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Philosophische Auseinandersetzung mit dem Alter

Die letzten Notizfragmente "Senilia" des Philosophen Arthur Schopenhauer stellen keine selbstironische Philosophie einer geruhsamen Lebensbilanz dar. Otto A. Böhmers Sekundärschrift zu diesem Werk scheitert am Versuch der positiven Interpretation.

Von Florian Felix Weyh |
    Manch einer, der sich zu eigenen Werken äußert, klingt dabei wie ein Verkäufer auf dem Hamburger Fischmarkt:

    "Meine Philosophie ist, innerhalb der Schranken der menschlichen Erkenntniß überhaupt, die wirkliche Lösung des Räthsels der Welt. In diesem Sinne kann sie eine Offenbarung heißen. Inspiriert ist solche vom Geiste der Wahrheit: sogar sind im vierten Buche einige Paragraphen, die man als vom heiligen Geiste eingegeben ansehn könnte."

    Aber wie verträgt sich diese Position mit folgender Bewertung durch die Nachwelt:

    "Schopenhauers Altersweisheit ist negativ grundiert, aber sie hat auch Positives zu bieten: Die Wertschätzung der schönen Künste gehört dazu, die Empfehlung persönlicher Zurücknahme und das stille Betrachten dessen, was ist. Heiterkeit und Gelassenheit stellen sich dabei wie von selbst ein, vor allem dann, wenn man das Glück hat, sich in Lebensumständen einrichten zu können, wie sie dem Entdecker der Altersweisheit vergönnt waren."

    Stilles Betrachten dessen, was ist? Persönliche Zurücknahme? Heiterkeit und Gelassenheit? Arthur Schopenhauer als Entdecker der Altersweisheit gar? - Ein tiefes Seufzen entringt sich der Brust des Rezensenten. Es ist schon ein Schelmenstreich, wenn ein Verlag zwei Bücher zugleich auf den Markt bringt, die dem knorrigen Philosophen ein neues Branding aufzudrücken versuchen, wie man in den Marketingabteilungen von Verlagen sagt. Weil unsere überalternde Gesellschaft nach Trostworten für ihren kollektiven Lebensabend sucht, beschloss man forsch, bei Schopenhauer zu suchen, um bei Schopenhauer nicht fündig zu werden. Denn dass der mürrische Misanthrop seine letzten Notizfragmente mit "Senilia" überschrieb, reicht einfach nicht, um daraus nachträglich eine selbstironische Philosophie der geruhsamen Lebensbilanz zu konstruieren. Otto A. Böhmers Sekundärschrift "Schopenhauer oder Die Erfindung der Altersweisheit", um damit zu beginnen, kann also gar nicht anders als an ihren Ansprüchen scheitern. Aus Arthur Schopenhauers rundum negativer Weltsicht auch nur ein Gran Altersweisheit - im Sinne von Demut und Gelassenheit - zu gewinnen, kommt dem Unterfangen gleich, aus jenem Handtuch, mit dem sich einer nach dem Apfelsinenschälen die Hände gewaschen hat, ein Glas frischen Orangensaft zu pressen - ein Etikettenschwindel gröberer Natur.

    In Wahrheit ist dieses Bändchen nur ein weiteres aus der Endlos-Serie "Zeitgenössische Publizisten reihen Schopenhauerzitate aneinander", und wer seinen Schopi kennt, kennt auch 90 Prozent der Zitate, die Böhmer mit uninspirierten Zwischentexten zusammenkleistert. Demütige Selbsterkenntnis des Philosophen flackert nur einmal kurz auf, um dann - auch biografisch - folgenlos zu bleiben: "Ich wirke nicht günstig auf mich", sagt Schopenhauer, und wir Leser nicken beifällig. Aber vielleicht liefert die nun vollständige Edition der Senilia-Notizen neue, relativierende Erkenntnisse über den charakterlich zweifelhaften Eremiten? Sagen wir mal so: Wer an Schopenhauer das nach heutigen Maßstäben politisch Unkorrekte, das hemmungslos Reaktionäre, das menschlich Uneinsichtige und rabenschwarz Zynische liebt, der kommt auf seine Kosten. Die Musik ist bekannt, die Melodie wird aber hin und wieder ein bisschen variiert:

    "Das Wort Weiber ist ganz unschuldig und bezeichnet ohne alle Nebenbedeutung, bloß das Geschlecht. Wenn ihm also eine unangenehme Bedeutung anklebte; so könnte dies nur am Bezeichneten liegen; nicht am Zeichen. Daher wird eine Aenderung dieses die Sache nicht beßern."

