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Philosophin Susan Neiman
"Es wird schwer sein, Widerstand zu formulieren"

"Es scheint heutzutage peinlich zu behaupten, dass es andere Werte gibt, solche, die nicht Markt-Werte sind", sagte Susan Neiman im Dlf. Die Philosophin, die einst gegen den Vietnamkrieg protestierte und heute Direktorin am Einstein Forum in Potsdam ist, plädiert in ihrem neuen Essay für den Widerstand der Vernunft.

Susan Neiman im Corsogespräch mit Bernd Lechler | 16.06.2017
    Susan Neiman bei der Vorlesung "Ü 18 Die Kunst des Alterns" am 27.05.2015 in Köln auf dem internationalem Festival der Philosophie - phil.COLOGNE.
    Susan Neiman bei der Vorlesung "Ü 18 Die Kunst des Alterns" am 27.05.2015 in Köln auf dem internationalem Festival der Philosophie - phil.COLOGNE. (imago / Lumma Foto)
    Bernd Lechler: Das zuletzt gewählte "Wort des Jahres" 2016, ist nach wie vor aktuell, nämlich "postfaktisch": Es gehe in der öffentlichen Diskussion immer mehr um Emotionen statt Fakten, erklärte die Gesellschaft für deutsche Sprache ihre Wahl. Und immer Menschen akzeptierten auch offensichtliche Lügen, wenn's ins Weltbild passt - und so haben sich der Brexit wie auch Donald Trump durchgesetzt. Was macht das mit uns, wenn Lügen salonfähig werden? Was tun wir dagegen? Die Philosophin Susan Neiman, Direktorin am Einstein Forum in Potsdam, sucht Antworten in ihrem Buch "Widerstand der Vernunft - Ein Manifest in postfaktischen Zeiten". Beim Corsogespräch in ihrer Küche in Kreuzberg habe ich überlegt, dass Politiker und Demagogen sowieso immer schon auch mal Lügen verbreitet haben. Warum sind wir jetzt offenbar endgültig "postfaktisch"?
    Susan Neiman: Es sind zwei Faktoren, glaube ich, die wirklich wichtig sind: einmal, dass die Fülle der Lüge quantitativ einfach größer ist als irgendein vernünftiger Mensch, auch wenn er sein ganzes Leben damit verbringen würde, übersehen kann. Und ein zweiter Faktor: Wir leben in einer Zeit seit 1989, wo überall auf der Welt die einzig wirklichen Werte Machtwerte sind. Ich glaube, das haben wir noch nicht wirklich kapiert. Dass das auch nicht nur unsere Wirtschaft beeinflusst, unser soziales Leben, sondern auch unser Denken beeinflusst. Es scheint heutzutage peinlich zu behaupten, dass es Werte gibt, die nicht Markt-Werte sind.
    "Wir haben oft gesehen, wie die Werte missbraucht wurden"
    Lechler: Sie schreiben, dass Politik entweder von Werten oder von Ängsten getrieben wird. Derzeit dominieren die Ängste. Wie sind uns die Werte abhanden gekommen?
    Neiman: Naja, das ist eine gute und schwierige Frage. Wir haben oft gesehen, wie die Werte missbraucht wurden. Der Irakkrieg ist ein blendendes Beispiel dafür. Es wurde von Demokratie-Verteilung gesprochen, es ging um Macht. Das konnte jedes Kind wissen. Ein solcher zynischer Missbrauch von Werten führt natürlich dazu, dass man Wertdiskussionen gar nicht traut.
    Lechler: Das führt dazu, wie Sie auch schreiben, dass man schon fast belächelt wird, wenn man mit irgendwelchen Idealen daherkommt, dass der Sozialismus keine Option mehr ist seit 1989, sondern es gilt nur der Kapitalismus und die Marktwirtschaft als einziger Weg. Und es ist ja auch so, dass jetzt zum Beispiel, wenn Martin Schulz über seine Strategie nachdenkt, dass man auch sagt: Gerechtigkeit wird nicht funktionieren als Wahlkampf. Man könnte jetzt sagen, okay: Corbyn oder …
    Neiman: Corbyn und Macron. Oder Bernie Sanders ist der beliebteste Politiker in den USA. Und der nennt sich Sozialist.
    Lechler: Macron nun ja eher nicht.
    Neiman: Ja, Macron nicht. Aber er kommt aus der sozialistischen Ecke, ist eher zur Mitte geworden. Aber er hat sich auch was getraut. Und ich meine, wenn man diese letzten beiden Wahlen in Europa sieht angesichts des Spektakels von Trump, das sind beides auch Anti-Trump-Wahlen. Was mich freut, dass man dann denkt: Warte mal, wir haben doch Werte.
    "Man bräuchte ein internationales Bündnis"
    Lechler: Wie sieht denn der Widerstand der Vernunft dann aus?
