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Phrasen und Gefasel

Ab Montag (29.09.11) ist das Buch von Philipp Lahm im Handel erhältlich. Der Kapitän der DFB-Auswahl hat in seiner Biografie mit seinen früheren Trainern abgerechnet und dabei "Grenzen des Anstands überschritten", glaubt der Deutsche Fußball-Bund. Lahm hat sich, mit verkaufsmäßig probatem Erschrecken, schon mal rundum entschuldigt.

Von Jürgen Roth |
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    Zum Ersten: Laut diversen Presseagenturen ist gestern in China ein Sack Braunkohle umgefallen.

    Zum Zweiten: Erst pöbelt Oliver Kahn, vornehmlich an die Adresse von Philipp Lahm und Bastian Schweinsteiger gerichtet, in seinem tausendprozentig unsinnigen wie überflüssigen Blog herum, der heutigen Generation mangele es an "echten Führungsspielern", die was tun müssten? Die, logisch, "den Finger in die Wunde legen" und "auch mal unbequeme Wahrheiten aussprechen" müssten. Dann keilt Lahm retour, die Meinung "irgendeines ehemaligen Spielers" interessiere ihn nicht, und nun steht das Land Kopf und faselt sich ins Delirium, weil die leider immer noch nicht verbotene "Bild-Zeitung" der durch jeden Quatsch in Raserei zu versetzenden Öffentlichkeit ein paar Auszüge aus der Autobiografie eines 27-jährigen Nationalspielers vor die Füße geschmissen hat, einer Öffentlichkeit, die das Buch, dessentwegen die Narrentänze aufgeführt werden, nicht kennt, weil es erst am Montag erscheint.
    Wir haben die 266 Seiten von Philipp Lahms Ghostwriteropus "Der feine Unterschied – Wie man heute Spitzenfußballer" wird akkurat studiert und versichern mehrerlei:

    Ad 1) Lahms Auffassung vom modernen Fußball verhält sich zu Herrn Kahns antiquiertem Verständnis in der Tat konträr. "Es zeichnet sich ab", schreibt Lahm, "dass ein neues Denken, ein Bekenntnis zur kollektiven Verantwortung, zu flacheren Hierarchien nötig sein wird, um im modernen Fußball erfolgreich zu sein." Richtig. Nur, das zeichnet sich nicht ab, das lesen wir circa seit den Bauernkriegen praktisch täglich in unseren Gazetten.

    Ad 2) Der angeblich nette, einfühlsame Bub', dieser Herr Lahm, lässt keinen Zweifel daran, dass Profifußball ein ewiger sozialer Kampf, ein obszönes Gehetze und eine gnadenlose Durchstecherei ist. "Softies haben im Fußball keinen Erfolg", merkt er mal an, und neben diesem hier ersparen wir uns weitere Belege: "Das Kapital eines Fußballprofis besteht darin, dass er jederzeit verfügbar ist." Armes Schwein, doch so funktioniert heute eben Kapitalismus.

    Ad 3) Wer sich nach der Lektüre dasjenige Bild von Philipp Lahm macht, das er selber von sich zeichnet, kommt nicht umhin, in ihm einen geborenen Ehrgeizling zu sehen. Andernfalls wird man wohl auch nicht Kapitän der Nationalmannschaft, aber wir kennen angenehmere Charaktere.

    Ad 4) Ein paar brauchbare sogenannte Stellen sind zu finden. So entmythologisiert Philipp Lahm zum Beispiel das Geraune über Jens Lehmanns berühmten Zettel während des Elfmeterschießens im WM-Viertelfinale 2006 gegen Argentinien, und zweimal gelingt dem federführenden Co-Autor Christian Seiler ein Satz, den man sich notiert: "Als das Spiel in Durban angepfiffen wird, fällt die Nervosität wie ein Netz vom schwarzen Himmel." Nicht übel. Ebenfalls nicht: "In der Luft liegt ein eigentümliches Kichern, als würde sich der Ball mit uns amüsieren."

