden wie ein Stück Brokkoli!"
    "Und warum nicht?"
    "Weil er nur sich selber gehört!" antwortet das Mädchen.
    "Die großen Fragen. Philosophie für Kinder"
    Ganz anders, aber auch durchaus empfehlenswert ist das Sachbuch "Die großen Fragen. Philosophie für Kinder" der Münsteraner Theologie-Professorin Julia Knop. Sehr anschaulich, abwechslungsreich und in einfacher Sprache spricht es in den einzelnen Kapiteln das lesende Kind direkt an, zum Beispiel zur Entstehung des Kosmos und der Welt, zu Ethik, Moral, zum Wesen des Menschen, zu seinen guten und schlechten Seiten.
    "Bestimmt kennst du einen Schüler in deiner Klasse, der schüchtern ist und nichts hat, mit dem er angeben könnte. Er bleibt ein Außenseiter. (...) Streit bei Kindern und Krieg unter Erwachsenen gehören wohl zum Leben dazu.
    Aber stimmt das? Gehört das Böse zum Leben dazu? Ist es gar nicht in Wirklichkeit böse, sondern nur in unseren Gedanken? Viele denken so."
    Was denkst du? Kannst du dich mit den Katastrophen abfinden, von denen der Nachrichtensprecher berichtet? Was davon ist böse, was traurig, was schade? Was könnte man ändern?
    Glaube, Gott und christliche Ethik spielen in diesem Buch eine Rolle, ohne jedoch dogmatisch den Blickwinkel zu verengen. Auf angenehme Weise wird zum Beispiel vermittelt, dass sich das menschliche Denken eben nicht nur mit der greifbaren Wirklichkeit beschäftigt, sondern auch mit metaphysischen Fragen, die das Woher? Und Wohin? Berühren. Ein Kind muss nicht wissen, dass diese Fragen zur Transzendental- und Religionsphilosophie gehören. Aber mithilfe von anschaulichen Beispielen, Zeichnungen, Gedichten und leeren Spalten zum Aufschreiben der eigenen Gedanken wird es in Julia Knops Buch "Die großen Fragen" behutsam auf diesen Weg geführt.
    Philosophieren mit Kindern bzw. Kinderphilosophie hat übrigens schon eine längere Tradition. In den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts entstand in den USA eine regelrechte Bewegung, begründet von Wissenschaftlern, Pädagogen, Psychologen. In Deutschland ist Kinderphilosophie seit etwa den 80er Jahren ein feststehender Begriff. Die emotionalen und kognitiven Möglichkeiten und Fähigkeiten von Kindern sind nicht zuletzt dadurch auch bei Eltern und Lehrern zunehmend in den Fokus gerückt - beflügelt von der Ansicht nicht weniger Wissenschaftler, dass es einen ursprünglichen Zusammenhang gebe zwischen philosophischen Fragen und kindlichem Denken. Der Philosoph Julian Nida-Rümelin stimmt dem mit Einschränkung zu:
    "Das ist umstritten. Also, es gibt durchaus nach wie vor, wenn sie auch leiser geworden sind, Stimmen, die sagen, also genuine Philosophie ist erst ab dem 12. oder 13. Lebensalter möglich, weil das logische Denken zuvor noch nicht hinreichend entwickelt ist. (...) Und dazu ist in meinen Augen zweierlei zu sagen: Wenn man natürlich Philosophie in erster Linie als (...) Wissenschaft versteht, ist das zutreffend. (...) Aber Philosophie ist eben nicht nur Wissenschaft (..), sondern Philosophie ist eine Praxis, die in unserer Lebenswelt gewissermaßen eingebettet ist."
    So betrachtet, gehen Kinder beim Philosophieren immer von ihrer konkreten Lebenssituation aus. Und dort muss Philosophie auch ansetzen. Diese Erkenntnis, aber auch die weitverbreitete, etwas zweifelhafte Ansicht, Kinder müssten für eine immer komplexer, komplizierter und medial vernetzter werdende Welt fit gemacht werden, hat eine reiche philosophische Kinder- und Jugendbuchproduktion befördert.
