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"Physiker sind die letzten Idealisten"

Der Astrophysiker und Schriftsteller Ulrich Woelk glaubt, dass für den Großteil der Bevölkerung die Hintergründe des CERN-Experiments nicht mehr fassbar seien. Es liege in der Natur der Physiker, das Undenkbare denken zu wollen. Die Gefahr dabei sei, dass ein rationales Weltbild ins Hintertreffen komme, weil bei solchen Großexperimenten immer auch Weltuntergangsvoraussagen Konjunktur hätten.

Ulrich Woelk im Gespräch mit Rainer Berthold Schossig |
    Rainer Berthold Schossig: Im Kontrollzentrum des Europäischen Kernforschungszentrums in Genf wurde heute 100 Meter unter dem Schweizer Jura-Gebirge ein winziger Protonenstrahl in einem Vakuumtunnel auf eine 27 Kilometer lange Kreisbahn geschickt. Und damit hat eines der größten wissenschaftlichen Experimente in der Geschichte der Menschheit begonnen, heißt es. In dieser Mutter aller Ringe sollen die Bedingungen kurz nach der Entstehung des Weltalls simuliert werden. Allein dieser Gedanke ist für uns ja schon sehr schwer denkbar, und es geht gleichzeitig um Raum und Zeit, um Ortlosigkeit und riesige, nicht messbare Zeiträume. Vor der Sendung habe ich gesprochen mit Ulrich Woelk, dem Astrophysiker und Schriftsteller. Erzeugt werden sollen allerkleinste Elementarteilchen, deren Existenz sich bislang nur theoretisch berechnen ließ, auch dies ja mit bloßem Auge nicht zu sehen, nicht zu fühlen und zu schmecken und zu riechen. Wie ist das eigentlich, was dort passiert, so habe ich Ulrich Woelk, praktisch sinnlich vorstellbar?

    Ulrich Woelk: Ja, es sind mathematische Modelle. Ich sage ja immer, Physiker sind die letzten Idealisten in dieser Welt. Das heißt, sie machen ein mathematisches Modell und sie glauben an die Wahrheit dieses Modells. Sie sagen, das, was da in unseren Gleichungen entsteht, das ist die Wirklichkeit. Und in diesen Gleichungen gibt es eben ein Teilchen, das nennt man Higgs-Teilchen. Wir brauchen auch gar nicht zu verstehen, wie das mathematisch konstruiert ist. Es reicht einfach zu wissen, dass die Mathematik dieses Teilchen gewissermaßen ausspuckt. Und da eben Physiker Idealisten sind, glauben sie, dass dieses Ideal ihres Modells eben tatsächlich auch in der Wirklichkeit vorhanden ist und glauben eben dann doch, dass sie, wenn sie jetzt das nur richtig machen, dieses Teilchen auch finden werden.

    Schossig: Sie haben Physiker gerade als Idealisten bezeichnet. Sie haben in Ihren Büchern seit Ihrem Debüt "Freigang" bis zu "Einstein on the Lake" eigentlich immer wieder von der Erweiterung der menschlichen Erkenntnis, Möglichkeiten bzw. natürlich auch gleichzeitig von den Grenzen wissenschaftlichen Tuns gehandelt. Ja, inwieweit wäre denn die Spezies Mensch psychisch so stabil eingerichtet, das Undenkbare zu denken?

    Woelk: Na ja, ich glaube, man muss das Ganze ja in einer langen Tradition sehen. Gerade das Bild des Kreises, der auf der Erde errichtet wird, um die Menschheit in ihrer Naturerkenntnis voranzubringen, ist ja wirklich ein sehr archaisches. Wenn man zum Beispiel an Stonehenge denkt, da haben die Menschen eben auch mit großen Steinen einen Kreis auf der Erde errichtet, um Sonnen- und Mondfinsternisse vorauszusagen. Und im Prinzip ist dieser Wunsch, eine Art Maschine zu bauen, eine Anrichtung herzustellen, mit der ich etwas voraussagen kann, sei es die Mondfinsternis oder eben ein Elementarteilchen, was ich mir gar nicht vorstellen kann, der ist ja im Prinzip eine ganz uralte, menschliche Konstante. Und ich glaube, Ihre Frage ist in gewissem Sinne falsch gestellt. Ob wir in der Lage sind, das Undenkbare zu denken, weiß nicht. Aber wir werden, glaube ich, nicht ruhen, es irgendwie zu versuchen, es irgendwie zu erreichen.