    Ad 5) Der Tonfall des ganzen Balges schwankt zwischen pubertärem Geplapper und sterilem Beratungsbüchersprech, die permanenten Redundanzen sind nervtötend (ein längeres Interview hätte genügt), und die Banalitäten haben wir irgendwann nicht mehr gezählt: "Erfolg fühlt sich richtig gut an, und Leidenschaft ist der Schlüssel zu diesem Erfolg." Oha! "Darin besteht die wichtigste Qualität des Fußballprofis: so gut zu spielen, wie er spielen kann, und zwar bei jeder Gelegenheit." Potz Blitz! "Erfolg kommt vom Gewinnen." Ehrlich?

    Ad 6) Abteilung Phrase. Philipp Lahms Analysen bedeutender Spiele erreichen das Niveau der Bild, und er kommt fürwahr an keiner einzigen Plattitüde vorbei: "Bundesliga und Champions League, das sind zwei Paar Schuhe." – "Die Mannschaft, fit wie ein Turnschuh." – "So nah liegen im Fußball Glück und Pech beisammen." – "Superkombination Marke außerirdisch." – "Großartige Spieler, großartige Atmosphäre, großartige Ereignisse." Herrgott, nu' reicht's!

    Ad 7) Philipp Lahm wollte eine Art Karriereleitfaden vorlegen. Daraus geworden ist die matte, ja öde, im historischen Präsens erzählte Geschichte eines vom Glück der Sorglosigkeit und des Talents verwöhnten Kerls, dessen Biografie außer ein paar Verletzungen keine Brüche hat. Zu den Akten damit.

    Wären da nicht die "Bild-Zeitung", unser geschätztes öffentliches Publikum und eine Handvoll Protagonisten des hiesigen Fußballs. Über Jürgen Klinsmann urteilt Lahm, er habe als Bayern-Coach "fast nur Fitness" trainieren lassen. "Taktische Belange kamen zu kurz. Wir Spieler mussten uns selbstständig zusammentun, um vor dem Spiel zu besprechen, wie wir überhaupt spielen wollten. Nach sechs oder acht Wochen wussten bereits alle Spieler, dass es mit Klinsmann nicht gehen würde." Das ist die schlichte Wahrheit. Jeder Stammtischbruder weiß, dass Jürgen Klinsmann weniger Ahnung vom Fußball hat als Angela Merkel.

    Dass Felix Magath unablässig einen "Kasernenhofton" am Leibe trägt und Spieler behandelt, als hätten sie gerade in die Hosen gemacht, ist gleichfalls bekannt. Und dass unter dem Nationaltrainer Rudi Völler kaum und keineswegs systematisch gearbeitet wurde, muss uns niemand offenbaren. Lahm betont jedoch darüber hinaus, dass in keinem anderen Nationalteam damals anders an die Aufgaben herangegangen worden sei.

    Und jetzt und stante pede: das Geschrei, vorneweg Rudi Völler, Leverkusen-Süd. "Erbärmlich und schäbig" seien Lahms Ausführungen, die er freilich nur in der Bild-Version zur Kenntnis genommen hat, Lahm habe "keinen Funken Anstand" in sich, das alles sei eine "Frechheit ohnegleichen". Der aktuelle Bayer-Coach Robin Dutt jault auf: "Dass man einer Persönlichkeit wie Rudi Völler solche verbale Schmerzen zufügt, kann keiner nachvollziehen", Hoffenheims Trainer Holger Stanislawski stammelt: "Unfassbar!", Bremens Sportchef Klaus Allofs moniert die Einhaltung "gewisser Regeln", und Stuttgarts Manager Fredi Bobic assistiert: "Ich würde ihm nie mehr etwas erzählen. Es wird ihm schaden, Gratulation dazu! Ich verstehe das nicht und kann die Aussagen von Rudi Völler nur bestätigen."

    Wir hingegen bestätigen: Philipp Lahm, der mit seinem belanglosen Büchlein offenbar die Selbstvermarktung meint forcieren zu können, hat nichts ausgeplaudert, was nicht seit Langem bekannt wäre: Die Stimmung im Team während der EM 2008 war miserabel, Louis van Gaal ist mehr oder minder ein Autist. So what?

    Der DFB bittet den Mannschaftsführer zum Rapport, und wir fragen uns derweil: Was ist denn gerade in China los?