    "Warum gibt es alles und nicht nichts"
    Leider, so muss man wohl sagen, wiederholen sich dabei sowohl im erzählenden Sachbuch wie im philosophischen Roman bestimmte Muster. Es hängt deshalb ganz entscheidend vom Einfallsreichtum und den erzählerischen Qualitäten des jeweiligen Buches ab, ob diese Muster aufdringlich und belehrend wirken oder sich schlüssig in ein überzeugendes Konzept fügen. Das am häufigsten wiederkehrende Muster ist dieses: Ein Erwachsener - das ist zumeist ein Philosoph, ein Lehrer oder ein Vater - unterhält sich mit seinen Schülern und Schülerinnen bzw. seinem Nachwuchs und lenkt die Aufmerksamkeit auf philosophische Fragen. Um die Sache interessanter zu machen, werden die Gespräche in der Regel in eine Rahmenhandlung eingebettet - wie im Buch "Warum gibt es alles und nicht nichts" des Philosophen Richard David Precht. In diesem Sachbuch begibt sich Precht mit seinem Sohn Oskar auf eine Entdeckungstour durch Berlin.
    "Sag mal, Oskar, wenn dir jetzt hinter der nächsten Hecke ein Junge begegnen würde, der ganz genauso aussieht wie du, wie würdest du reagieren?
    Ich würde ihn fragen, wie er heißt.
    Und er sagt: Oskar Jonathan Precht. Wie fändest du das? Wäre das eine schöne Vorstellung?
    Eine Gruselige!
    Und warum?
    Weil das ein komisches und gar nicht gutes Gefühl ist, genauso zu sein wie ein anderer.
    Ja, ich glaube Oskar, das wäre es für mich auch. Wir haben ja gestern im Technikmuseum über das "Ich" geredet. Da ging es vor allem darum, ob wir uns im Spiegel erkennen und warum das so ist. Aber ich glaube, zu unserem "Ich" gehört noch viel mehr, als dass wir uns selbst im Spiegel erkennen. Gehört nicht auch dazu, dass wir uns als etwas ganz Besonderes empfinden - etwas Einzigartiges...?"
    Würde diese dialogische Struktur das Buch dominieren, es würde schnell langweilig werden, zumal ja der Vater und Philosoph immer die Denkrichtung vorgibt. Im Vordergrund stehen aber spannende Fallbeispiele und Experimente aus der Wissenschaftsgeschichte, die mit philosophischen Fragen verknüpft werden. Dazwischen witzige Gedankenspiele, die sich mit den Orten ihrer Besichtigungstour durch Berlin verbinden. So besuchen die beiden Prechts zum Beispiel die Berliner Charité. Im medizinhistorischen Museum der altehrwürdigen Klinik gibt es eine Menge gruseliger Dinge zu sehen, wie zum Beispiel missgebildete Föten in Formalin eingelegt.
    Aber da sie sich ja in einem Krankenhaus befinden, geht der Gedanke irgendwann hin zur kranken Tante Berta, einer "schrecklichen alten Schachtel", so ist im Buch zu lesen, die aber viel Geld besitzt. Nun fragt der große Precht den Kleinen, wie er das finden würde, wenn man beim Ableben der Tante mit einem schmerzlosen Medikament etwas nachhelfen würde. Dann könnte man das ererbte Geld der Station für krebskranke Kinder stiften. Wäre dieses Nachhelfen beim Tod der Tante durch die nachfolgende gute Tat gerechtfertigt? Dem Kind schwirrt der Kopf. Eben hatte er noch der Beseitigung der Tante zugestimmt, aber dann kommen ihm doch Bedenken. Und so mündet dieses Kapitel in die philosophische Einsicht:
    "Den Wert, den das Leben eines Menschen hat, kann nicht danach bemessen werden, wie nützlich dieser Mensch ist. Denn jeder Mensch hat das uneingeschränkte Recht auf Leben."
    Richard David Precht kann einfach gut schreiben und auf intelligente Weise Wissen mit Unterhaltung verbinden.
