Samstag, 20. April 2024

Archiv

Matthäus-Passion von Bach
Ein universelles, zeitloses "Seelenpflaster"

Dirigent Raphaël Pichon stand zunächst ehrfürchtig vor den Dimensionen der Matthäus-Passion. Mit seinem Ensemble Pygmalion und großartigen Solisten und Solistinnen hat er dieses Werk aber durchdrungen und bringt uns die tiefen Gefühle darin nah.

Von Christoph Vratz | 06.04.2022
Ein Bild in schwarzweiß, das einen großen Altarraum zeigt. Von oben strahlen vier Scheinwerfer effektvoll auf ein Orchester, das dort spielt. Im Vordergrund sieht man einen hageren Mann, der die Arme hebt. Es ist der Dirigent Raphaël Pichon.
Raphaël Pichon hat Ensemble und Chor Pygmalion 2006 gegründet. Sie spielen historisch informiert und versuchen, die Bedeutung der Werke von Bach, Mozart oder Berlioz heute begreifbar und erfahrbar zu machen. (Fred Montagne)
Ein „kollektives Erlebnis von Menschlichkeit“ nennt Raphaël Pichon die „Matthäus-Passion“ von Johann Sebastian Bach. Sie schildert, so der französische Dirigent, „ein Drama, ein universelles moralisches Dilemma von großer Beständigkeit, in dem sich jeder – unabhängig von Spiritualität und Kultur – mit seiner eigenen Sterblichkeit und seiner eigenen Suche nach Antworten konfrontiert sieht. Den Charakter dieses Dramas, von dem Pichon spricht, fangen vor allem die Chöre ein: mit all ihrer Nervosität und Aufgeregtheit, mit rhythmischer Prägnanz und einer genauen Verteilung der Stimmen. 

Technischer Unterschied zur Matthäus-Passion von René Jacobs

Genau zehn Jahre nach einer maßstabsetzenden Aufnahme der „Matthäus-Passion“ mit René Jacobs veröffentlicht das Label harmonia mundi jetzt diese Neueinspielung mit Raphaël Pichon. Gemeinsamer Nenner beider Produktionen ist die Dialogizität von je zwei Chören und Orchestern, wie Bach es vorgibt.
Markanter Unterschied: Die frühere Einspielung mit Jacobs wurde als SACD, also im Mehrkanalton-Format produziert. Das heißt: Wer zuhause eine Surround-Anlage besitzt, kann sich die räumliche Dimension dieser Aufnahme direkt ins Wohnzimmer holen, analog zur realen Situation 1727 in der Thomas-Kirche von Leipzig mit Verteilung der Stimmen auf den verschiedenen Emporen. Die neue Einspielung liegt nur im klassischen Stereo-Modus vor. Dennoch ist es das Bestreben der Interpreten, die dreidimensionale Bedeutung einzufangen: durch gestalterische Unmittelbarkeit, durch Eindringlichkeit und innere Bilder, die bei den Hörerinnen und Hörern ausgelöst werden sollen. Das gelingt, soweit es die gegebenen Bedingungen zulassen. Die Übergänge erfolgen sehr organisch und der jeweiligen Dramaturgie folgend, etwa wenn das Arien-Duett „So ist mein Jesus nun gefangen“ unmittelbar übergeht in den Chor „Sind Blitze, sind Donner in Wolken verschwunden?“

Großer gemeinsamer Atem im gesamten Ensemble

Pichon lässt betont licht und transparent musizieren. Die Bläser agieren erfreulich kammermusikalisch, kraftvoll entwickeln sich die Bassfundamente, jedoch ohne pompösen Nachdruck. Über allem aber steht eine große, auch gruppenübergreifende Geschlossenheit zwischen den 21 Instrumentalisten und den Vokalsolisten, die an zwei Stellen von den Sopran-Stimmen der Maîtrise de Radio France unterstützt werden. Alle scheinen dieselben Sprache zu sprechen.

Zentral und herausragend: Julian Prégardien als Evangelist

Während Stéphane Degout einen eher milden Jesus anstimmt (besonders in der Wort- und Silbengestaltung), erweist sich Christian Immler als Pilatus ungleich kerniger. Hervorzuheben ist besonders Julian Prégardien als Evangelist: Seine Text-Prägnanz und die Fähigkeit, in den Rezitativen Wort und gesangliche Linie zusammenzuführen, machen diesen Evangelisten zum Zentrum dieser Einspielung.
Dramatischer Höhepunkt ist die Szene, wenn der Vorhang im Tempel zerreißt und die Erde erbebt. Prégardien gestaltet das eindringlich, aber ohne heldische Gebärden eines Erzählers, der sich selbst wichtiger nimmt als das Besungene. Auch die filigran leuchtenden Sopranstimmen von Sabine Devieilhe und Hana Blažíková sind Beispiele für eine ebenso berührende wie innige Gestaltung.

Facettenreich und wirkungsvoll

Raphaël Pichon ist eine rundum stimmige Aufnahme der „Matthäus-Passion“ gelungen. Man erkennt, wie eng das Ensemble Pygmalion und die Solisten im Laufe der Jahre zusammengewachsen sind. Die zentralen Facetten von Bachs Musik – Verrat, Unrecht, Vergebung, Reue, Liebe und Erbarmen – werden nicht nur in ihren Grundzügen eingefangen, sondern mit einem durchaus französisch geprägten Sinn für clarté und finesse. Der unmittelbaren Wirkung dieser Musik kann man sich nicht entziehen.
Bach: Matthäus-Passion
Julian Pregardien
Stéphane Degout
Sabine Devieilhe
Lucile Richardot
Christian Immler
u.v.m.
Pygmalion
Raphaël Pichon, Leitung
harmonia mundi