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Philosophieren aus der Vogelperspektive

Mit "Große Fragen" legt der US-Autor Anders Nilsen einen der extravagantesten Comics der letzten Monate vor. Auf 600 Seiten zeichnet er die philosophischen Dispute einer Finkenschar, deren Leben durch einen Bombenabsturz durcheinander gebracht wurde.

Von Christian Gasser | 17.01.2013
    Die Szenerie: ein Niemandsland, bewohnt von einer fiesen Krähenbande, einem geistig behinderten Jungen, einem abgestürzten Militärpiloten und vor allem einer Schar philosophierender Vögel. Diese Vögel beschäftigen sich, so der Autor Anders Nilsen, mit Themen, die sie unmöglich verstehen können.

    Eines Tages fällt eine Bombe aus einem riesigen Blechvogel in die vorgebliche Idylle. Die Finken halten sie für ein Ei, das es zu behüten und auszubrüten gilt.

    Die plötzliche Explosion der Bombe reißt viele Vögel in den Tod – und das wiederum stürzt die Überlebenden in eine existenzielle Krise.

    Und sie stellen sich immer mehr Fragen: nach Schicksal und Freundschaft, nach dem Sinn von Leben und Tod, nach der Beschaffenheit des Kosmos – und all die anderen Fragen, die man sich als denkendes Wesen so stellt.

    Diese Finken sind natürlich eine Parabel auf unsere eigene, beschränkte Sinnsuche. Auch wir seien bescheidene Wesen, sagt Nilsen:

    "Wir glauben, wir hätten Antworten auf alle großen Fragen und schreiben kluge Bücher darüber – aber letztlich fehlt uns die Fähigkeit, die Welt, in der wir leben, zu verstehen."

    Diese Parabel könnte platt und vorhersehbar sein, doch Anders Nilsen spielt gekonnt mit der Fallhöhe zwischen den großen Fragen der Vögel und ihrer großen Einfalt.

    Das verleiht der Geschichte eine düster grundierte ironische Atmosphäre mit einer starken Schlagseite ins Absurde:
    Manchmal, so Nilsen, mute die Welt ganz einfach sehr absurd an.

    Fünfzehn Jahre lang arbeitete der heute 38jährige Anders Nilsen an "Große Fragen". Der lange Entstehungsprozess ist sichtbar: Die ersten Seiten sind rudimentär; Strichvögel in einer mit wenigen Linien angedeuteten Umgebung.

    Von Seite zu Seite entwickeln sich Nilsens filigrane Schwarzweiß-Zeichnungen; die Vögel bleiben zwar einfach, doch die Hintergründe, die anderen Tiere und die Menschen werden immer realistischer.

    Inhaltlich aber bleibt "Große Fragen" erstaunlich konsistent: Anders Nilsen verliert seine Fragestellung nie aus dem Blick.

    Die Großen Fragen kleiner Wesen, auf die diese nur kleine Antworten haben, Plattitüden, Klischees.

    Er sei, sagt Nilsen, in einer Familie aufgewachsen, die sowohl von christlichem als auch von marxistischem Gedankengut geprägt war: Sein Großvater und ein Onkel waren evangelische Pastoren, sein Vater und sein Stiefvater waren eine Zeit lang doktrinäre Marxisten. Als Heranwachsender sei er zwischen diesen zwei unterschiedlichen Weltbildern aufgewachsen.

    Kein Wunder, dass sich Nilsen in seinen Comics immer wieder mit Ideologien, Religionen und der antiken Mythologie auseinandersetzt. Ihn interessiere, wie sich die Menschen Gott oder die Beschaffenheit des Universums vorstellen.

    Wer jedoch die im Buchtitel implizierten "Großen Antworten" erhofft, wird enttäuscht. Anders Nilsen interessieren allein die Fragen – und was die Vögel in ihrer Beschränktheit daraus machen.

    "Große Fragen" ist keine einfache Lektüre – und vermutlich sind 600 Seiten für die existenziellen Dispute einer Vogelschar zu viel. Ein paar Kürzungen und der Verzicht auf einige Nebenschauplätze hätten dem Werk mehr Stringenz verliehen.

    Wer sich dennoch auf Anders Nilsens mehrfach gebrochene und gespiegelte und ins Surreale oder gar Fantastische abdriftende Reflektion philosophischer Grundfragen einlässt, wird reich belohnt. Mit Anregungen, aber nicht mit Antworten.

    Nach 600 Seiten ist dieser ungewöhnliche Comic zu Ende, ohne Auf- oder Erlösung, einfach so. Das Leben geht weiter, die Fragen bleiben.


    Das Buch:

    Anders Nilsen: Große Fragen.
    Atrium Verlag, Zürich 2012
    604 Seiten, 39,95 Euro