    Schossig: Kosmische Teilchenkollisionen, unglaubliche Ausmaße dieses Ortes dort in Genf, exorbitant hohe, tiefe Temperaturen, riesige Datenmengen, alles außerhalb unserer alltäglichen Reichweite. Solche Superlative eines wissenschaftlichen Experiments erregen ja die Fantasie und verändern die eigentlich auch, ich sage mal nicht von heute auf morgen, aber werden die unser Weltbild verändern? Droht, Sie haben es ja gesagt, zurück nach Stonehenge eine Rückkehr des metaphysischen Denkens damit für die Massen, die das nicht verstehen?

    Woelk: Ja, das ist eine gute Frage. Ich überlege da auch viel, weil ich denke, dass die Dinge, die da gefunden werden, natürlich irgendwann in ihrer Komplexität gar nicht mehr vermittelbar sind. Das heißt, der alte Spruch auch von Herrn Dürrenmatt, dass die Physiker soweit vorangeeilt sind und nun folgen ihm die Massen nicht mehr nach, ist sicherlich heute richtiger denn je. Und man kann nur feststellen, dass wir uns nur noch dann für die Physik interessieren, wenn sie mit solchen Superlativen aufwarten kann, wie das jetzt im Moment der Fall ist. Ansonsten hat sich ja auch die Gesellschaft eher dann, wenn man jetzt noch mal auf Dürrenmatt zurückkommt und die 50er-Jahre denkt, von der Physik auch wieder abgewandt, weil die unmittelbare Gefahr, die davon auszugehen schien, ja nun gebannt ist. Es kann aber passieren, dass sich, weil die Erkenntnisse der Physiker zu kompliziert werden, dann die Massen davon abwenden und sagen, warum sollen wir uns eigentlich damit überhaupt noch befassen und wenn wir jetzt sagen, die Physiker sind doch so etwas wie die Gralshüter des rationalen Weltbilds, dann sehe ich schon auch die Gefahr, ich würde es eindeutig für eine Gefahr halten, dass metaphysische, irrationale Weltbilder auch wieder fröhliche Urstände feiern.

    Schossig: Zum Beispiel solche, dass Menschen jetzt befürchten, dass wachsende schwarze Löcher erzeugt werden, da in Genf, im Jura und schließlich die ganze Erde?

    Woelk: Ja, ich meine, es ist richtig. Man sieht in dem Moment, wo die Physik so einen Paukenschlag ankündigt, sind auch gleich die Weltuntergangsauguren da. Es hat ja immer Weltuntergangsvoraussagen gegeben und prompt sind sie jetzt auch in diesem Moment wieder da. Man muss immerhin dazu sagen, das ist ja auch überall nachzulesen, die Physiker haben ja durchaus diese Dinge sehr ernst genommen. Die Sicherheitsanalysen sind gemacht worden. Das war gar nicht so, als wäre man damit völlig lax umgegangen. Und man hat dann eben letztlich nur eine ganz einfache Argumentation gemacht. In der Erdatmosphäre entstehen durch Teilchenbeschuss aus dem Weltall ständig auch Energien, die viel höher sind als die, die in CERN hergestellt werden. Und da die Erde das seit fünf Milliarden Jahren überlebt hat, geht man davon aus, dass sie auch CERN überleben wird.

    Schossig: Immerhin, die Neuverschiebung der Grenzen zwischen der Physik und der Metaphysik. Das war der Astrophysiker und Schriftsteller Ulrich Woelk über menschliche Konstanten und beschleunigte Elementarteilchen.