    "Sofies Welt"
    Abgesehen von dieser notwendigen Qualität erweisen sich Sachbuch wie auch die kurze Form der philosophischen Erzählung als besonders gut geeignet für die Vermittlung philosophischer Fragen und Gedanken. Nicht zu vergessen das Bilderbuch. Auch der mit dem Bilderbuch verwandte Zeichentrickfilm könnte ein gutes Medium sein. Die schwierigste Variante ist dagegen, philosophische Wissensvermittlung in die Form des Romans zu kleiden.
    Den Anstoß zu diesem Genre hat Anfang der 90er Jahre sicherlich der norwegische Schriftsteller und Pädagoge Jostein Gaarder mit seinem Bestseller "Sofies Welt" gegeben. In diesem Roman erhält die 15jährige Sofie Amundsen anonyme Briefe, hinter denen sich ein älterer Mann namens Alberto Knox verbirgt. Mit diesen Briefen will er sie peu à peu mit wichtigen philosophischen Epochen und Denkern vertraut machen. Die Handlung schlägt zwar noch ein paar überraschende und fantastische Volten. Aber der Eindruck ist letztendlich nicht zu kaschieren, dass es sich hier um einen Philosophiekurs handelt, den ein Lehrer seiner Schülerin erteilt. So hat das auch die Philosophin Gabriele Münnix gelesen, die an Universitäten in Innsbruck und Münster lehrte, und viel Erfahrung mit philosophischer Kinder- und Jugenddidaktik hat.
    "Das Buch hat einen tollen Anfang und einen tollen Schluss. Aber ich kenne keinen im jugendlichen Alter, der das zu Ende gelesen hätte. Der Leitfaden ist Philosophiegeschichte und das auch noch chronologisch(..) Wenn es dann vom Mittelalter in die Renaissance geht usw. Und das finde ich eher langweilig. Es schwankt so zwischen Belehrung und Unterhaltung. Das wollte ich anders machen."
    "Anderwelten. Eine fabelhafte Einführung ins Philosophieren"
    Das ist Gabriele Münnix auch zum Teil gelungen, als sie vor 14 Jahren ihren Roman "Anderwelten. Eine fabelhafte Einführung ins Philosophieren" veröffentlichte, versehen mit einem anerkennenden Vorwort des Philosophen Vittorio Hösle. In diesem philosophischen Roman besuchen die Geschwister Phil und Feli, er 14, sie 10 Jahre alt, die Großeltern auf dem Lande und verbringen dort die Ferien. Auf dem Dachboden entdecken die beiden ein altes Buch mit faszinierenden Tierfabeln, das die beiden Kinder zunehmend beschäftigt und zum Diskutieren anregt über Fragen, die sie immer mehr auf philosophisches Terrain führt.
    Das geheimnisvolle Buch fordert sie auf, ihre Fragen und Antworten auf den leeren Seiten zwischen den Fabeln niederzuschreiben. In der Rahmenhandlung spielt zunächst die Gedankenwelt des Großvaters, eines pensionierten Philosophielehrers, eine wichtige Rolle. Zum Schluss aber tritt überraschenderweise die eher hausfrauliche Großmutter als Urheberin des geheimnisvollen Buches hervor. Das ist nicht besonders schlüssig und eine Schwäche in der Figurenentwicklung. Aber die Idee, damit den ständig vor sich hin philosophierenden Großvater als Autorität zu demontieren, ist ein witziger Schachzug. Das Beste an diesem Buch aber sind die in die Rahmenhandlung eingebetteten philosophischen Tierfabeln von Gabriele Münnix. Diese geistreichen Geschichten verarbeiten komplexen philosophischen Stoff auf kleinstem Raum.
    Wenig davon hat der philosophische Kinderroman "Philosophie ist wie Kitzeln im Kopf" der Autorin Gudrun Mebs und des Astrophysikers Harald Lesch. Die Ich-Erzählerin Ida wünscht sich zum Geburtstag einen Philosophie-Professor, der mit ihr und ihren Freunden zum Zelten fährt. Also Campingurlaub als Philosophiekurs! Was hier als lockerer Denk-Spaß mit Kant & Co. rund ums Lagerfeuer inszeniert wird, wirkt sehr bemüht und überkonstruiert.
    Weit Interessanter ist dagegen ein ganz neues Buch, der Roman "Herrn Swart brummt der Schädel oder wie das Denken im Kopf die Richtung wechseln kann" der niederländischen Autorin Janny van der Molen.