    Schopenhauer als misogynster Mann des 19. Jahrhunderts - keine Überraschung. Gleichauf folgt Schopenhauer, der Zyniker vom Dienst:

    "Im Alter von fünf Jahren eintreten in die Garnspinnerei, oder sonstige Fabrik und von denn an erst zehn, dann zwölf bis 14 Stunden täglich darin sitzen und die selbe mechanische Arbeit verrichten, heißt das Vergnügen Athem zu holen theuer erkaufen."

    Nicht neu, aber in seiner unbeirrten Konsequenz beeindruckend, ist das Prinzip, Angriffe auf andere in moralische Großtaten umzulügen:

    "Wer Andere bekrittelt arbeitet an seiner Selbstbeßerung. Also Die, welche die Neigung und Gewohnheit haben, das äußerliche Benehmen, überhaupt das Thun und Laßen der Andern im Stillen, bei sich selbst, einer aufmerksamen und scharfen Kritik zu unterwerfen, arbeiten dadurch an ihrer eigenen Beßerung und Vervollkommnung: denn sie werden entweder Gerechtigkeit, oder doch Stolz und Eitelkeit genug besitzen, selbst zu vermeiden, was sie so oft strenge tadeln."

    Im Kern liefert "Senilia" aber nichts weiter als den bekannten Schopenhauer in ungeschönter, damit verschärfter Form; viele der Notizen gerieten aufgearbeitet ins Spätwerk hinein und sind keine Entdeckung. Man erkennt - im krassen Gegensatz zur Denkfigur der Altersweisheit - heftigen Altersstarrsinn, ein Unvermögen, sich auf neue Verhältnisse einzustellen, Rechthaberei und nachtragende Gehässigkeit bis ans Lebensende, bisweilen auch antisemitisch grundiert. Permanent geht es ums Dauerthema der Missachtung durch den akademischen Betrieb, und gegen Ende seines Lebens wütete Schopenhauer vor allem gegen die Sprachverhunzer allerorten - vollkommen verkennend, dass Sprache organischen Veränderungen unterliegt. Diese Passagen kann man fast nur noch satirisch rezipieren, wie ein Sprach-Papst der "Wortbeschneidungswuth" seiner Zeit in die Parade fährt:

    "Beanspruchen ein so allgemein beliebtes, wie plumpes und unverantwortlich dummes Wort; - Vorerst, sinnlos und von widerlichem Anklang, statt Für's Erste: - und Einmal statt Erstlich, also semel statt primum: demgemäß Beide in allgemeinem Gebrauch. Wenn Dies so fortgeht und diese Sprachverhunzer, statt Schimpf und Schande, Beifall und Nachahme einernten; so wird, nach einer Reihe Jahrn, die Deutsche Sprache zu einem gemeinen armen und schwer verständlichen Jargon herabgesunken seyn. Das plumpabgeschmackte "beanspruchen" ist in allgemeine Aufnahme gekommen, bloß weil es eine Silbe weniger hat, als in Anspruch nehmen."

    Am Stück durchzulesen sind die sich vielfach thematisch doppelnden, oft auch langweiligen Notate kaum. "Senilia" bleibt ein Buch für Spezialisten - oder ein Regalstück, das man hin und wieder herauszieht, um mit dem Zeigefinger hineinzustechen und ein paar Tröpfchen zufälliger Altersgalle zu kosten. Die nämlich ist der wirkliche Ausfluss der Senilität, im Leben wie in der Literatur: Bitterkeit - allenfalls von etwas Häme versüßt.

    "Es kann kommen, dass wir, sogar nach langer Zeit, den Tod unserer Feinde und Widersacher fast so sehr betrauern, als den unserer Freunde, - wann wir nämlich sie als Zeugen unserer glänzenden Erfolge vermißen."

    Arthur Schopenhauer: "Senilia: Gedanken im Alter". C.H. Beck, 374 Seiten, 29,95 Euro
    Otto A. Böhmer: "Schopenhauer oder Die Erfindung der Altersweisheit". C.H. Beck, 160 Seiten, 10,95 Euro