    Neiman: Also erst mal gilt es, die Fehler, die wir im eigenen Lager - ich sage wir links liegenden, fortschrittlich denkenden Menschen - wir haben auch Fehler gemacht, indem wir diesen Ideologien gegenüber zu unkritisch waren. Bis das korrigiert wird, wird es schwer sein, Widerstand zu formulieren. Deshalb habe ich das Buch "Widerstand der Vernunft" genannt. Übrigens: Ich sehe auch schon Ansätze bei jüngeren Leuten, denen der Postmodernismus, Posthumanismus gefallen würde, die reagieren jetzt auf einmal in ganz anderen Tönen. Das, finde ich, ist ein sehr schönes Zeichen.
    Zweitens ist der Widerstand auf eine Weise immer lokal. Also was in den USA funktioniert, funktioniert nicht genauso in England. Das heißt, mein Bild für Widerstand wäre erst mal sehr lokal. Aber leider - angesichts der Macht der USA - bräuchte man schon ein internationales Bündnis, nicht gegen die USA, gegen die jetzige Regierung der USA mit der selbstbewussten Behauptung: Wir vertreten jetzt die Werte der Demokratie, der Gerechtigkeit. Das sind auch Werte, die zum Teil universell sind.
    US-Präsident Donald Trump vor Journalisten
    "Man bräuchte schon ein internationales Bündnis gegen die jetzige Regierung der USA mit der selbstbewussten Behauptung: Wir vertreten jetzt die Werte der Demokratie, der Gerechtigkeit", sagte Neiman im DLF. (picture-alliance/dpa)
    Lechler: Aber nun wackeln diese Werte ja in Europa auch. In verschiedenen Ländern auf unterschiedliche Weise. Und die Mechanismen, die das und auch Trump möglich gemacht oder unterstützt haben im Netz, verhindern die nicht auch, dass sich der Widerstand bündelt? Also dass jeder in seiner eigenen Blase unterwegs ist mit seiner eigenen Wahrheit?
    "Die Zeit im Netz ist Sucht"
    Neiman: Es ist extrem wichtig, dass wir diese Sucht in Grenzen halten. Und jeder Wissenschaftler weiß das, inzwischen weiß es jeder Mensch aus eigener Erfahrung: Die Zeit im Netz ist Sucht. Ich will nicht nur auf das Netz schimpfen. Es hat uns viel gebracht. Ich will das mit Alkohol vergleichen. Ein bisschen Bier, ein bisschen Wein, auch gelegentlich ein Schnaps - die meisten Menschen können ganz gut damit umgehen. Wenn man zu viel davon hat, hören die Gehirne auf, richtig zu arbeiten. Und das haben Neurowissenschaftler wirklich bewiesen.
    Lecher: Sie haben früher schon dafür plädiert, Klassiker zu lesen und Fremdsprachen zu lernen und sich durch Reisen zu bilden. Das ist lustig, das sind ja eigentlich ganz konservative Werte, die da von Ihnen als einer Linken kommen.
    Neiman: Was soll ich sagen, mancher Konservative hat ja auch Recht. Klassiker sind Klassiker, weil sie immer neu gedeutet werden können, weil sie uns immer etwas bringen. Ich fand es wunderschön, dass Bob Dylan, als er endlich seine Nobelpreis-Rede gehalten hat, eine lange Deutung von der Odyssee gehalten hat. Und da haben wir ein Beispiel dafür, weil er sagte: Was haben meine Lieder mit Literatur zu tun? Was ja auch schwer diskutiert wurde nach der Preisvergabe. Und er hat von Büchern gesprochen, die ihn beeinflusst haben. Das waren alles Klassiker. Diese alte Bildungsidee gab es damals in Arbeiterkreisen. Albert Einstein hat zum Beispiel Vorträge gehalten für Arbeiterkreise in Berlin in den frühen 30er-Jahren. Da war ein Durst nach Wissen, da war die Erkenntnis, dass Wissen auch an sich etwas Schönes ist, was keiner Elite vorbehalten werden sollte, sondern jedem gehört. Wenn Sie wollen, ist das ein konservativer Ansatz, aber das sind alles Schritte zur Befreiung.
    "Zuversichtlich bin ich nicht"
    Lechler: Sind Sie zuversichtlich, dass sich die Vernunft am Ende durchsetzen wird? Auch in postfaktischen Zeiten?
    Neiman: Nein, zuversichtlich bin ich nicht. Es ist ein langer Weg. Es klingt natürlich auch langweilig. Aber man muss immer wieder Sachen wiederholen. Wir leben in sehr prekären Zeiten. Da sage ich gern mit Kant, der von Vernunft-Glaube gesprochen hatte: Wir wissen nicht, wie es ausgeht. Wir wissen es überhaupt nicht. Es könnte natürlich sein, dass alles vom Atomkrieg bis Breitbart, Le Pen und wie sie alle heißen, sie können die Oberhand gewinnen. Aber um überhaupt handeln zu können, darf man, wenn man den Ausgang nicht weiß, daran glauben, dass es möglich ist, dass die Vernunft siegt.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Susan Neiman: Widerstand der Vernunft - Ein Manifest in postfaktischen Zeiten. Ecowin Verlag 2017, 80 Seiten, 8 €.