    "Herr Swart sitzt inzwischen auf einem der leeren Tische.
    "Und du, wie heißt du?", fragt er das einzige Mädchen mit Kopftuch.
    "Loubna."
    "Pack auch deine Schreibsachen weg, Loubna. Ihr braucht das vorläufig alles nicht. In dieser Stunde braucht ihr nur eins: euren Kopf. Was ich für dieses Jahr vorhabe, ist, zusammen mit euch nachzudenken. Ich will euch von Menschen erzählen, die nachgedacht haben. (...)
    "Das kann ja heiter werden", flüstert Bram grinsend zu Sven. Der nickt.
    (...)
    "Gelaber", mault Sanne. „Könnte schon jetzt einschlafen", sagt sie leise zu ihrer Nachbarin Loubna.
    "Wieso Gelaber?", fragt Herr Swart.
    "Weil man nach Antworten sucht, die es vielleicht gar nicht gibt."
    "Und das heißt?"
    "Na, dass es schade um die Zeit ist."
    Der neue Philosophielehrer schafft es aber, die Jugendlichen seiner Klasse nicht nur für sich und seine unkonventionelle Unterrichtsmethode einzunehmen. Er setzt vor allen Dingen bei den Schülern mit seiner herausfordernden und offenen Diskussionsweise ein Nachdenken in Gang, das Auswirkungen auf ihr Leben hat. Das zeigt sich in den Zwischenkapiteln, die Einblick geben in die Probleme, die die Jugendlichen zu Hause mit ihren Eltern, mit ihrem sozialen Status, mit ihren Gefühlen haben. Nach und nach ändert sich ihre Sichtweise auf ihr Leben, und beeinflusst wird dadurch schließlich auch ihr Handeln. Auch wenn wir hier wieder das Muster haben, dass eine männliche Autoritätsperson philosophisches Wissen an Heranwachsende vermittelt, so hat Janny van der Molen dafür doch eine überzeugende Form gefunden. Schulunterricht und Lebenswelt der Jugendlichen greifen ineinander und treiben die Handlung voran. Was hier demonstriert wird, ist im besten Sinne praktische Philosophie.
    Die Frage, die sich nach der Sichtung all dieser Bücher stellt, ist allerdings, wer sie wirklich liest. Zu vermuten ist, dass Kinder und Jugendliche selten von selbst danach greifen und sich in sie vertiefen, sondern dass sie bei diesen Büchern Anregung und Anleitung brauchen, wie schon eingangs erwähnt bei den schönen "Platon & Co."-Büchern. Stehen dafür nicht die Eltern zur Verfügung, so sind unbedingt die Schulen gefragt. Nach Auskunft der Philosophin Gabriele Münnix hat sich in dieser Hinsicht insbesondere in Nordrhein-Westfalen in den vergangenen 15 Jahren viel getan. Sie selbst war in diesem Bundesland an der Erarbeitung eines Philosophie-Curriculums beteiligt.
    "Also, wir haben in NRW, dafür kann ich im Moment sprechen, ab der 5. Klasse in allen Schulformen Philosophie, praktische Philosophie, als Unterrichtsfach. Nach einer Zeit eines Schulversuchs hat ein Institut für Unterrichtsevaluation Koblenz/Landau diesen Schulversuch evaluiert und hat gerade das hervorgehoben, dass die Kinder deshalb so begeistert sind, weil man ihnen den Freiraum lässt und weil es kein übliches Schulfach ist, in dem am Schluss irgendwelches Wissen abgeprüft werden muss. Es geht mehr um Kompetenzen."
    "Als die Vögel vergaßen, Vögel zu sein"
    Das ist allerdings bei weitem nicht in jedem Bundesland der Fall. Der Philosoph Julian Nida-Rümelin zum Beispiel beklagte in seiner Eigenschaft als Präsident der Deutschen Gesellschaft für Philosophie in einem Papier zum Philosophie- und Ethikunterricht, im Gegensatz zu Frankreich beispielsweise habe in weiten Teilen Deutschlands das Fach Philosophie im Fächerkanon keinen gleichwertigen Status. Dabei sei doch Deutschland das Herkunftsland großer Philosophen wie Kant, Fichte, Marx, Heidegger, Hannah Arendt. Außerdem beklagt der Philosoph die oftmals fehlende philosophische Qualifikation der Lehrer und Lehrerinnen.
    Da wo ein guter Philosophie-Unterricht stattfindet, das bestätigte unter anderem Gabriele Münnix, finden auch philosophische Sachbücher und Romane Verwendung. Auch für die Jüngsten gibt es auf diesem Gebiet sehr schönes Anschauungsmaterial, zum Beispiel das gerade erschienene Bilderbuch "Als die Vögel vergaßen, Vögel zu sein" der Spanier Maria Julia Díaz Garrido und David Daniel Álvarez Hernández. Eine weise Parabel. Und sie beginnt so:
    "Eines Tages wendeten die Vögel ihren Blick
    von den Zweigen und Blättern ab
    und stellten sich ein anderes Leben vor:
    So begann ein neues Zeitalter".
    Die Schwarz/Weiß-Zeichnungen zeigen Vögel, die sich ihrer Natur entfremden. Sie werden immer mehr, wollen über das Leben anderer Lebewesen herrschen und säen Unfrieden, wo vorher Harmonie war. Erzählt wird in wenigen Worten und großformatigen Bildern von der Hybris des Menschen - gekleidet in eine Tiergeschichte. Es geht um die Frage nach dem guten, dem richtigen, dem sinnvollen, dem gerechten Leben. Ein urphilosophisches Thema.
    Literatur:
    Francoise Armengaud/Annabelle Buxton: Wittgensteins Nashorn. In der Reihe „Platon & Co." Des Diaphanes Verlags 2015. 64 S., 14.95 Euro.
    Miriam Henke/Jérome Meyer-Bisch: Laotse oder der Weg des Drachen. In der Reihe „Platon & Co." Im Diaphanes Verlag 2014. 64 S., 14.95 Euro.
    Julian Nida-Rümelin/Nathalie Weidenfeld: Der Sokrates-Club. Philosophische Gespräche mit Kindern. Knaus Verlag 2012. 224 S., 19.99 Euro.
    Julia Knop: Die großen Fragen. Philosophie für Kinder. Herder Verlag 2013.Limitierte Sonderausgabe. 189 S., 14.99 Euro.
    Richard David Precht: Warum gibt es alles und nicht nichts? Ein Ausflug in die Philosophie. Goldmann Verlag 2011. 208 S., 16.99 Euro.
    Jostein Gaarder: Sofies Welt. Roman über die Geschichte der Philosophie. Dtv Reihe Hanser 14. Auflage 2014. 623 S., 9.95 Euro.
    Gabriele Münnix: Anderwelten. Eine fabelhafte Einführung ins Philosophieren. Dtv 2009. Tb, 304 S.
    Gudrun Mebs/Harald Lesch: Philosophie ist wie Kitzeln im Kopf. cbj in der Verlagsgruppe Random House 2013. 191 S., 12.99 Euro.
    Janny van der Molen: Herrn Swart brummt der Schädel oder wie das Denken im Kopf die Richtung wechseln kann. Gabriel-Verlag 2015. 240 S., 16.99 Euro.
    María Julia Díaz Garrido/ David Daniel Álvarez Hernández: Als die Vögel vergaßen, Vögel zu sein. aracari verlag 2015. 32 S., 14.90 Euro.
    Weitere empfehlenswerte Bilderbuch-Titel:
    Oscar Brennifier/Jacques Després. Was, wenn es nur so aussieht, als wäre ich da? (2011) und: Was, wenn ich nicht der wäre, der ich bin? (2012). Beide Bücher Gabriel-Verlag. 64 S., 14.90 Euro.
    Stefan Karch/Dorothee Schwab: Als ich noch nicht geboren war. Luftschach Verlag 2015. 32 S., 21.30 Euro.
    Christina Röckl: Und dann platzt der Kopf. Kunstanstifter Verlag 2014. 64 S., 26.50 Euro.
    Mac Barnett/ Jon Klassen: Sam & Dave graben ein Loch. NordSüd Verlag 2015. 40 S., 14.99 Euro.